Tichys Einblick
Keine Religionsfreiheit in der Türkei

Türkei: Christen immer öfter unerwünscht

Die Türkei galt einst als laizistischer Staat, der westlichen Standards bei der Religionsfreiheit nacheiferte. Doch die heutige Wirklichkeit sieht anders aus. Wer missioniert, muss damit rechnen, als Terrorist eingestuft zu werden. Christen werden gezielt abgeschoben. Von Ludwig Brühl

MAGO / AGB Photo

Am zweiten Tag am Flughafen ohne einen Bissen Essen bekamen Pam und David Wilson dann doch Hunger. Die gebürtigen US-Amerikaner arbeiteten über 35 Jahre lang als christliche Missionare in der Türkei. Doch als sie im Februar 2019 zurück in ihre Heimat nach Istanbul kamen, wurde ihnen die Einreise verwehrt. Weil sie Christen waren und ihren Glauben mit anderen teilten, wurde das Ehepaar als Terroristen eingestuft.

Schon bis dahin wurden die beiden immer wieder wegen ihres Glaubens überwacht, verhaftet und abgeschoben. Aber ein dauerhaftes Einreiseverbot – das bedeutete für Pam und David Wilson eine drastische Verletzung ihrer Religionsfreiheit und eine folgenreiche Diskriminierung.

Anfänge in der Türkei

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Ursprünglich hatte keiner der beiden geplant, ihr Leben in der Türkei zu verbringen. Manchmal überlegt sich Pam Wilson allerdings, ob ihr Weg in die Türkei nicht doch vorgezeichnet war. „Meine Urgroßmutter wurde 1915 [während des Völkermords an Christen im Osmanischen Reich] gekreuzigt. Eigentlich komme ich aus einer armenischen Familie“, erzählt sie. „Und meine Großeltern mütterlicherseits stammen aus der Türkei.“

Pam Wilson wuchs in den USA auf, fand in der Universität ihren christlichen Glauben und wollte dann unbedingt in die Mission gehen. 1985 kam sie in die Türkei. Ihr späterer Ehemann David war zu dem Zeitpunkt schon einige Jahre in dem Land. Als er 1980 kam, gab es laut World Vision, dem größten evangelikalen Hilfswerk, nur fünf Christen mit muslimischem Hintergrund in der Türkei. „Inzwischen sind es 10.000“, berichtet Pam mit leuchtenden Augen.

Ihre Mission begannen sie mit Inseraten für das Neue Testament in Zeitungen und Magazinen. Doch kaum jemand druckte anfangs ihre Werbung. „Wir haben dann mit Linksextremen und Kommunisten zusammengearbeitet“, erinnert sich Pam. „Die waren die einzigen, die mutig genug waren, unsere Anzeigen zu bringen.“

Dazu organisierten sie Bibelrunden, veranstalteten Katechesen und sprachen über das Leben von Jesus. Das brachte sie in Probleme. Doch nachdem David 1986 abgeschoben wird, kehrt er – im Gegensatz zu anderen vor ihm – wieder zurück und setzt seine Arbeit fort. Pam widerfährt kurz darauf das gleiche Schicksal. Es sollte nicht die einzige Gemeinsamkeit bleiben und tatsächlich heiraten die beiden 1988.

Die Beamten verweigern die Einreise

Ab jetzt sind sie wenigstens zu zweit, wenn sie abgeschoben werden. Und das passiert ihnen auch einige Male. Im Rückblick bemerkt Pam: „Ich würde sagen, wir waren nicht sehr beliebt bei den türkischen Behörden.“ Ein Schmunzeln kann sie sich ob dieser Untertreibung nicht ganz verkneifen.

Die Schikanen der türkischen Behörden hören nicht auf. Darum ziehen die Wilsons 1993 vor Gericht und klagen gegen das Innenministerium. Mit Erfolg: Ihre dauerhafte Abschiebungsanordnung wird zurückgenommen und sie bekommen wieder ihre Visa.

Das klappte 26 Jahre lang – bis zu dem verhängnisvollen Flug im Februar 2019. Das Ehepaar hatte in Chicago Freunde und Verwandte besucht. Zehneinhalb Stunden dauert der Flug nach Istanbul. Müde, aber mit Vorfreude auf die Aufgaben in ihrer türkischen Heimat kommen sie an und zeigen ihre Pässe vor.

Doch der Beamte an der Kontrolle verweigert ihnen die Einreise. Die Wilsons haben sowohl ein Einreiseverbot als auch eine Abschiebeanordnung gegen sich. Aus dem Ankunftsbereich rufen sie einen Anwalt an. Der erreicht, dass die Abschiebeanordnung fallen gelassen wird. Nur, das hilft nicht viel, wenn man nicht einmal ins Land gelassen wird.

Die Situation ist für die Wilsons nicht neu. Normalerweise können sie mit einer Mischung aus Charme, rechtlicher Hilfe und ihrer Sturheit solche Probleme lösen. Die beiden entscheiden sich, im Ankunftsterminal zu campen, bis die Türken sie einreisen lassen. Doch das Essen wird knapp: Man kann in diesem Teil des Flughafens nichts kaufen und nach drei Tagen knurren ihre Mägen ganz gewaltig.

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Diesmal ist es dem türkischen Staat ernst. Pam und David werden nicht eingelassen, weil ihnen ein Code zugewiesen wurde: G87. Der Code bedeutet „Gefahr für die Sicherheit“ und normalerweise bekommen ihn nur Terroristen. Pam und Dave merken, dass sich der Konflikt um die Einreise nur rechtlich lösen lässt, und treffen die Entscheidung, wieder zurückzufliegen.

Ihr gesamtes Hab und Gut ist noch in der Türkei; Pläne, soziales Umfeld und gewachsene Strukturen sind von einem Tag auf den anderen dahin. Die Wilsons ziehen wieder einmal vor Gericht. Doch seit ihrem juristischen Sieg in den 1990er Jahren hat sich viel verändert. Die Regierung hat das Rechtssystem in letzter Zeit stark umgebaut; die Hagia Sophia wurde in eine Moschee verwandelt und Christen erleben zunehmende Verfolgung.

Die Gerichtshöfe bis hin zum türkischen Verfassungsgericht weisen die Klage ab. Doch die Wilsons geben nicht auf und legen eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Lorcan Price, Rechtsanwalt bei der Menschenrechtsorganisation ADF International, vertritt das Paar in Straßburg.

Zurück in den USA erfahren die Wilsons, dass auch andere den „Terroristen“-Code zugewiesen bekommen haben. 77 weitere Freunde und Bekannte sind hingegen mit dem N82-Code gebrandmarkt. Der kolportiert eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit, darum muss man um Einreise extra anfragen und die wird standardmäßig abgelehnt.

Christen werden systematisch verbannt

Es scheint tatsächlich so, als ob die Einstufung von ausländischen Christen als Gefahr für die Sicherheit ein System hat. Die Geschichte von Mario Ziercher* (Name aus Sicherheitsgründen geändert) verdeutlicht das. Während die Wilsons am Flughafen gestrandet sind, ist Ziercher mit seiner Familie bei einer evangelikalen Konferenz. Später erfährt er, dass diese Konferenz verhängnisvoll war.

Im November 2019 muss der IT-Spezialist nach Großbritannien reisen. Bei der Ausreise teilt ihm ein Beamter mit, dass er einen bestimmten Code erhalten habe, der verhindert, dass er wieder einreisen könne. Daraufhin bleibt Ziercher in der Türkei und zieht dagegen vor Gericht.

Er weiß überhaupt nicht, warum er einen Code erhalten hat, geschweige denn, was „N82“ bedeuten soll. Ziercher hat gegen kein einziges Gesetz verstoßen, wie ein Auszug aus dem Strafregister zeigt. Er hält sich an alle Regeln, zahlt Steuern und liebt die Türkei. Doch er und seine Familie sind Christen; Ziercher glaubt, dass er deswegen verbannt werden soll.

Seine Klage wird abgewiesen und auch die späteren Instanzen urteilen gegen ihn. Die Urteile berufen sich auf einen Brief des Geheimdienstes, der seine „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ beweisen soll. Mario Ziercher würde dieses Dokument gerne einmal sehen, dann erst wüsste er, was ihm eigentlich vorgeworfen wird. Aber die Einsicht wird ihm verweigert.

Der Geheimdienst schaltet sich ein

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Er startet seine eigenen Nachforschungen. Viele seiner Freunde haben ebenfalls einen solchen Code erhalten. Sie alle waren bei der Konferenz dabei. Einer von ihnen weiß inzwischen, dass er tatsächlich wegen der Konferenz als eine Gefahr eingestuft wurde. Weil er Mitglied einer protestantischen Kirche sei, „wurde festgestellt, dass er gegen unsere nationale Sicherheit agiere“, so heißt es in einem Dokument des Geheimdienstes.

Aber das hilft alles nichts. Auch das Verfassungsgericht lehnt Zierchers Beschwerde ab. Die Argumentation des Gerichts ist skurril: Es gebe zu wenige Beweise, dass Religions- und Meinungsfreiheit von Ziercher eingeschränkt worden wären. Tatsache ist, dass die Gegenseite keinen einzigen Beweis einbrachte, dass Ziercher eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellt.

Letztendlich müssen auch Ziercher und seine Familie die Türkei verlassen und dürfen nicht wiederkehren. Er ist bei weitem nicht der einzige. Die türkischen Behörden versuchen systematisch Gründe zu finden, um Christen aus dem Land zu schaffen und ihnen dann die Einreise zu verweigern.

Der Fall David Byle

Auch der englischsprachige Pastor David Byle kann davon ein Liedchen singen. Auch er wurde wegen seines Glaubens verhaftet, und des Landes verwiesen. Als er wieder zu seiner Familie in die Türkei flog, durfte er nicht mehr einreisen. Die türkischen Behörden sind geschickt und hebeln mit perfiden Einwanderungsgesetzen die Freiheitsrechte von Christen gezielt aus.

Byle klagt und geht bis zum Europäischen Menschengerichtshof, wo er durch ADF International vertreten wird. Das Gericht in Straßburg lehnte vor kurzem allerdings die Bearbeitung seines Falls ab. Von ihrer Arbeit lässt sich die Byle-Familie aber nicht abbringen und zieht in die deutsche Hauptstadt. Nach dem Motto: Man kann die Türkei auch von Berlin aus missionieren.

Religionsfreiheit als Opfer

Laut OpenDoors sind in den letzten zwei Jahren mehr als 60 Christen aus der Türkei deportiert worden. Dabei sind die Opfer meist präzise ausgewählte Leitungspersönlichkeiten aus der christlichen Community in der Türkei.

Pam und Dave Wilson, sowie Mario Ziercher und David Byle mit ihren Familien vermissen die Türkei und ihre Einwohner. Es tut ihnen weh zu sehen, wie übermächtige Behörden einem verbieten, über den eigenen Glauben zu sprechen. Und trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – wachsen die türkischen Gemeinden und Kirchen.


Der Autor arbeitet bei der Menschenrechtsorganisation ADF International (ADFInternational.de), die sich weltweit auf juristischem Wege für Religions- und Meinungsfreiheit einsetzt. Sie vertritt unter anderem die finnische Abgeordnete Päivi Räsänen.

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