Tichys Einblick
Wollen wir den „Gerechten Krieg“? – 1

Das geopolitische Scheitern des Westens in der Ukraine

Dem Völkerrecht nach war der Angriff Russlands unmoralisch und ungerecht. Jedoch, nachdem die USA das Völkerrecht zahllose Male, unter anderem im Kosovo, Irak und Libyen, in den Jahrzehnten zuvor missachtet hatten, kann sich der Westen nicht mehr auf dieses berufen. Von Heinz Theisen

picture alliance / newscom | JULIA NIKHINSON

„Der ungerechteste Frieden ist besser als der gerechteste Krieg“ (Cicero). Unterdessen ist absehbar, dass die USA wie in Vietnam und Afghanistan auch die Ukraine im Stich lassen werden. Dementsprechend mussten größere Mächte der Europäischen Union bereits bilaterale Hilfsverträge mit der Ukraine abschließen, die sich nach der Niederlage für die Europäer als Fass ohne Boden erweisen wird. Die Kriegsfolgen werden nicht nur – wie im Falle der afghanischen Flüchtlinge – indirekt, sondern direkt Europa überlassen bleiben.

Die zerstörten Beziehungen zu Russland setzen uns jetzt schon energie- und wirtschaftspolitisch und die Kriegsflüchtlinge innenpolitisch zu. Die Aufbaukosten für die notorisch korrupte Ukraine werden die EU weiter schwächen, die überforderte Solidarität – wie etwa der polnischen Bauern – wird die Europäische Union weiter an Zustimmung verlieren lassen. Mit ihrem „Größenwahn“ (Helmut Schmidt) eines Ausgreifens auf die von ihr angestrebte Mitgliedschaft der Ukraine könnte sie ihre finale Überdehnung eingeleitet haben.

Den USA ist nur das Nebenkriegsziel der Schwächung des wirtschaftlichen Konkurrenten Europa gelungen. Russland ist über die Sanktionspolitik eher gestärkt worden. Im weltweiten geopolitischen Maßstab gehören auch die USA zu den Verlierern. Im Zuge der Sanktionspolitik wandten sich selbst engste Verbündete wie Saudi-Arabien von ihnen ab – und der BRICS-plus zu. Dieses Bündnis wird bei aller politischen Heterogenität vom Ziel der Unabhängigkeit von den USA getragen. Aber auch dessen Verhältnis zu den Nato-Partnern ist belastet. Mit der Sprengung der North-Stream-Pipeline könnte nach einem Ende des Sprech- und Frageverbotes das Atlantische Verhältnis ebenfalls zersprengt worden sein.

Autoritarismus – Totalitarismus – Imperialismus

Am schlimmsten aber sind die hunderttausenden Toten, genaue Angaben verweigern beide Seiten, die Vorstellungen und Begrifflichkeiten geopfert wurden, die uns am Begreifen der Realität hinderten.

Zunächst kann man die Ukraine, in der elf Oppositionsparteien verboten sind und in der die russisch-orthodoxe Kirche an der Ausübung ihrer Religionsfreiheit gehindert wird und die zudem zu den korruptesten Ländern der Welt zählt, nicht als freiheitliche oder gar rechtsstaatliche Demokratie bezeichnen. Wem Wahlen als Demokratieausweis genügen, sie sind in der Ukraine einstweilen ausgesetzt, dem muss auch Russland als Demokratie gelten. Es handelt sich bei den Kombattanten vielmehr um zwei korrupte Oligarchien, und schon in diesem Sinne hätte es nicht unser Krieg sein dürfen.

Die Atlantiker im Westen können sich nicht aus der eingeübten Totalitarismus-Begrifflichkeit des Kalten Krieges lösen, die damals zutreffend war. Mit der Dämonisierung Putins, eines autoritären Diktators – wie es ihn in der Mehrzahl der Staaten auf der Welt gibt –, wird das Land zur totalitären Diktatur verzeichnet. Putins behauptete Nähe zu Hitler oder Stalin lässt jedes Mensch- und Materialopfer für seine Bekämpfung als berechtigt erscheinen. Russland ist gewiss so wenig ein Rechtsstaat wie China oder Saudi-Arabien. Der Westen kann aber kaum alle diese Diktaturen bekämpfen und sollte sich daher auch auf seine eigene Selbstbehauptung begrenzen.

Von größter strategischer Bedeutung ist die mangelnde Unterscheidung von Autoritarismus und Totalitarismus im heutigen westlichen Denken. Der Konflikt zwischen den nationalen Souveränitätsansprüchen der Ukraine und den imperialen Ansprüchen Russlands gilt als bedeutsamer als der geokulturelle Kampf des Westens mit dem Islamismus. Der russische Autoritarismus, dem es zuerst um seine eigene Stabilität zu tun ist, gilt als gefährlicher als ein diesmal religiös motivierter Totalitarismus, dessen Absolutheitsansprüche wesensgemäß mit der Feindschaft gegen Andersgläubige verbunden sind.

Im Gegensatz zu den autoritären Regimen in Moskau und Peking ist der Islamismus mit einem Wahrheits- und Herrschaftsanspruch ausgestattet, der jegliche Form von Gewalt rechtfertigt. Totalitäre Bewegungen beanspruchen gemäß ihrem geistigen Absolutheitsanspruch auch die absolute Herrschaft. Gegenüber den bloß autoritären Regimen im Nahen Osten wäre Koexistenz möglich, aber nicht gegenüber der totalitären Dynamik der Taliban, des Islamischen Staates, der Ayatollahs und von Hamas und Hisbollah. Schon im Lichte dieser Begrifflichkeiten wäre eine Nato-Russland-Sicherheitspartnerschaft gegenüber den islamistischen Bewegungen geboten gewesen.

Je absehbarer die militärische Niederlage der Ukraine wird, desto monströser muss das Putin-Bild gezeichnet werden. Mit dem Scheitern des Westens in der Ukraine tritt dessen angeblich angestrebte Eroberung von ganz Europa in den Vordergrund. damit wird gelegentlich auch schon ein Einsatz von Nato-Bodentruppen gerechtfertigt. „Putins Russland“ wird nicht nur unterstellt, dass es die ganze Ukraine annektieren will, sondern auch, dass Russlands Soldaten nach der erfolgten Einverleibung der Ukraine weiter nach Westen marschieren werden. Russland führe Krieg gegen Europa, den Westen und die Freiheit. Die Ukraine kämpft demnach für uns.

Zum inneren Wesen Russlands als „imperialistischer Macht“ gehöre es, nach gewaltsamer Eroberung zu streben. Es könne gar nicht anders, als sein Heil in einer gewaltsamen Expansion zu suchen. Europa wird daher nur Frieden finden, wenn es Russland besiegt. Solange dieses Russland-Narrativ vorherrscht, ist an Frieden und Neuordnung Europas nicht zu denken.

Aber ist Russland denn überhaupt ein totalitärer und imperialistischer Staat? Zu den wesentlichen Merkmalen des Totalitarismus gehört eine Ideologie mit absolutem Wahrheitsanspruch, die in Russland nicht zu erkennen ist. Die Durchdringung aller Lebenswelten und Funktionssysteme durch den Staat wird schon mangels einer solchen Ideologie nicht einmal angestrebt. Ein Vergleich Nord-Koreas, des Irans oder Afghanistans mit dem heutigen Russland würde genügen, um die Unhaltbarkeit des totalitären Narrativs aufzuzeigen.

Bei dem angeblichen Imperialismus handelt es sich doch eher um eine Art Vorfeldsicherung zur Bestandssicherung einer Großmacht, die aus demografischen und geopolitischen Gründen um ihre Dauerhaftigkeit fürchtet. Allenfalls könnte man von einem „defensiven Imperialismus“ sprechen, der im Vergleich zum westlichen Ausgreifen in den vergangenen Dekaden bescheiden ausfällt. Aber diesen Vergleich verbietet sich der Westen, weil sein Imperialismus von universalistischen Moralvorstellungen flankiert wird.

Verlust der Geopolitik

Das veröffentlichte Gespräch höchster deutscher Luftwaffenoffiziere zum Thema Taurus-Lieferung an die Ukraine brachte uns die Erkenntnis, dass es analog zur Regierungselite auch um die nachgeordneten Funktionseliten nicht zum Besten bestellt ist. Da sie von einer ganzen Reihe luschiger Verteidigungsministerinnen ernannt worden sind, kann dies nicht verwundern. Es fehlt ihrem kumpelhaften Gerede jede Ernsthaftigkeit und Bereitschaft zur Analyse von Ambivalenzen und Gefahren. Die mit einem Taurus-Einsatz gegen Moskau drohende Eskalation bis hin zu einem Einsatz von taktischen Atomwaffen gegen Deutschland als Kriegsteilhaber wird von ihnen nicht einmal in Erwägung gezogen.

Nach der Veröffentlichung des Gesprächs hagelte es statt Rücktritten und Entlassungen Vorwürfe an den russischen Geheimdienst, doch tatsächlich einen Lauschangriff begangen zu haben. Da dies CIA und NSA niemals tun würden, liegt ein erneuter Beweis für die einmalige Bosheit der Russen vor.
Aber auch die Eliten der Wissenschaft geben kein gutes Bild ab. So mangelt es auch dem allgegenwärtigen und allbelesenen Herfried Münkler an Urteilskraft. Er sieht die „Welt in Aufruhr“, weil die westliche Unipolarität spätestens mit Afghanistan gescheitert sei. Zwar müsse sich eine neue Art von Pentarchie zur Weltordnung herausbilden, aber für Russland – räumlich die größte Weltmacht – ist dabei kein Platz vorgesehen.

Erwächst der Mangel an akademischer Urteilskraft aus der Vielwisserei, die den Blick auf das unmittelbar Notwendige versperrt? Im Gegenteil müssten alle Anstrengungen auf die Errichtung einer multipolaren Weltordnung unter Einbeziehung und damit der Einhegung gerade der gegnerischen Weltmächte ausgerichtet sein. Ein gelungener Übergang von einer unipolar-westlichen zu einer multipolaren Weltordnung, in der dem autoritären Russland ein legitimer Platz eingeräumt worden wäre, hätte den Krieg in der Ukraine verhindert.

Im Festhalten an seinem universellen und unipolaren Hegemonieanspruch liegt das strategische Versagen des Westens. Der entstehenden multipolaren Weltordnung wurde nicht zugearbeitet, sondern diese massiv behindert. Zumal nach der Niederlage in Afghanistan wollten die USA anscheinend nicht auf die Gelegenheit verzichten, einen Krieg in der Ukraine zur Erweiterung ihres eurasischen Einflusses aufzugreifen und damit ihr Atlantisches Imperium zu mehren.

Für die USA war dies eine günstige Gelegenheit, ihre Sicherheitsausdehnungsansprüche auf Kosten anderer, der Ukrainer und der wirtschaftlich konkurrierenden Europäer zu festigen. Zudem sollte Russland so geschwächt werden, dass sich die USA ungestört dem neuen, von ihnen zuvor selbst aufgebauten Gegner China widmen könne.

Mit dem auch von der zuvor ausgetauschten politischen Führung der Ukraine geplanten Beitritt zur Nato wäre Russlands Hegemonie über das Schwarze Meer beendet gewesen. Russland hätte allenfalls noch als Regionalmacht weiterbestanden. Dies mögen westliche Demokraten als gerecht empfinden, nicht aber russische Patrioten und Oligarchen, die ihren Besitzstand verteidigen wollen.
Gemäß dem universalistischen Denken des Westens hat Russland kein Recht auf Einflusssphären, denn im Grunde genommen gehört die ganze Welt zur westlichen Einflusssphäre. Manche halten sogar den Zerfall Russlands für eine Befreiung der vielen Völker Russlands, wobei eine Zerstörung Russlands jede Neuordnung im eurasischen Raum in ein dem Nahen Osten vergleichbares Chaos verwandeln würde.

Mittels einer Sicherheitspartnerschaft mit Russland wäre ein nördlicher Machtblock entstanden, der sowohl China als auch islamistische Bewegungen hätte eindämmen können. Die Nato-Ausdehnungspolitik dachte hingegen in den Kategorien der Ausweitung einer unipolaren westlichen Herrschaft. Mit dem Nato-Beitrittsversprechen von 2008 an die Ukraine wurde eine von den Russen gezogene Rote Linie bewusst überschritten. Russland ist der Täter, der Westen ist der Hauptverursacher des Krieges.

Im Kalten Krieg war die Geopolitik noch vorherrschend gewesen und hatte dazu beigetragen, dass jeder Meter zwischen den Großmächten abgegrenzt worden war. So vertritt heute auch nur noch eine aus jener Zeit geprägte Generalität wie Generalmajor Gerd Schultze-Rhonhof und dem Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, solche Kategorien und warnen im Gegensatz zur heiteren Bundeswehrführung von heute vor einer weiteren Kriegsbeteiligung Deutschlands. Dies könne sich als Weg zum Einsatz taktischer Atomwaffen Russlands zumindest gegen die Einsatzleitung der USA in Wiesbaden erweisen.

Emmanuel Macron glaubt, dass es geopolitisch nur „ein Europa“ gibt, eine Äußerung, die an historischer Blindheit kaum zu überbieten ist. Für die kulturellen Bruchlinien zwischen den russisch-orthodoxen und west-christlichen Kulturkreis mitten durch die Ukraine fehlt globalistisch gesonnenen Eliten jeglicher Sinn. Kulturen sind immer partikular, wodurch sie der Verachtung von Globalisten unterliegen, wodurch allerdings übersehen wird, dass der Mensch am stärksten durch seine Weltanschauung und damit seine Kultur geprägt ist. Es ist nicht möglich, nichts zu glauben. Diejenigen, die allerdings glauben, nichts zu glauben, fliehen umso mehr in Gefühle und Gesinnung. In denen dürfen dann auch Grenzen nur als offene Grenzen gedacht werden.

Eine gesamteuropäische Friedensordnung wäre über die Neutralität der Ukraine und der Anerkennung Russlands als Großmacht möglich gewesen. Vergleichbares gilt auch für die politische Neutralität Taiwans, die von unipolaren Eiferern der Neokonservativen in den USA zunehmend in Frage gestellt wird. Selbst nach dem Kriegsausbruch hatte es noch die Möglichkeit gegeben, die West-Ukraine militärisch für neutral zu erklären, den Donbass – wie auch im Minsker Abkommen vorgesehen – mit umfangreichen Autonomierechten auszustatten und die Krim ohne völkerrechtliche Anerkennung faktisch Russland zu überlassen. Eine differenzierte Form der Neutralität hätte der Ukraine den Weg in die EU, aber nicht in die Nato eröffnet.

Einen Monat nach Kriegsbeginn kam es zum Versuch einer Einigung zwischen der Ukraine und Russland, verhandelt durch türkische und israelische Vermittlung in Istanbul. In diesen Verhandlungen legte die Ukraine am 29. März 2022 ein Positionspapier vor, das die Neutralität der Ukraine und Sicherheitsgarantien vorsah, die sich nicht auf die Krim, Sewastopol und die beiden Separatistengebiete im Osten erstrecken würde. Innerhalb von 15 Jahren sollte der Status der Krim und Sewastopols in bilateralen Verhandlungen geklärt werden. Nach übereinstimmenden Berichten der an der Vermittlung Beteiligten, scheiterte die Vereinbarung am Einspruch der USA und Großbritanniens. Die Bereitschaft der Ukraine zum Kompromiss passte nicht ins universalistisch-imperialistische Narrativ der USA.

Lesen Sie in Kürze von Heinz Theisen „Wollen wir den ‚Gerechten Krieg‘?“ – Teil 2: „Vom Sieg der Moral über die Urteilskraft“.

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