Tichys Einblick
Auszüge aus dem Kapitel

Wohin man schaut: Wohlfühl-Pädagogik

Moderne Pädagogik erzieht zur Oberflächlichkeit. Wenn etwas schwierig erscheint, dann denkt Pädagogik nicht darüber nach, wie man den Kindern das Schwierige erfolgversprechend beibringen könnte. Stattdessen schafft man schwierige Inhalte ab.

Gemeinsames Merkmal progressiver Pädagogik scheint ihre Abräumlaune zu sein. Beispiele gefällig? Gymnasium? Elitär, weg damit! Hauptschule? Restschule, weg damit! Förderschule? Diskriminierend, weg damit! Berufliche Bildung „qualified in Germany“? Gibt’s doch sonst auf der Welt nicht, weg damit! Literaturkanon? Bürgerlich, weg damit! Noten und Zeugnisse? Beleidigend, weg damit! Sitzenbleiben? Zeitverschwendung, weg damit! Hausaufgaben? Stressig, weg damit! Frontalunterricht? Mittelalterlich, weg damit! Auswendiglernen? Überflüssig in Zeiten von Google und Wikipedia, weg damit! Anstrengung? Spaßbremse, weg damit! Rechtschreibung? Herrschaftsinstrument, weg damit! …

Schluss mit Leistung und Elite?

Die um sich greifende Wohlfühl-, Gute-Laune-, Spaß- und Gefälligkeitspädagogik
schadet unseren Kindern. Je niedriger die Hürden in der Schule, desto schwerer fällt es den jungen Leuten, die Hürden im späteren Leben zu überwinden. Statt den Kindern wieder mehr zuzutrauen und auch mehr zuzumuten, greift in Deutschland indes seit einigen Jahrzehnten eine Erleichterungspädagogik um sich. Bergründet wird dies mit der Behauptung, dass Deutschlands Schüler doch sehr unter schulischer Belastung leiden würden. Das stimmt aber nicht, wenn man sich allein die Tatsache anschaut, dass viele Heranwachsende mehr Zeit vor irgendeinem Bildschirm als beim Lernen verbringen. Und es stimmt auch im internationalen Vergleich nicht: Unter den 11-bis-Jährigen fühlen sich in Deutschland 24 Prozent gestresst, in den USA 40 und in Finnland (!) 44 Prozent.

Progressive Pädagogen und Bildungspolitiker tun trotzdem so, als müsste Bildung und Lernen in Deutschland mit noch weniger Anstrengung gehen. Dass diese pseudopädagogische Erleichterungsattitüde falsch ist, wussten Generationen von Eltern und Lehrern seit der Antike. Einer der großen Schriftsteller der Weltliteratur und gewiss einer der größten Analytiker menschlicher Psyche, Fjodor Michailowitsch Dostojewskij, schrieb dazu: „Es ist bedauerlich, dass man den Kindern heute alles erleichtern will …. Die ganze Pädagogik kennt jetzt nur noch die Sorge um die Erleichterung. Erleichterung ist aber keineswegs eine Förderung der Entwicklung, sondern im Gegenteil ein Verleiten zu Oberflächlichkeit.“

Moderne Pädagogik tut genau dies: Sie erzieht zur Oberflächlichkeit. Wenn etwas schwierig erscheint, dann denkt Pädagogik nicht darüber nach, wie man den Kindern das Schwierige erfolgversprechend beibringen könnte. Stattdessen schafft man schwierige Inhalte ab. Selbst ein Sigmund Freud, der bekanntermaßen vieles auf das Luststreben des Menschen zurückführte, war überzeugt: Leistung und Erfolg, ja das Erleben von Glück, setzen Bedürfnis- und Triebaufschub voraus. Trotzdem wurden Leistung und Anstrengung vor allem von einer 68er geprägten Pädagogik schier zu Missgunst-Vokabeln. Wer aber das Leistungsprinzip bereits in der Schule untergräbt, setzt eines der revolutionärsten demokratischen Prinzipien außer Kraft. In unfreien Gesellschaften sind Geldbeutel, Geburtsadel, Gesinnung, Geschlecht Kriterien zur Positionierung eines Menschen in der Gesellschaft. Freie Gesellschaften haben an deren Stelle das Kriterium Leistung vor Erfolg und Aufstieg gesetzt. Das ist die große Chance zur Emanzipation für jeden einzelnen. Ganz zu schweigen davon, dass der Sozialstaat nur dann funktioniert, wenn er von der Leistung von Millionen von Menschen getragen wird. Jeder soll seines Glückes Schmied sein können. Mit Ellenbogengesellschaft hat das nichts zu tun. Vielmehr ist auch der Sozialstaat zugunsten Benachteiligter, Kranker und Alter nur realisierbar mit der millionenfachen Leistung und Anstrengung der Leistungsfähigen. Auch Sozialstaatlichkeit ist nur mit dem Leistungsprinzip machbar. Deshalb kann das Sozialprinzip auch nicht über das Leistungsprinzip gestellt werden. Auch im internationalen, im globalen Wettbewerb geht es nicht ohne Leistung. Wir sollten ansonsten auch froh sein, wenn wir leistungshungrige Spitzenschüler für zukünftige Eliten haben …

Schluss mit „Frontalunterricht“?

Seit bald schon einem halben Jahrhundert kursiert die Kampfvokabel vom „Frontalunterricht“, den es endlich abzuschaffen gelte. Es mag ja Lehrer gegeben haben oder vereinzelt auch noch geben, die in die Klasse kamen und die pro forma ein Buch aufschlagen ließen, um die Schüler dann mit Monologen zuzuschütten. Aber diese Art von Unterricht ist vorbei. Längst öffnete sich der Unterricht, er wurde anschaulicher, er wurde nach und nach diskursiv, Schüler wurden zu aktiven Mitgestaltern, die Lehrer nahmen sich zurück. Von Frontalunterricht im Sinne der polemischen Nutzung dieses Begriffs kann schon lange nicht mehr die Rede sein.

Dann kam die Wende, und das Kind wurde mit dem Bade ausgeschüttet. „Neue Formen“ des Lernens wurden angesagt. Der Lehrer sollte zum Edutainer und Animateur werden. Er sollte nur noch dafür da sein, die Lern-„Stationen“ oder das Arbeitsmaterial vorzugeben: als „Moderatoren“, als Lern- und Projekt-„Manager“, als „Lernprozessorganisator“. Die Schüler sollten die Stationen und das Material auswählen, und sie sollten entscheiden, in welcher Sozialform (Einzel-, Partner-, Gruppenarbeit) sie arbeiten wollten. Vor allem sollten sie qua Projektmethode ihre Sesam-Öffne-dich-Erfolge haben.

Eine Evaluation haben diese Formen des Unterrichts nie über sich ergehen lassen müssen. Im Gegenteil: Alles was empirisch über effizienten und effektiven Unterricht eruiert wurde, wird verdrängt, um schnell wieder in die Aversion gegen „Frontalunterricht“ einzumünden. Dabei widerlegten mehrere namhafte Studien schon in den 1990er Jahren die reformpädagogischen Erwartungen an einen hauptsächlich schülerzentrierten Unterricht. „Demnach ist ein besonders leistungsförderlicher Unterricht dadurch charakterisiert, dass der Lehrer hohe Anforderungen stellt, die Schüler auch individuell intensiv berät und unterstützt, einen klaren und verständlichen Unterricht abhält und wenig Zeit in nicht-fachliche Aktivitäten investiert, Geduld bei Langsamkeit von Schülern hat und die Klasse effizient führt, so dass nur wenige Störungen und Unterbrechungen resultieren. …

Übrigens: Gerade leistungsschwächere und jüngere Kinder profitieren von einem klar strukturierten Unterricht. Gerhard Roth, einer der führenden deutschen Hirnforscher bestätigt dies 2011 eindrucksvoll. Laut Roth ist eine „demokratische“ Schule des „selbstbestimmten“ Lernens nur für eine „sehr kleine Gruppe hochbegabter Schüler sinnvoll, aber nicht für die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler.“ Über den in gewissen Kreisen polemisch diskreditierten „Frontalunterricht“ schreibt Roth: „Der Frontalunterricht eines kompetenten, einfühlsamen und begeisternden Lehrers ist allemal wirksamer als eine wenig strukturierte Gruppenarbeit und ein nicht überwachtes Einzellernen.“ Das ist richtig, und jeder Schulerfahrene weiß: Kinder ziehen begeistert mit und lassen jede Animation beiseite liegen, wenn ein Lehrer von einer Sache spannend und mitreißend zu erzählen weiß …

Weg mit Noten und Zeugnissen?

Regelmäßiger als Weihnachten kommen aus progressiven Kreisen Aufschreie gegen Zeugnisse und Noten. Schier ein Werk des Teufels seien diese Instrumente. Da heißt es dann: „Schicksalsziffern“ seien die Noten, und überhaupt stelle sich das Schulsystem mit seiner Notenpraxis ein „Armutszeugnis“ aus. Schließlich hätten Noten ja nur einen einzigen Effekt, den der Demütigung und Sortierung von Schülern. Leibhaftige Pädagogik-Professoren und Schul-MinisterInnen, etwa aus NRW oder Niedersachsen, kommen tendenziell zu ähnlichen Ergebnissen: Noten seien eine ständige Bedrohung des kindlichen Selbstwertgefühls.

Aus dem Glaubenskrieg um Schulnoten wurde jedenfalls ein Politikum. Die mit der Abschaffung von Noten verbundene Hoffnung aber, damit zugleich schlechte Schulleistungen abschaffen zu können, wäre schließlich kaum etwas anderes als das Bemühen, das Fieber aus der Welt zu bannen, indem man alle Fieberthermometer verbietet. Schule kann aber nicht auf Elfenbeinturm-Attitüde machen oder zur leistungsfeindlichen Spielwiese werden. Schule ist Sozialisationsvehikel, das mit gängigen Werten und Normen vertraut zu machen und diese – mit der gebotenen Sensibilität und altersspezifisch angemessen – einzuüben hat. Erziehung zur Leistung impliziert Leistungsbewertung. Wer an diesem Prinzip festhalten will, der darf nicht via Schule – also via Geringschätzung einer klaren, individuellen Leistungsanalyse – an einem maßgeblichen Eckpfeiler dieser Gesellschaft sägen, es sei denn, er will via notenfreie Schule eine vereinheitlichende Schule und damit ein Stück entindividualisierte Gesellschaft. Ansonsten gibt es sehr wohl pädagogische Gründe für klare schulische Leistungsbewertung. Notenzeugnisse, so unvollkommen sie sein mögen, geben eindeutig Rückmeldung über Gelerntes; sie signalisieren zusätzlichen Förderbedarf; sie erleichtern eine individuell optimale Wahl der Schullaufbahn, und sie sind Anreiz zu unverminderter oder vermehrter Anstrengung …

Schluss mit Sitzenbleiben?

Für viele Generationen waren Wiederholer (vulgo: Durchfaller) wie selbstverständlich Teil schulischer Realität. Dann, in den 1970er Jahren, wurden sie zum Streitthema. Mit der Gesamtschule wurde damals eine Schulform erfunden, in der es kein Sitzenbleiben mehr geben sollte. Die öffentliche Debatte darum blieb erhitzt. Das Versagen von Schülern sei ein Versagen des ganzen Schulsystems, so heißt es noch heute, denn letzteres produziere geradezu „Absteiger“, „dropouts“. Besonders Beflissene instrumentalisieren schon auch einmal Gewaltvorfälle bis hin zum Massaker vom 26. April 2002 in Erfurt für ihre Forderung nach Abschaffung des Sitzenbleibens. Zumindest aber wird gerne behauptet, das Wiederholen einer Klasse bringe nichts.

Angesichts von so viel Herzblut ist etwas mehr Realitätssinn vonnöten. Die Fakten in Sachen Sitzenbleiben geben keine schulpolitische Generaldebatte her. Das gilt bereits für die Zahlen: Alarmisten sprechen von 200.000 Schülern pro Jahr, die „durchfallen“. Das bringt Schlagzeilen. Diese Zahl schrumpft aber in der Relation zur Schülerzahl auf einen lächerlichen Anteil zusammen. Dann sind es von elf Millionen Schülern gerade noch 1,8 Prozent, die sitzenbleiben.

Aber helfen solche Zahlenspiele weiter? Nein, denn ginge es nur um Zahlen, dann könnten sich die Deutschen etwa im Vergleich mit ihrem westlichen Nachbarn, mit den Franzosen, ruhig zurücklehnen. In Frankreich nämlich drehen etwa zwei Drittel aller Schüler irgendwann eine „Ehrenrunde“. Untauglich ist die Durchfallerstatistik auch für die Berechnung von angeblichen Einspareffekten, die man hätte, wenn es keine Sitzenbleiber gäbe. Es mag ja sein, dass der Durchschnittsschüler pro Jahr etwa 4.500 Euro kostet, man laut Milchmädchenrechnung also pro Wiederholerjahr eben diesen Betrag einsparen könnte. Aber das stimmt schon bei vielen gymnasialen Sitzenbleibern deshalb nicht, weil sie über kurz oder lang in einem nach Jahren erheblich kürzeren – und damit kostengünstigeren – Bildungsgang landen ….

Ansonsten ist ein Sitzenbleiben kein Stigma, man kann es damit – wie Beispiele beweisen – in höchste Ränge der Politik, Wirtschaft und sogar Wissenschaft bringen. Und auch unterhalb dieser Promi-Schwelle mag das Wiederholen einer Klasse durchaus etwas bringen. Immerhin hat das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in einer Untersuchung von 2.500 ehemaligen Schülern der Geburtsjahrgänge 1961 bis 1973 festgestellt, dass die meisten Schüler von einer Ehrenrunde profitieren. Und wie denkt auch hier die breite Bevölkerung darüber?

Laut einer YouGov-Umfrage vom Juli 2016 halten 81 Prozent der 1.024 Befragten das Sitzenbleiben für „eher“ oder „sehr sinnvoll“ – und zwar unabhängig davon, ob sie selbst Erfahrung mit einem Sitzenbleiben gemacht haben oder nicht. Unter den Befragten mit Sitzenbleib-Erfahrung antworten 84 Prozent ebenso.
Josef Kraus – „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt – Und was Eltern jetzt wissen müssen.“ München, Verlag Herbig. März 2017, 270 Seiten, Euro 22.–