Tichys Einblick
Kopftücher und Jahresendflügelfiguren

Kopftuch: zwei Urteile des EuGH

Mit zwei Fällen in Frankreich und Belgien bereitet der EuGH den Jahresendflügelfiguren der DDR ein Comeback, die schon länger hier leben, können mit Neuankömmlingen gleichziehen. Der erste Fall in Deutschland wird nicht lange auf sich warten lassen.

© Getty Images/Carsten Koall

Am 14.03.2017 veröffentlichte der EuGH zwei Urteile – zu einem Fall in Frankreich (Rechtssache C‐188/15) und einem Fall in Belgien (Rechtssache C‐157/15). In beiden Fällen ging es um die Frage, ob der Arbeitgeber die Religionsfreiheit einschränken kann. Im französischen Fall lautet der Schluss-Satz:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass der Wille eines Arbeitgebers, den Wünschen eines Kunden zu entsprechen, die Leistungen dieses Arbeitgebers nicht mehr von einer Arbeitnehmerin ausführen zu lassen, die ein islamisches Kopftuch trägt, nicht als eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann.

Der Fall wurde an das französische Gericht zurückverwiesen. Es muss nun klären, ob bei diesem Arbeitgeber eine für alle Mitarbeiter geltende Regelung existierte, die für jene Mitarbeiter die im Kundenkontakt stehen, ein striktes Neutralitätsgebot vorschreibt.

Belgischer Fall

Diese Regelung ist Gegenstand des zweiten Urteils des EuGH. Eine belgische Firma hatte folgende, für alle Mitarbeiter geltende Regelung erlassen:

„Es ist den Arbeitnehmern verboten, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen zu tragen und/oder jeglichen Ritus, der sich daraus ergibt, zum Ausdruck zu bringen.“

Das Gericht kam zur Feststellung, dass diese Regelung keine unmittelbare Diskriminierung darstelle, wenn sie für alle Mitarbeiter, die Kundenkontakt haben, gelte. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass das Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, das sich aus einer internen Regel eines privaten Unternehmens ergibt, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens am Arbeitsplatz verbietet, keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne dieser Richtlinie darstellt.

Richtlinie muss neutral sein

Eine solche interne Regel eines privaten Unternehmens kann hingegen eine mittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 darstellen, wenn sich erweist, dass die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung, die sie enthält, tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden, es sei denn, sie ist durch ein rechtmäßiges Ziel wie die Verfolgung einer Politik der politischen, philosophischen und religiösen Neutralität durch den Arbeitgeber im Verhältnis zu seinen Kunden sachlich gerechtfertigt, und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels sind angemessen und erforderlich; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.

Muslima bei der Arbeitssuche
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit?
Dieses Urteil dürfte für Muslima gelten, die nicht auf ihr Kopftuch verzichten wollen, aber in der Öffentlichkeit den privatwirtschaftlichern Arbeitgeber repräsentieren, so da beispielsweise sind: Friseurinnen, Kosmetikerinnen, Krankenschwestern, Physiotherapeutinnen, Ärztinnen, Putzfrauen, Verkäuferinnen, Rezeptionistinnen, Kellnerinnen, Dolmetscherinnen, Moderatorinnen, Lehrerinnen etc. Arbeitgeber, die jetzt ihre unternehmerische Freiheit wahrnehmen wollen, sollten eine entsprechende betriebliche Regelung erlassen, damit sie auf der sicheren Seite sind.
Interessant wird es, ob dann die Arbeitsagentur oder das Jobcenter Strafen aussprechen werden, da ja das Vermittlungshemmnis in der Person der Muslima liegt.

Eine erste Zeitungssschau ergab, dass das zweite Urteil sehr unterschiedlich bewertet wurde. Arbeitgeber bewerten es positiv (FAZ), da nun auch in Deutschland die unternehmerische Freiheit (mit Einschränkungen) über der Religionsfreiheit steht, während SPON, die Antidiskriminierungsstelle des Bundes sowie die Muslimverbände das Urteil bedauern.

Deutsche Sondersituation

In diesem Zusammenhang sei an folgende rechtliche Situation in Deutschland erinnert, die sich grundlegend von der anderer EU-Länder (mit Ausnahme Großbritanniens) unterscheidet.

Muslime haben hier, dank Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und Rechtsprechung folgende religiöse Freiheiten am Arbeitsplatz, die sie in anderen EU Ländern nicht haben.

  • Bezahlte Gebetspausen (2-3 Gebete während der Arbeitszeit) – das entspricht etwa einen Tag bezahlte Arbeitszeit ohne Gegenleistung im Monat
  • Ihre mögliche Minderleistung während des Ramadan (Fastenmonat) ist vom Arbeitgeber zu kompensieren und kann nicht zur Entlassung führen – das entspricht bis zu 10 Tagen 
Arbeitszeit ohne Gegenleistung. Im Falle der üblichen Krankschreibung sogar bis zu 4 Wochen.

Im Fall der belgischen Rezeptionistin ist das Gericht nur auf das Tragen der islamischen Kopftuchs eingegangen, hat aber zum zweiten Teil der betrieblichen Regelung, die vom Gericht ja so akzeptiert wurde, nichts weiter ausgeführt.

Jahresendflügelfiguren

Der Ritus, der sich aus sichtbaren Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen am Arbeitplatz ergibt, umfasst aber auch das Gebet. Für Unternehmer anderer EU- Staaten ist dieser Teil weniger interessant, da es außer in Deutschland kein Recht zum (bezahlten) Gebet am Arbeitsplatz gibt. Damit dürfte nun auch bei uns die rechtliche Möglichkeit geschaffen sein, das Gebet am Arbeitsplatz und das Fasten (zumindest für Mitarbeiter mit Kundenkontakt) zu verbieten und so beträchtliche Kosten zu sparen.

Voraussetzung ist eine betriebliche Regelung mit diesem Text: Es ist den Arbeitnehmern verboten, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen zu tragen und/oder jeglichen Ritus, der sich daraus ergibt, zum Ausdruck zu bringen. 
Für die christlich geprägte Belegschaft dürfte da beim „Ritus“ als Hürde die Weihnachtsfeier stehen. Aber hier gibt es Erfahrungen aus der DDR, wo der atheistische Staat auch gegensteuerte und die Weihnachtsfeiern in den volkseigenen Betrieben zu Jahresendfeiern umdeklinierte, den Weihnachtsbaum zum Lichterbaum (DDR! – altes germanisches Brauchtum!) und die Engel unter dem Baum: Sie hießen fortan Jahresendflügelfiguren.

Nun hat der EuGH diesen Jahresendflügelfiguren in Deutschland ein Comeback bereitet und diejenigen, die schon länger hier leben, können mit den Neuankömmlingen gleichziehen. Wir warten gespannt auf das erste Urteil.

Michael Wolski hat das Buch Gebetspausen am Arbeitsplatz geschrieben.