Tichys Einblick
universell

J.S. Bach und die Suche nach dem europäischen Geist der Weihnacht

Wer im Zuge der Weihnachtstage irgendwann mal genug hat von „Last Christmas” & Co, greift dann gerne mal zu Bachs „Weihnachtsoratorium”. Dabei offenbart der typisch deutsche Bach seine tiefe Verwurzelung in einer Vielzahl europäischer Traditionen. Von David Boos

IMAGO / Ulmer

Die kulturelle Verwirrung unserer Gesellschaft kommt womöglich nie deutlicher zum Ausdruck als zur Weihnachtszeit. Das Hochfest der Geburt Christi sollte eigentlich wenige Fragen über seine Bedeutung aufwerfen, aber die letzten Jahre und Jahrzehnte hört man immer häufiger die Frage „Worum geht es zu Weihnachten?“ – eine Frage die meist mit erhobenem Zeigefinger und dem Hinweis beantwortet wird, dass es „nicht um Geschenke“, sondern um „Familie“, „Freunde“, nicht näher definierte „Besinnlichkeit“, und ähnliche Versatzstücke aus dem letzten Krippenspiel der örtlichen Kirchengemeinde ginge. Letztendlich dreht sich dann aber doch fast alles um die Geschenke, das Essen, den Alkohol und die Diskussion „Stirb Langsam“ oder „Kevin allein zu Haus“.

Auch musikalisch feiert die Verwirrung fröhliche Urständ. Nun will ich niemandem seine musikalischen Präferenzen madig machen, zumal ich mit „Last Christmas“ sogar eine nostalgische Erinnerung an meine Studentenjahre verbinde, doch auch in der Weihnachtsmusik wich die Geburt des Christkinds schon vor langer Zeit einer Bimmelglöckchen-und-Schneefall-Romantik, die zwar durchaus reizvoll sein kann, aber letztlich doch notgedrungen zu Wham! und belanglosem Coca-Cola Weihnachtsgedudel führen musste.

Die Geburt Christi stellt einen Neubeginn dar, den wohl drastischsten der gesamten Menschheitsgeschichte. Das Versprechen der Erlösung, aber damit auch einhergehend die Gewissheit der Passion, ist ein inhärenter Bestandteil dieses Neubeginns. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge blicken wir somit auf die Krippe und das neue menschliche Leben, an dessen Ende unweigerlich der Tod stehen wird. Das radikale Versprechen des Christkinds aber ist, dass der Tod nicht das Ende sein, sondern auf ihn die Auferstehung und das ewige Leben folgen wird.

Wenn wir uns also in der Zeit „zwischen den Jahren“ auch die Frage stellen, was nach dem annus horribilis 2022 im kommenden Jahr auf uns wartet, so drängt sich auch die Frage auf, was uns in diesen Zeiten Halt verschaffen kann. Dass linke Sozialutopisten weiter jede Tradition und jedes kulturelle Erbe Deutschlands, Europas und des Abendlandes angreifen werden, darauf kann man wetten. Gerade angesichts dieser permanenten Angriffe muss die Pflege unseres gemeinsamen kulturellen Erbes für uns Schutz und Schild sein. Die Heerscharen des Himmels verkünden mit der Geburt Christi „Frieden auf Erden“, doch dazu müssen erst einmal innereuropäische Zwistigkeiten beiseite gelegt werden. Nur wenn wir erkennen, wie viel wir voneinander gelernt haben, werden wir dazu übergehen können, den Kulturzerstörern gemeinsam die Stirn zu bieten.

Der universelle Bach und seine Wurzeln

Niemand verkörpert diese Verquickung europäischer Einflüsse besser als Johann Sebastian Bach. Spätestens seit seiner vermeintlichen Wiederentdeckung (denn wirklich vergessen war er nie) durch Felix Mendelssohn-Bartholdy erfreut sich seine Musik einer Beliebtheit, die über sein ursprüngliches lutheranisches Umfeld weit hinausgeht. Lutheraner, Katholiken (sie erfreuen sich besonders am „Magnificat“ und an der „Hohen Messe“), Atheisten, Europäer, Japaner, Klassiker, Jazzer und sogar Pop-Musiker – sie alle werden in den Bann einer Musik gezogen, die gerne als „universal“ bezeichnet wird, dabei aber einem äußerst spezifischen kulturellen und religiösen Umfeld erwuchs.

Es wäre einfach, darauf zu verweisen, dass es sich lohnt, zu Weihnachten (wie eigentlich immer) Bach zu hören, aber dafür bräuchte es keinen Artikel. Stattdessen möchte ich mich der europäischen Natur der Musik Bachs mit ein wenig Anlauf nähern, und zwar mit einem kurzen geschichtlichen Streifzug durch einige Beispiele vor-Bachscher Musik, und zwar – um im „Spirit of the Season“ zu bleiben – mit einer Auswahl weihnachtlicher Kompositionen.

Die Reise beginnt chronologisch mit einer Weihnachtsmotette des Spaniers Tomás Luis de Victoria, einem der bedeutendsten Komponisten der Gegenreformation. Sein „O magnum mysterium“ besticht zwar eher durch die transzendente Atmosphäre als durch augenscheinliche Komplexität, ist aber dennoch ein spätes Beispiel jener bis ins Mittelalter zurückreichenden Tradition von Mehrstimmigkeit, die im 17. Jahrhundert bereits aus der Mode geriet, aber deren Einfluss gerade in Bachs Spätwerk offensichtlich wird.

Während weite Teile Europas sich stilistisch auf den Weg in den Barock machten, hielt sich im konservativen Spanien des 17. Jahrhunderts hartnäckig die alte Tradition der vokalen Mehrstimmigkeit, deren letzter großer Vertreter Victoria war. In „O magnum mysterium“ fügen sich alle Stimmen gleichberechtigt in die meditative Betrachtung des „großen Mysteriums“ mit ein, des Wunders, dass ausgerechnet Tiere als erstes den neugeborenen Heiland in der Krippe betrachten durften. Wie dicke Schwaden Weihrauchs steigen auch die Klänge Victorias perfekter Betrachtung zu den Gewölben iberischer Kathedralen auf und zeugen von der tiefen Spiritualität des habsburgischen Spaniens unter Philipp II.

Gantz teudsches Bürgertum und musikalisches Gottesgnadentum

Die musikalische Reise setzt sich nördlich der Alpen fort. Der Kontrast könnte aufgrund der Reformation nicht größer sein. In der Rekonstuktion einer lutherischen Christmette von Michael Praetorius, „wie sie um 1620 stattgefunden haben könnte“, setzte sich der britische Dirigent Paul McCreesh ein musikalisches Denkmal. In seiner Aufnahme erklingen viele der heute noch populärsten Weihnachtslieder der lutherischen Tradition, wie „Ein Kind geborn zu Betlehem“, „Vom himmel hoch da komm ich her“ und „In dulci jubilo“. Als Grundgerüst dient dabei die „Missa: gantz Teudsch“ von Michael Praetorius. Der Titel weist auf den Messtext in deutscher Sprache, statt in Latein, hin, ist aber auch ansonsten Programm.

Erstmals entfaltet sich in der markanten Tonsprache von Praetorius ein fast schon national anmutendes Selbstbewusstsein, ein Stolz mit Ecken und Kanten, pompös und stellenweise ungehobelt, aber beseelt von einer rauen Urkraft. Das abschließende „In dulci jubilo“ ist fast schon legendär, die von der Erschütterung durch den 30-jährigen Krieg noch unberührte Morgenröte des frühen 17. Jahrhunderts, die die Musik von Praetorius ausstrahlt, lässt auch heute noch Grundmauern und Herzen erbeben. Dabei sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass das Konzept von Praetorius ohne die venezianische Technik der Mehrchörigkeit nicht denkbar gewesen wäre. Originär ist Praetorius Gestus, nicht seine Technik.

Es ist dieser „gantz teudsche“, lutherische Gestus, ohne den Bachs Musik undenkbar wäre, auch wenn die „dreißigjährige Lustbarkeit“ insofern ihre Spuren hinterließ, als dass die fast schon unbeschwerte Begeisterung für das orthodoxe Luthertum, die Praetorius noch kennt, nie wieder ohne den dunklen Schleier der Tragik des 17. Jahrhunderts erklingen würde.

Begeben wir uns gen Westen nach Frankreich. Im Jahr 1694 veröffentlichte Marc-Antoine Charpentier seine „Messe de Minuit“ über französische Weihnachtslieder, die sogenannten Noëls. Der französische Stil war in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts unter dem Sonnenkönig Ludwig XIV. aufgeblüht und bildete den Gegenentwurf zur italienischen Musik. Was in Italien die Oper und die Dramatik waren, das wurde in Frankreich das Ballett und die Galanterie. Welch ein Gegensatz auch zur lutherischen Volksmesse eines Praetorius! Zwar basiert auch die Messe de Minuit auf Weihnachtsliedern, es herrscht aber ein ganz anderer Gestus. Die Musik ist distinguiert, höfisch und raffiniert. Die weihnachtlichen Gassenhauer französischer Provinzen werden zu feinstem Chiaroscuro gewoben. Weihnachtliche Melodien, die im Original noch derb und volkstümlich erscheinen, strahlen in der Bearbeitung Charpentiers eine distanzierte Melancholie und königliche Noblesse aus. Wo bei Praetorius noch das Bürgertum seinen Platz an der Sonne einfordert, erstrahlt Charpentiers Musik in aristokratischer Selbstverständlichkeit, die selbst moderne Hörer zweifeln lässt, ob nicht doch etwas am Gottesgnadentum dran ist.

Der französische Stil war Bach nicht nur wohlbekannt, er war ein zentrales stilistisches Element der Bachschen Musik, die fast immer auf französische Verzierungsregeln, aber auch häufig auf französische Tanzformen zurückgriff. Ohne die französische – und ebenso wenig ohne die italienische – Musik wäre Bach undenkbar.

Bachs „vermischter Geschmack“

Wenden wir uns also dem „5. Evangelisten“, Johann Sebastian Bach, zu. Dessen „Weihnachtsoratorium“ besitzt in der öffentlichen Wahrnehmung nicht ganz den Status seiner Passionen, was wohl auch daran liegt, dass der Passion im evangelischen Deutschland und innerhalb der Reste des daraus erwachsenen Bildungsbürgertums seit jeher mehr Bedeutung beigemessen wird als der Auferstehung und der Geburt Christi. Bachs einzigartige Kombination aus barocker Festlichkeit, komplexer Mehrstimmigkeit und dramatischem Gestus vereint nahezu alle Elemente seiner Vorgänger in sich. Seine Musik erscheint uns zunächst typisch deutsch und steht damit in der erweiterten Tradition von Praetorius, doch im 18. Jahrhundert galt der deutsche Stil – laut Johann Joachim Quantz, dem Flötenlehrer Friedrichs II. – als der „vermischte Geschmack“, der die scheinbar gegensätzlichen italienischen und französischen Stile zu einem glücklichen Ganzen vereinte.

Diese stilistische Beeinflussung aus verschiedenen Quellen macht die Musik Johann Sebastian Bachs zu einem wahrhaft europäischen Projekt! Und zwar nicht im Sinne einer zentralistischen Bürokratie mit dubiosen gesellschaftlichen Umbauplänen, sondern als gegenseitige Befruchtung der unterschiedlichsten Regionen und Kulturräume Europas, die trotz ihres Konkurrenzverhältnisses immer schon im gegenseitigen Austausch standen. Der Begründer der französischen Schule, Jean-Baptiste Lully, war immerhin auch ein geborener Italiener, und der musikalische Wettstreit zwischen zwei der Großen des 17. Jahrhunderts, Johann Jakob Froberger aus Wien und Matthias Weckmann aus Hamburg, endete mit einer Freundschaft der Beiden und deren regen Austausch von Kompositionen, dem wir letztlich einen Großteil der überlieferten Werke beider Komponisten verdanken.

Doch Bach beherrscht nicht nur den italienischen und den französischen Stil. In seinem Spätwerk, den „Canonischen Veränderungen über Vom Himmel hoch, da komm ich her“, zeigt sich Bach zwar verklausuliert und hochkomplex, dabei aber gleichzeitig innig und persönlich. Die Variationen für Orgel schrieb Bach spät, erst wenige Jahre vor seinem Tod als Beitrag zur Aufnahme in die sogenannte „Mizler’sche Societät“, einer aufklärerisch angehauchten Gesellschaft in Leipzig, die sich auf die Fahnen schrieb „die musikalischen Wissenschaften […] in vollkommenen Stand zu setzen“. Für Bach eine bemerkenswerte Gelegenheit, da er sich im hohen Alter – ganz im Gegensatz zum galanten Zeitgeist – zunehmend der hochkomplexen Mehrstimmigkeit widmete und dabei auf Traditionen zurückgriff, die bis zu Victoria und den Polyphonisten der franko-flämischen Schule zurückreichen.

Wie der Titel des Werks bereits deutlich macht, folgen die Variationen dem einfachen Grundprinzip des Kanons, wie ihn auch Kinder schon kennen, erreichen dabei aber unvorstellbare Höhen der Komplexität. Beginnt die erste Variation noch mit einem Kanon in den Händen, bei dem die Stimmen wie Girlanden übereinander fließen, wird die Kunstfertigkeit im Laufe der Variationen für das Ohr kaum noch nachvollziehbar. Manchmal lässt Bach die Melodie gleichzeitig in einfachem und in halbem Tempo laufen, normal und umgekehrt, vorwärts und rückwärts, und an einer Stelle sogar alle Zeilen des Kirchenlieds gleichzeitig übereinander – all das, wohlgemerkt, in wunderbarstem Wohlklang!

Auch heutzutage erfreuen sich sogenannte Crossover-Projekte einer gewissen Popularität, doch lassen diese einen meistens mit einem unbefriedigten Gefühl zurück. Weder der eine Stil, noch der andere kommt dabei wirklich zur Geltung und einen gesamtheitlichen Mehrwert sucht man oftmals vergeblich. In Bachs Spätwerk jedoch hören wir eine Verschmelzung der unterschiedlichsten Schulen und Traditionen, ja sogar Rückgriffe auf Techniken die bereits Jahrhunderte zuvor aus der Mode gekommen waren, aber das Resultat ist eine homogenes Ganzes in dem die unterschiedlichen Stile kaum noch voneinander zu trennen sind. Wo sonst Zwist und Zwietracht das Zepter schwingen, herrscht bei Bach wahrlich weihnachtlicher „Frieden auf Erden“.

Es gibt womöglich wenig Kunst, die der Perfektion je so nahe kam wie die Musik von Bach. Fast ist man geneigt dem Komponisten auf seine Variationen über „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ zu entgegnen: „Ja, das tust du“. Danke, Bach! Und den Lesern von Tichys Einblick: Gute Tage!

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