Tichys Einblick
Die neue Inquisition

Boris Palmer, das rote Tuch aller Grünen

Die amerikanische Unsitte, den Angeklagten für schuldig zu erklären, wenn sein Ankläger behauptet, er sei es, hat auf Deutschland übergegriffen und die Meinungs- und Redefreiheit schwer beschädigt. Anklage und Urteil in eins zu setzen, war das Merkmal des Inquisitionsprozesses. Von Konrad Adam

IMAGO/Eibner

In wenigen Tagen, am 10. Mai, wollen sich Vertreter von Bund, Ländern und Gemeinden zum soundsovielten Flüchtlingsgipfel treffen, und diesmal soll auch der Bundeskanzler dabei sein. Kurz zuvor, am letzten Freitag, hatte die Ethnologin Susanne Schröter in der Frankfurter Universität zu einer Fach-Konferenz geladen. Zusammen mit einigen Kollegen wollte sie dazu beitragen, die gründlich verfahrene Asyl- und Einwanderungspolitik aus ihrem Stillstand zu befreien. Die Veranstalter hatten an alles gedacht, auch an belegte Brötchen, Kuchen und Kaffee; nur nicht an die Unsitte, Demonstranten, die nichts zu sagen haben, zu Wort kommen zu lassen.

So kam es, wie es kommen musste. Als letzter Redner war der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer vorgesehen, ein rotes Tuch für alle Grünen. Das akademische Proletariat, auf Wachsamkeit gedrillt, hatte ihn mit der Parole „Kein Recht auf Nazi-Propaganda“ empfangen, und weil Palmer derselben Meinung war, hatte er mitgemacht. Ein solches Recht gibt es ja wirklich nicht; sehr wohl jedoch das deutsche Gewohnheitsunrecht, jedermann und jede Frau, die einem nicht passt, als Nazi zu bezeichnen. Von diesem Unrecht haben die Frankfurter Studenten reichlich Gebrauch gemacht. Und niemand hat dem widersprochen.

Achtung Glosse
Das Kasulzke-Prinzip: Bei uns können Sie sich entschuldigen
Bis auf Palmer. Der wollte die gegen ihn und alle anderen gerichteten Schmähungen nicht auf sich sitzen lassen und verglich das Nazi-Etikett mit dem fatalen Judenstern. Das war ein Fehler, weil der Vergleich im Sprachgebrauch des progressiven Deutschen auf Gleichstellung hinausläuft und Gleichstellung verboten ist. Früher war das noch anders: „Wer vergleicht, stellt Unterschiede fest“, hatte Johannes Groß zum Historikerstreit bemerkt. Aus und vorbei. Heute kann jeder Vergleich einen Proteststurm auslösen, der dann auch diesmal pünktlich losbrach und der, von den Medien befeuert, immer noch anhält.

Alle möglichen Leute distanzierten sich von Palmer und verlangten eine Entschuldigung – mehr als verständlich für Frau Schröter, die sich durch ein einziges, zur Unzeit gebrauchtes Wort um den Ertrag einer sorgfältig vorbereiteten Konferenz betrogen sah. Alle anderen, darunter auch der Universitäts-Präsident, hätten aber glaubwürdiger protestiert, wenn sie sich gegen den Gebrauch des deutschen N-Wortes, des Nazis, mit gleicher Entschiedenheit verwahrt hätten wie gegen einen misslungenen Vergleich. Das haben sie versäumt, und weil wir in Deutschland leben, einem Land, in dem die akademische Freiheit nur noch zur Hälfte gilt, spricht wenig dafür, dass sie es nachholen.

Die Konferenz hat nicht das Echo gefunden, das sie verdient hätte, und das ist schade. Die amerikanische Unsitte, den Angeklagten für schuldig zu erklären, wenn sein Ankläger behauptet, er sei es, hat auf Deutschland übergegriffen und nicht nur die akademische, sondern auch die Meinungs- und Redefreiheit schwer beschädigt. Wenn es so weitergeht, sind wir vom Rechtsstaat, der zwischen Kläger und Richter zu unterscheiden pflegt, zurück im Mittelalter. Denn Anklage und Urteil in eins zu setzen, war das Merkmal des Inquisitionsprozesses.

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