Tichys Einblick
Lauter Déjà-vus für gelernte Ostdeutsche

Sie sind wieder da

Huch, warum reagieren Ossis nicht so auf Antifa-Phrasen und Kulturschaffenden-Aufrufe, wie sie sollten? Vielleicht deshalb, weil sie den Westdeutschen bestimmte Erfahrungen voraushaben.

Screenprint: Youtube/ARD

Neben der Affäre um Hans-Georg Maaßen gab es in den vergangenen Tagen noch ein weiteres Großereignis, das in fast allen Zeitungen zu fast gleichlautenden Überschriften führte: Ein Aufruf von 290 Kulturschaffenden, die von Angela Merkel die Entlassung von Bundesinnenminister Horst Seehofer fordern.

Seehofer soll nach dem Willen der Kulturschaffer entlassen werden, weil er sich weigerte, den Chef des Verfassungsschutzes zu entlassen, der sich wiederum weigerte, in einem verwackelten 19-Sekunden-Clip aus Chemnitz eine Hetzjagd resp. „Hetzjagden“ (A. Merkel) zu erkennen. Aber es geht nicht nur um die akute Weigerung der beiden. Nach Ansicht der Kulturschaffenden steht Seehofer auch sonst, so kann man den Aufruf zusammenfassen, der guten Zukunft Deutschlands im Weg. Wichtig an dem Aufruf ist vor allem der Begriff Kulturschaffende. Zu den 290 gehören unter anderen Günter Wallraff, Antje Ravic Strubel und Hugo Egon Balder, also tutti frutti und viele Leute mit Wikipediaeintrag, die sich auch bei gutem Willen weder unter Künstler noch Prominente subsumieren lassen. Nebenbei, es fehlen ein paar Namen auf der Liste, Feuilletonverantwortliche sollten aufmerken. Jetzt wäre es höchste Zeit für die Schlagzeile: „Große Sorge um Julie Zeh“.

Kulturschaffende, wie gesagt, das passt schon. Es klingt vor allem für den wirklich problematischen Teil der Bevölkerung schön vertraut, nämlich für die ostdeutsch Sozialisierten bis etwa zum Jahrgang 1970. Der Begriff stammt zwar aus den zwanziger Jahren, eine Aufwertung erfuhr er ab 1933.

Einige Senioren erinnern sich vielleicht noch daran. Aber Ostdeutschen älterer Jahrgänge dürfte der Begriff erst Recht bekannt vorkommen, sogar vertraut, nämlich von der überwältigenden Zustimmung der DDR-Kulturschaffenden zur Biermann-Ausbürgerung 1976.

Im Westen gab es zwar die Tradition der Aufrufe der gutmeinenden Mahner von Albertz bis Zwerenz. Allerdings richteten sich diese Appelle meistens gegen die Regierung beziehungsweise irgendeine Regierungsentscheidung wie den Nato-Doppelbeschluss. Die Besonderheit des Aufrufs der 290 Kulturschaffenden gegen Seehofer liegt gerade darin, dass er genau das verlangt, was die Kanzlerin eigentlich gern tun würde, aber aus naheliegenden strategischen Gründen unterlassen muss. Die DDR-Führung hatte es mit dem Rauswurf Biermanns eben bedeutend leichter als Merkel mit dem Rauswurf des CSU-Chefs. Das ist ein nicht zu unterschätzender Unterschied, den sich alle hinter die Ohren schreiben sollten, die immer von DDR 2.0 reden.

Im Ernst, es gibt schon ein paar Unterschiede. Umso bemerkenswerter wirkt der Elan, mit dem „Meinungsschaffende“ (Archi W. Bechlenberg) derzeit alte Wortschätze aus zwei alternativlosen deutschen Staaten reaktivieren. Besonders für die Phrasen aus der DDR-Kiste gilt: Sie sind wieder da.

Die Kulturschaffenden trommeln also wieder für den Kurs der Staatsführung und fordern couragiert weitergehende Maßnahmen gegen jemanden, der einer besseren Zukunft im Wege steht. In diesem Zusammenhang kehrt auch der Schädling zurück. Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen nämlich ist nach Ansicht von ZDF-Redakteuren ein „Schädling“, der alles „untergräbt“ und deshalb bekämpft gehört.

Auch die zentrale Kundgebung kommt wieder zu Ehren, organisiert wie weiland das Pfingsttreffen der FDJ mit Gratismusik, zu der junge Menschen aus der ganzen Republik mit Gratisbussen angekarrt werden. Unter ausdrücklicher Würdigung durch das Staatsoberhaupt geht es dann zur antifaschistischen Sache. Allerdings, das in Chemnitz von KIZ geschmetterte Liedchen „ich ramme meine Messerklinge in deine Journalistenfresse“ als Beitrag zum „Zusammenhalt“ (F.-W. Steinmeier) zu verkaufen, so weit in Richtung Byzantismus wären Staatsführung und die Werktätigen von Funk & Druck in der DDR wahrscheinlich doch nicht marschiert.

Gutmeinenden Westdeutschen mag es ja schleierhaft vorkommen, warum ältere Ostdeutsche auf bestimmte Triggerworte seltsam reagieren. Den niedergeschlagenen Aufstand vom 17. Juni 1953 hatte die SED-Führung als „faschistischen Putsch“ klassifiziert, die Mauer als „antifaschistischen Schutzwall“. Und als die Mauer schon gefallen und die alte SED-Führung gekippt war, beschmierten am 28. Dezember Unbekannte den Sockel des sonst immer penibel bewachten sowjetischen Ehrenmals in Berlin-Treptow mit Losungen, worauf die SED-PDS unter ihrem damaligen Chef Gregor Gysi flugs eine Großkundgebung mit 250.000 Teilnehmern organisierte und forderte, die Stasi müsse jetzt sofort in eine antifaschistische Schutztruppe umgewandelt werden.

„Unser Land ist in Gefahr, und zwar von rechts“, so Gysi seinerzeit, am 3. Januar 1990: „Wir müssen diese Gefahr bannen, sonst brauchen wir über demokratischen Meinungsstreit und anderes gar nicht erst zu diskutieren. Wie wollen wir denn demokratisch wählen, wenn hier Neonazis alle Freiräume besetzen?“

Wie gesagt: die erfahrungsgesättigten Bundesbürger, also die älteren Ostdeutschen, wissen derzeit vor lauter Déjà-vus nicht mehr ein noch aus. Vor allem „Antifaschismus“ als Knüppelwort zur moralischen Erpressung und Gefolgschaftserzwingung ist ihnen bestens vertraut.

Es hört ja auch nicht auf mit dem Honecker- respektive Gysisprech. Selbst der gute alte „Kampfauftrag“ ist wieder da: im bewährten Tagesspiegel vom 24. September 2018.

Und selbstredend handelt es sich auch hier wieder um einen Kampfauftrag gegen Rechts.

Über Ostdeutsche heißt es derzeit in Qualitätsreden und Qualitätsmedien, sie seien eben noch nicht so weit. In Wirklichkeit sind sie schon längst weiter.


Der Beitrag von Alexander Wendt erschien zuerst bei PUBLICO.


Bild: Youtube/ARD – Der Schwarze Kanal – Wortschatz Barbarossa – MDR