Tichys Einblick
Marcela Vélez-Plickert berichtet

Venezuela – Sozialismus am Abgrund

In Venezuela ist eine Woche mit Protesten, Tränengas, Schüssen und Toten zu Ende gegangen: der Sozialismus im Todeskampf. Doch Machthaber Maduro will weitermachen – bis zum bitteren Ende. Die deutsche Partei Die Linke findet ihn immer noch toll.

View of a mass march against Venezuelan President Nicolas Maduro, in Caracas on April 19, 2017

© Carlos Becerra/AFP/Getty Images

Wie man ein eigentlich reiches Land durch Sozialismus erfolgreich ruiniert, kann man in Venezuela sehen. Das Land hat die größten nachgewiesenen Ölreserven der Welt. Noch im Jahr 2000 war es das Land mit den zweithöchsten Pro-Kopf-Einkommen in Lateinamerika. 2000 waren die Sozialisten gerade frisch an der Macht. Heute, siebzehn Jahre später, ist Venezuela total verarmt. Die Pro-Kopf-Einkommen liegen auf einem der letzten Plätze in der Region. Aus Geldmangel lässt die Regierung die Notenpresse rotieren. Die Folge ist eine galoppierende Inflation. 1.600 Prozent werde die Inflationsrate Ende des Jahres erreichen, schätzt der IWF. Nach Ansicht einiger Ökonomen vor Ort ist die Inflation schon jetzt so hoch. Die Einkommen sind fast nichts mehr wert.

Das staatlich festgelegte „Basiseinkommen“ beträgt 40.600 Bolívares. Auf dem Papier ist das recht viel, doch zu den staatlich kontrollierten Preisen kann man kaum etwas kaufen. Die Regale in den Geschäften sind leer. Wer Güter des täglichen Bedarfs sucht, muss auf den Schwarzmarkt gehen. Dort zahlt man dann für eine Zahnpastatube 3.500 Bolívares, fast ein Zehntel des Monatslohns.

Als der Ölpreis hoch war, 100 Dollar und mehr je Fass, da schwamm die Regierung des damaligen „Comandante en jefe“ Hugo Chávez im Geld und konnte teure Sozialprogramme finanzieren. Viele Linke auf der ganzen Welt bekamen leuchtende Augen, wenn sie von den Wundern des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Venezuela erzählten. Jetzt ist der Ölpreis nur noch halb so hoch – und das Land ist pleite. In den guten Jahren wurde nichts zurückgelegt, die Investitionen wurden vernachlässigt, so dass die Ölproduktion sogar sank. Private Investoren meiden das Land, weil die Regierung tausende von Unternehmen verstaatlicht hat. Praktisch alle Reserven sind jetzt aufgebraucht. Mangels Devisen kann nichts mehr importiert werden. Es herrscht blanke Not.

80 Prozent aller Güter sind knapp, auch Essen und Medizin. In den Krankenhäusern sterben Menschen, vor allem Kinder, aus Mangel an den nötigen Arzneien. Inzwischen hat die Versorgungskrise solche Ausmaße erreicht, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung von 31 Millionen Menschen hungert. Nach Angaben der Opposition suchen etwa drei Millionen Menschen täglich im Müll nach Nahrungsmitteln. In Schulen kippen die Kinder vor Hunger ohnmächtig um, berichten Lehrer.

Neben der Wirtschaftskrise beunruhigt die Bürger die Gewaltkriminalität. 2016 ist die Zahl der Morde um 21 Prozent auf 21.752 gestiegen. Auf 100.000 Einwohner kommen 71 Morde. (Das sind etwa hundert mal so viel wie in Deutschland.) Die Gewaltepidemie liegt auch daran, dass die Chávistas an regierungsnahe Banden, sogenannte „Bolivarishe Milizen“, welche „die Revolution verteidigen“ sollen, hunderttausende Feuerwaffen verteilt haben.

Die Regierung von Präsident Nicolás Maduro hat nur eine Erklärung für die Versorgungskrise: Ominöse böse Saboteure und Kapitalisten, die USA und die Opposition führten einen „Wirtschaftskrieg“, um die sozialistische Regierung in die Knie zu zwingen. Inzwischen glauben immer weniger Bürger diese Erklärung. Die Opposition hat die letzten nationalen Wahlen mit riesigem Vorsprung gewonnen. Und sie hat seitdem mehrfach Massenproteste gegen die Regierung organisiert. Das Regime schlägt aber zunehmend brutal zurück. Es ließ beliebte Oppositionspolitiker verhaften, jüngst wurde Oppositionsführer Henrique Capriles mit einem Ämterverbot für fünfzehn Jahre belegt. Die Arbeit der freien Presse wird seit längeren brutal eingeschränkt. Ausländische Medien wie CNN sind verboten.

Anfang April versuchte die Regierung mithilfe des ihr hörigen Obersten Gerichtshofs das Parlament faktisch völlig zu entmachten, in dem die Opposition seit den letzten Wahlen eine große Mehrheit hat. Nur auf internationalen Druck hin wurde das umstrittene Urteil der Richter revidiert. Der versuchte Putsch der Regierung gegen die demokratische Volksversammlung hat die Opposition zu neuen Protesten angetrieben.

In dieser Woche gingen am Mittwoch Hunderttausende, vielleicht sogar (nach Angaben der Opposition) Millionen Bürger auf die Straße. Sie forderten: Maduro muss weg. Die ausgesetzten Regionalwahlen sollen endlich stattfinden. Die mehr als hundert politischen Gefangenen, darunter der beliebte Oppositionelle Leopoldo López, sollen endlich freikommen.

Die Regierung reagiert mit Gewalt. Bei der Großdemonstration an diesem Mittwoch kamen ein 17-jähriger Schüler und eine Studentin ums Leben. Bei Unruhen und Protesten verloren seit Anfang April 21 Menschen ihr Leben – neun bei Demonstrationen, mehrere durch Kopfschüsse. In der Nacht auf Freitag lieferten sich Demonstranten und Polizisten im Viertel La Valle im Südosten von Caracas Strassenschlachten, es gab massive Plünderungen, insgesamt zwölf Tote – elf in La Valle und einen im Armenviertel Petare. Die Polizeitruppen setzen Tränengas, Wasserwerfer, Schlagstöcke ein. Und Maduro hat kurz vor der Massendemonstration angefangen, an die „bolivarischen Milizen“ – stramme sozialistische Gefolgsleute – eine halbe Million Gewehre auszugeben. Nicht wenige sehen darin die Vorbereitung für einen Bürgerkrieg. Einen Krieg der Regierung gegen ihr eigenes Volk.

Manchen „Linken“ ist inzwischen ein bisschen peinlich, wie sie früher von Venezuela schwärmten. Labour-Chef Jeremy Corbin war ein Chávez-Freund, der französische „Linkspopulist“ Mélenchon fand Venezuela auch ganz toll. Die deutsche Partei Die Linke steht noch immer in Treue fest zu Maduro. Auf Twitter kann man lesen, dass Die Linke-Accounts genau wie Maduro vor „rechter Gewalt“ warnen, obwohl die Gewalt ganz klar von den regimefreundlichen Schlägertrupps und Polizeikräften ausgeht.

Das wirtschaftlich-finanzielle Ende des Sozialismus-Experiments in Venezuela ist absehbar. Wie alle Sozialismen wird es in der Pleite enden. Aber vorher schlägt das Regime noch um sich. Es droht immer mehr, zu einer Diktatur zu werden. Die freie Welt sollte die Bürger des Landes unterstützen, indem sie genau hinschaut und Druck auf Maduro ausübt, die Demokratie nicht vollends zu töten.


Marcela Vélez-Plickert hat anderthalb Jahrzehnte als Redakteurin für verschiedene lateinamerikanische Zeitungen und einen TV-Sender gearbeitet. Seit fünf Jahren lebt sie in Frankfurt und schreibt als freie Korrespondentin.