Tichys Einblick
Offener Brief

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin

Erst durch Sie wird diese infantile und leichtgläubige Bevölkerung wachgerüttelt und gelangt zu staatsbürgerlicher Reife. Langsam.

Bitte erlauben Sie mir, Ihnen meinen tief empfundenen Dank auszusprechen. Sie haben Großartiges für dieses Land geleistet. Durch Sie ist Deutschland – endlich – erwachsen geworden.

Leider sind die wenigsten Bürger in der Lage, ihren epochalen Verdienst für die Bundesrepublik zu erkennen, geschweige denn hinreichend zu würdigen. Gerade jetzt, da die Kritik an Ihrer Politik, wenn man das so nennen kann, wächst, möchte ich Ihnen mit diesen Zeilen versichern, dass die historische Bedeutung Ihres Handelns erkannt wurde und sage: Vielen Dank, Frau Bundeskanzlerin.

Es mag sein, dass es im Hinblick auf Finanzkrise, Energiewende oder die Öffnung der Grenzen unterschiedliche Ansichten gibt, aber es kann keinen Zweifel geben, dass Ihre eigentliche Großtat jenseits aller Kritik steht. Erst durch Sie ist diese infantile und leichtgläubige Bevölkerung wachgerüttelt worden und zu staatsbürgerlicher Reife gelangt.

Blicken wir auf die Zeit vor Ihrer Kanzlerschaft zurück. Damals glaubten die Deutschen leichtsinnigerweise noch an Demokratie, Politik und – am schlimmsten – an Politiker. Der Politiker, vor allem der Bundestagsabgeordnete, war in den Augen der Deutschen eine Art edler Mensch, moralisch, pflichtbewusst, seinen Ideen und Idealen verpflichtet und leidlich unbestechlich dem Allgemeinwohl verpflichtet. Die Parteien kämpften um ihre Konzepte und Ideale und bei aller demokratisch notwendigen Kompromissbereitschaft gab es unüberbrückbare Differenzen. Politik war der Streit um die effizienteste Problemlösung und das beste Konzept für die Zukunft unseres Landes.

Soweit der naive Irrglaube der Deutschen, die sich eher Träumereien hingeben, als der Realität ins Auge zu blicken. Wollen wir nicht allzu streng mit ihnen sein. Eine ganze Medienindustrie, angefangen beim Presseclub der ARD über die diversen Talkshows bis zu den Politikseiten der Tagespresse lebte davon, die Deutschen in dem Mythos zu bestärken, Politiker würden Lösungen, Konzepte und Ideale über alles stellen. Dass es ihnen um die Sache geht. Den Bürgern hier war das recht. Die Illusion, dass Politiker vorrangig am Allgemeinwohl interessiert sind, ließ sie ruhig schlafen. Ein unreifes Völkchen voller Illusionen, das den Untergebenengeist nie wirklich abgelegt hatte.

Und dann kamen Sie, Frau Bundeskanzlerin. Mag es auch so sein, dass es Ihnen am Anfang primär um persönliche Macht und Karriere ging, so ist Ihr Verdienst für dieses Land nicht zu überschätzen. Im Osten sozialisiert, waren Sie gegen die bundesdeutschen Illusionen immun. Mit glasklarem, sozialistisch geschultem Blick auf den Klassenfeind sahen Sie, was die meisten Bürger in diesem Land nicht einmal ahnten. Dass die negative Auswahl, die sich durch die diversen Parteikarrieren in den Bundestag gearbeitet und intrigiert, sich mitnichten am Allgemeinwohl orientiert und auch nur ein eher rudimentäres Verhältnis zu Idealen oder sachorientierten Lösungen hat. Sie aber schätzten es richtig ein: Der Bundestag – einzelne Idealisten, aber auch ein Haufen von Karrieristen, die nichts mehr interessiert als ihre persönlichen Pfründe und Positionen. Sie haben dieses Wissen genial genutzt, um Ihre Macht zu festigen, so dass wir jetzt Ihrer vierten Kanzlerschaft entgegen sehen müssen. Politik ist eben auch ein Geschäft. Gier und das Achten auf den eigenen Vorteil ist kein Merkmal der Wirtschaft. Auch Politiker optimieren ihr Geschäftsmodell, ihr ganz persönliches Einzelinteresse.

Wir leben in hektischen Zeiten, Frau Bundeskanzlerin. So viel Informationen strömen auf die Menschen ein, es wird genickt oder der Kopf geschüttelt und schon geht es weiter zum nächsten Infohäppchen. Die Bürger hier machen sich nicht die Mühe, Informationen wirklich zu be-greifen.

Wie oft haben ich in den Medien den Satz gelesen: „Merkel hat die CDU in die Nähe der Grünen gerückt“. Hat überhaupt jemand begriffen, was das wirklich bedeutet und was das impliziert? Frau Bundeskanzlerin, Sie haben uns eine so plakative Lektion über die politische Verkommenheit in diesem Land erteilt, und … niemand hat hingesehen. Die CDU und die Grünen befanden sich einmal an entgegengesetzten Enden des politischen Spektrums. Der Grüne war gewissermaßen der natürliche Feind des Schwarzen. Ein Politiker, der ernsthaft zu konservativen, christlichen Überzeugungen steht, hätte doch nie grünes Gedankengut akzeptiert.

Aber Sie haben uns mit Ihrem Meisterstück demonstriert, dass Politiker ein feiges und nur auf sich selbst bedachtes Gewächs sind. Dass es nicht um sachdienliche Konzepte und Überzeugungen geht, sondern allein um Machtgewinn und Machterhalt. Sie haben die CDU und letztlich fast alle Politiker am Nasenring durch die politische Manege geführt, in jede beliebige Richtung, und haben dabei pötzliche Wenden und Halsen von 180 Grad vollführt. Alle sind ihnen gefolgt. Weil Sie ihnen ihren Machtund ihre Pfründe gesichert haben. Und weil kaum jemand ernsthafte Überzeugungen hat.

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben neben diesem wohl größten Meisterstück noch viele andere vollbracht und dem Bevölkerung die wichtigste Lektion der Nachkriegszeit erteilt. Sie haben uns gezeigt, wie naiv wir sind in unserem infantilen Glauben an das Verantwortungsbewusstsein und selbstlose Handeln der „Volksvertreter“.

Sicherlich kennen Sie das Bonmot, dass „Merkel die Rache Honeckers ist“. Lassen Sie sich nicht beirren. Mag sein, dass der Westen der DDR gezeigt hat, wie korrupt und verkommen ihre Politiker waren. Aber Sie haben uns eindrucksvoll demonstriert, wie korrupt, machtbesessen und verkommen viele unsere Entscheider sind. Sie haben uns gezeigt, wie desolat unser hoch geschätztes politisches System ist. Dass ein entschlossener und skrupelloser Kanzler, der illusionslos die Spielregeln begriffen hat, mit diesem Land alles machen kann.

Frau Bundeskanzlerin, durch Sie wird Deutschland wachgerüttelt. Auch wenn das wohl gar nicht Ihre Absicht ist. Aber Ergebnisse zählen ja bekanntlich, um es nicht wie Helmut Kohl zu formulieren. Dafür danke ich ihnen nochmals. Möglicherweise wird die Geschichtsschreibung Sie einmal die wichtigste Regierungschefin der Nachkriegszeit nennen. Verdient hätten Sie es.

Dirk Schmidt ist freier Journalist und Kommunikationsberater.