Tichys Einblick
Leserbeitrag

Überlebensstrategien und Verhaltenstipps bei Stromausfall



Einem TE-Leser ist aufgefallen, dass bislang kaum Hinweise zum Verhalten unmittelbar nach einem Stromausfall veröffentlicht wurden – Behörden und Medien beschränken sich auf Fragen der Bevorratung. Nachfolgend deshalb ein Leitfaden. Von Edgar Timm

IMAGO / Michael Gstettenbauer

Der Sommer geht, der Energienotstand kommt. Was gestern noch Verschwörungstheorie war, ist heute Konsens. Laut Energieminister Habeck kann eine „stundenweise krisenhafte Situation im Stromsystem“ im bevorstehenden Winter „aktuell nicht vollständig ausgeschlossen werden“. Leider wird ein Ereignis wie etwa ein nächtlicher Stromausfall nicht so romantisch verklärt ablaufen, wie es die kleine Emily in seinem Buch „Kleine Helden, große Abenteuer“ erlebt – auszugsweise vorgelesen auf Youtube.

In der Bundestagsdrucksache 17/5672 vom 27. April 2011 werden die unmittelbar nach einem Blackout wahrscheinlichen Entwicklungen beschrieben. Unverständlicherweise konzentrieren sich Behörden und Medien aber nur darauf, was nach Tagen oder Wochen wichtig wird und damit hauptsächlich auf Fragen der Bevorratung. So sagte der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK): „Nach 24 Stunden ohne Strom hätten wir katastrophale Verhältnisse … Jeder muss sich auch auf Krisen und Katastrophen einstellen und vorbereiten – das gehört zur Eigenverantwortung … Das fängt ganz banal zu Hause mit Kerzen und Streichhölzern an …“ Seitdem hören und lesen wir diese Ratschläge in Endlosschleife.

Ist es Unvermögen oder Vorsatz, wenn diese Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums mit über 300 Mitarbeitern und einem Haushaltsvolumen von über 250 Millionen Euro – die nach eigenen Angaben das zentrale Organisationselement für die zivile Sicherheit ist und die Aufgaben des Bundes auf den Gebieten des Bevölkerungsschutzes und der Katastrophenhilfe wahrnimmt – keinen Leitfaden für das Verhalten unmittelbar nach einem Stromausfall erstellt? Oder will man die Bevölkerung nicht verunsichern? Offenbar glauben die Ratgeber, dass alle Menschen zum Zeitpunkt eines Blackouts zu Hause sind, im Dunkeln ohne Probleme den Schuhkarton mit Streichhölzern und Kerzen finden und dann ein gemütliches Candle Light Dinner genießen können.

Die Autoren der Broschüren des BBK und die daraus abschreibenden Textknechte können sich nicht vorstellen, dass sich Millionen Bürger vom Krippenkind bis zur Gehwagen-Oma, Berufstätige und zur Weihnachtszeit auch viele ortsunkundige Touristen nicht in den ihnen bekannten vier Wänden aufhalten. Gerade dann ist die mental-psychische geistige Vorwegnahme jedoch mindestens ebenso wichtig wie die materiell-physische Vorbereitung auf einen Stromausfall. Dabei kann die Klärung folgender Fragen hilfreich sein.

1. Warum soll ich für das Überleben im Blackout trainieren?
Alle Menschen, die plötzlich mit einer Notsituation konfrontiert werden können – zum Beispiel Ärzte, Piloten, Feuerwehrmänner, Rettungsassistenten, Seeleute – trainieren regelmäßig für mögliche Notfälle, damit im Ernstfall kein Chaos ausbricht. Warum sollten wir nicht von den Profis lernen? Anstatt bei einem Blackout in Panik zu geraten, müssen wir uns schon jetzt auf einen kommenden Stromausfall vorbereiten. 

Zwar kann ein gesunder Mensch drei Wochen ohne feste Nahrung und drei Tage ohne Flüssigkeit überleben. Die Gefahr einer Verletzung besteht jedoch schon in den ersten Sekunden nach einem Stromausfall. Weil das Rettungswesen (sofern eine Alarmierung möglich ist) mit den vielen Opfern überfordert sein dürfte, kann eine sonst harmlose Verstauchung zur Bewegungsunfähigkeit und im Freien zum Tod durch Erfrieren führen. Bei offenen Wunden kann eine unbehandelte Sepsis nach wenigen Tagen eine Amputation erforderlich machen.

2. Wann ist ein Blackout am wahrscheinlichsten?
Ein Stromausfall tritt (nicht nur) dann auf, wenn die Nachfrage größer als die Stromproduktion ist und dieses Defizit nicht (zum Beispiel durch Importe) ausgeglichen werden kann. Das dürfte an einem kalten, windstillen Werktag in den dunklen Monaten November, Dezember oder Januar zwischen 15 und 20 Uhr der Fall sein. In diesem Zeitfenster wird ein Blackout voraussichtlich den größten individuellen und gesamtwirtschaftlichen Schaden anrichten. Auch Terroristen dürften dieses Zeitfenster präferieren.

3. Blackout oder Brownout?
Zwar werden die Übertragungsnetzbetreiber bemüht sein, durch regionale Lastabwürfe (Brownout) einen großflächigen Blackout zu verhindern, aber einem Menschen, der in Hamburg im Fahrsuhl festhängt, wird es ziemlich egal sein, ob in München zum gleichen Zeitpunkt noch die Schaufenster beleuchtet sind. Die unmittelbaren Gefahren für Leib und Leben sind bei einem europaweiten Blackout oder einem regionalen Lastabwurf identisch. Vielmehr kommt es darauf an, wie man sich auf eine überraschende Finsternis vorbereitet.

4. Wie kann ich mich vorbereiten?
Ich muss mir rechtzeitig Gedanken machen, wie ich die mit einem Stromausfall verbundenen Risiken minimieren und welche Maßnahmen ich zur Schadensbegrenzung ergreifen kann. Ich werde stets eine kleine, aber helle Taschenlampe sowie ein Smartphone bei mir tragen, auf dem eine Offline-Navigation installiert ist, die sogar die Hausnummern anzeigt (zum Beispiel die kostenlose Maps.Me).

Außerdem vermeide ich nach Möglichkeit die Benutzung von Fahrstühlen. Nach Aussage von Fachleuten wird es mehrere Tage dauern, bis alle Fahrkörbe evakuiert sind. Ich möchte hier nicht beschreiben, welche physischen und psychischen Dramen sich schon nach wenigen Stunden abspielen werden, wenn mehrere Personen ohne die Hoffnung auf baldige Befreiung, ohne Licht und frische Luft, Essen und Trinken in einem engen Lift ausharren müssen – ohne die Gelegenheit, sich auszustrecken oder gar zurückziehen zu können. Viele Menschen werden diese Tortur nicht überleben. Auch auf einer plötzlich stoppenden Rolltreppe kann man sich böse Verletzungen zuziehen.

Dunkelheit plus Kälte plus Flaute („DunkelFrostFlaute“) bedeutet hoher Strombedarf bei gleichzeitig wenig Windkraft. Die aktuelle Prognose für die Windstromerzeugung liefert www.windjournal.de unter „Einspeiseleistung in MW für Wind- und Solarenergie heute“. Wenn der Wind weniger als 10.000 MW beisteuern kann, läuten bei mir die Alarmglocken – immerhin braucht Deutschland in der Spitze 60 bis 80 GW. Wir wissen inzwischen, dass wir uns auf die Hilfe unserer Nachbarländer nicht verlassen können. Frankreich, Skandinavien und die Schweiz brauchen ihren Strom selbst, da sie traditionell viele E-Heizungen haben – dazu kommen neuerdings Wärmepumpen und E-Autos. Dazu muss man wissen, dass zurzeit jedes zweite AKW in Frankreich pausiert und Norwegen seine Stromexporte nach Europa drosseln will, wenn die Wasserstände in den Stauseen weiterhin niedrig bleiben.

5. Was tun im Freien?
Für das Verhalten im Freien gibt es keine allgemeingültigen Regeln – mehrere Faktoren werden unsere Überlebenschancen beeinflussen:

  • Während die Scheinwerfer der Autos in einer vielbefahrenen Straße ausreichend Licht für die Orientierung bieten, kann es in einer Wohnstraße oder Fußgängerzone stockfinster sein, wenn kein Vollmond die Szenerie ausleuchtet;
  • außerdem hat die herrschende Wetterlage signifikante Bedeutung;
  • mit einem zuverlässigen Bahn-, Bus- oder Taxiverkehr ist nicht mehr zu rechnen.

Dazu sollte ich mir folgende Fragen stellen:

  • Ist die Umgebung bekannt oder unbekannt, eher ländlich oder städtisch geprägt?
  • Wie weit ist es noch zu meinem Ziel, gibt es alternative, besser erreichbare Ziele?
  • Kann ich eventuell zu meinem Ausgangsort zurückkehren und dort übernachten?
  • Bin ich allein oder mit einer Gruppe unterwegs?
  • Helfen mir eine handliche Taschenlampe und eine Navi-App bei der Orientierung?
  • Und schließlich: Wie ist meine persönliche Konstitution und meine Bekleidung beschaffen?

Alle diese Fragen muss jeder für sich klären – spätestens im Moment des Chaos. Die Antworten werden abhängig vom Zeitpunkt unterschiedlich ausfallen. Anstatt bei einem Stromausfall in Hektik zu verfallen, ist es sinnvoll, einen Moment innezuhalten und zu überlegen, was jetzt zu tun ist. Das fällt uns leichter, wenn wir für Routinerouten (zum Beispiel den Weg vom Arbeitsplatz nach Hause) schon vorab Maßnahmen geplant haben. Wer unvorbereitet zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs ist, kann vielleicht ein nahes, geeignetes Gebäude aufsuchen. Selbst ein nur 5°C warmes, unbeleuchtetes Treppenhaus ist einer sternenklaren Nacht im Freien vorzuziehen. Wer genügend Bargeld bei sich hat, kann eventuell ein warmes Bett mieten. Natürlich ist diese Aussicht wenig verlockend und wohl jeder wird trotzdem nach Hause streben. Doch wie groß ist die Chance, dort heil anzukommen?

6. Wie verhalte ich mich in Fahrzeugen?
Wer sich bei einem Stromausfall im eigenen Auto, in Bahn oder Bus befindet, ist vor Wind, Nässe und Kälte geschützt und sollte das Fahrzeug nur dann verlassen, wenn er es zügig gegen einen geheizten Unterschlupf tauschen kann. Nützlich sind neben einer handlichen Taschenlampe gefütterte Handschuhe, warme Stiefel, eine Kopfbedeckung und im eigenen Auto zusätzlich Wolldecken und Kissen sowie eine Flasche Wasser. Selbstverständlich sollte der Tank stets mindestens zur Hälfte gefüllt sein – auch auf Überlandfahrten.

7. Was tun in fremden Gebäuden?
Auch wenn es unangenehm ist – der Aufenthalt in fremden, aber warmen Räumen kann das Leben retten. Egal, ob am Arbeitsplatz, bei Freunden, im Restaurant oder Supermarkt. Am besten bleibt man dort, bis am nächsten Morgen die Sonne wieder aufgeht. Die maximale Dauer der Finsternis beträgt 16 Stunden. 

Seit das Thema „Blackout“ in aller Munde ist, kann man vorab klären, ob man notfalls am jeweiligen Aufenthaltsort übernachten kann. Sollte eine vorherige Klärung nicht möglich sein (zum Beispiel im Kino), ist es sinnvoll, sich mit anderen Anwesenden abzustimmen und einfach sitzen zu bleiben. Bei dem herrschenden Chaos werden weder Polizei noch Security kommen, um Schutzsuchende zu vertreiben. Im Zweifel hilft ein Hinweis auf § 323c StGB (Unterlassene Hilfeleistung).

8. Was kann ich zu Hause vorbereiten?
Wenn die Lichter ausgehen, lauern auch im eigenen Haushalt Gefahren. In allen unseren Räumen befindet sich daher an gut zugänglicher Stelle eine Taschenlampe. Außerdem ist auf unserer Diele stets ein großes Windlicht mit einer „Saisonkerze“ in Betrieb und wenn wir Besuch haben, brennt in allen genutzten Räumen ein Teelicht im Glas. Weitere „Leuchttürme“ sind unsere DECT-Telefone, die so programmiert sind, dass sie in der Ladeschale ständig die Zeit anzeigen. Bei einem Stromausfall leuchten sie noch gut eine Minute und nach dreimaligem Drücken der Favoriten-Taste hat man für mindestens eine Stunde ein „Nachtlicht“.

9. Was ist die beste Strategie zum Überleben?
Wenn man die verschiedenen Orte, an denen man sich bei einem Stromausfall aufhalten kann, in einer Pyramide anordnet – mit dem Aufenthalt im Freien als Basis und dem trauten Heim als Pyramidion, werden die meisten Menschen genau dorthin streben. – Alle gleichzeitig, im Dunkeln, in verschiedene Richtungen, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Verkehrsmitteln. Das kann nur in einer Katastrophe enden – zumal wir, um an die Spitze der Pyramide zu gelangen, in den meisten Situationen wie bei einer Springprozession erst einmal um mindestens eine Stufe zurückgehen müssen.

Ist das sinnvoll? – Ein Beispiel:

 Wenn in meinem Sportstudio gegen 18 Uhr der Strom ausfallen sollte, wird zwar eine spärliche Notbeleuchtung den Weg zu den Umkleidekabinen weisen – die sind aber elektrisch verriegelt und lassen sich mit dem Chip nicht mehr öffnen. Ebenso wie die Spinde. Kein Zugriff auf warme Kleidung, Auto- und Haustürschlüssel. Was tun? 

Um ins heimische Bett zu kommen, müsste ich in Sweatshirt und kurzen Hosen zu Fuß ein paar Kilometer nach Hause laufen – in der Hoffnung, den beim Nachbarn hinterlegten Schlüssel zu bekommen. Auf die Pyramide bezogen heißt das „Zurück an die Basis“. Oder sollte ich die Nacht doch lieber im Studio auf einer Yogamatte verbringen? Getränke, Snacks, sanitäre Einrichtungen sind dort vorhanden und warm ist es auch. Sollte es sich „nur“ um einen Lastabwurf handeln, gibt es vielleicht schon nach wenigen Stunden wieder Strom. Aber auch dann schadet es nicht, wenn ich die Schlüssel bei mir trage.

10. Was tun bei Verabredungen?
Nur in Habecks Erzählungen kann Emily ihren Bruder ohne Schwierigkeiten von der Sporthalle nach Hause begleiten. In der Realität wird das Abholen der Kinder von der Kita oder einer Freundin vom Bahnhof bei einem Stromausfall nicht wie geplant funktionieren. Auch wird die Vereinbarung alternativer Treffpunkte nach dem Zusammenbruch der Mobilfunknetze unmöglich sein. Selbst wer glaubt, mit CB-Sprechfunkgeräten eine Kommunikation aufbauen zu können, wird den vereinbarten Treffpunkt eventuell nicht zum geplanten Zeitpunkt erreichen. Daher ist sinnvoll, gemeinsam frühzeitig individuelle Lösungen zu entwickeln.

„Ich bereite mich auf das Schlimmste vor, ich hoffe das Beste und ich nehm es, wie’s kommt“, sagte einst Hannah Arendt. Das ist eine gute Einstellung.

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