Tichys Einblick
«Corona» und die Folgen

Demokratie im Lockdown

Wo immer das Volk zum «Objekt der Staatstechniken» wird, wandelt sich die Form der Demokratie und das Verhältnis zwischen den Menschen, lautete Schelskys Fazit. «Corona» hat uns dieser Dystopie ein Stück nähergebracht.

@ Getty Images

Der Virus-Schocker «Contagion» von Steven Soderbergh führt in drastischer Weise vor Augen, wie rasend schnell Seuchen sich in Zeiten der Globalisierung ausbreiten können. Ansteckung lauert überall und jederzeit. Vielerorts herrscht der Ausnahmezustand, das gesellschaftliche Leben kommt zum Erliegen, Plünderungen und Übergriffe aller Art sind an der Tagesordnung.

Der Seuchen-Thriller zeichnet jedoch keine dystopische Vision des Zusammenbruchs gesellschaftlicher Strukturen und des Versagens staatlicher Institutionen. Diese machen zwar Fehler und reagieren zu spät, dennoch wirbt der Film um Vertrauen in ihre Handlungsfähigkeit.

Erosion des Vertrauens

Als Donald Trump verkündete, es liege in seinem Ermessen, wann welche Bundesstaaten wieder zur Normalität übergehen könnten, erteilten mehrere Gouverneure dem «Commander in Chief» eine saftige Lektion zum Thema Gewaltenteilung und Föderalismus: «Der Präsident hat keine allumfassende Macht. Wir haben eine Verfassung, wir haben keinen König», sagte New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo auf CNN. Eine landesweite Krise setze die Verfassung nicht außer Kraft.

Auch Angela Merkel bekundete Mühe mit demokratischen Prozessen und föderalen Strukturen, als sie «Öffnungsdiskussionsorgien» über Ausmass und Zeitpunkt begrenzter Lockerungen des landesweiten Shutdowns missbilligte. Damit offenbare sie ein sehr skeptisches Menschenbild und ein überaus konservatives Bild unserer Gesellschaft, meinten Beobachter.

Robin Alexander, intimer Kenner merkelscher Motivlagen und Missgriffe, schrieb in der «Welt», die männiglich bewunderte Krisen-Kanzlerin habe sich mit ihrer Wortwahl wohl im Ton vergriffen. Sie lasse damit die Debatte über die richtige Bekämpfung der Pandemie als Fehler erscheinen. Dies sei jedoch nicht die «Stunde der Exekutive», sondern der demokratisch legitimierten Politik.

Inzwischen ist klar, dass Merkel sich geirrt hat. Trotz der Lockerungen, welche die Ministerpräsidenten und Landräte einzelner Bundesländer gegen Merkels Widerstand durchgesetzt hatten, sind die Fallzahlen insgesamt gesunken. Weitergehende Eingriffe in die Freiheit sind nicht mehr zu rechtfertigen. Einzelne Cluster und Hotspots können lokal und regional bekämpft werden.

Die Hoffnung, dass aus der Krise ein neues Vertrauen in die Politik erwachsen könnte, wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zu spekulieren wagte, wurde durch neuere Umfragen rasch gedämpft. Die Stimmung der Deutschen sei historisch schlecht und die Kollateralschäden des Shutdowns seien gravierender als die Politik wahrhaben will, berichtete Renate Köcher, Chefin des Allensbach-Instituts. Schlimmer sei aber das Misstrauen der Politik gegenüber der Bevölkerung.

Köcher hatte bereits in der Flüchtlingskrise vor schwindendem Wählervertrauen in Deutschland gewarnt. Der Zukunftsoptimismus der Bürger war nach 2015 regelrecht zusammengebrochen. Dass eine Regierung die Kontrolle über die eigenen Grenzen fahren lässt, war zuvor unvorstellbar. Wachsendes Misstrauen, ob sich die Ziele und Vorstellungen der Politik noch annähernd mit denen der Bürger decken, war die Folge.

Vorerkrankungen der Demokratie

In der Geschichte der Epidemien wurde immer nach dem «starken Staat» gerufen, wenn der direkte Durchgriff alternativlos schien. Alternativen gebe es jedoch immer, meint die Verfassungsrichterin und Schriftstellerin Juli Zeh. Demokratische Politik dürfe auch in Krisenzeiten nicht den Vorgaben einzelner Experten folgen und in die Bürgerrechte eingreifen. «Alternativlosigkeit» sei ein undemokratisches Konzept. Die Verfassung schreibe ausdrücklich vor, verschiedene Möglichkeiten abzuwägen. Das erhöhe die Transparenz und die demokratische Legitimität.

Eine schleichende Erosion der Legitimationsfundamente der liberalen Demokratie wird freilich von Demokratieforschern wie Michel Crozier, Samuel P. Huntington und Joji Watanuki («The Crisis of Democracy») schon seit vielen Jahren beobachtet. Sie sehen jedoch, anders als Autoren wie Jürgen Habermas, Claus Offe, Colin Crouch oder Wolfgang Streeck, weniger die Immunisierung der Wirtschaft gegenüber der «Massendemokratie» als Ursache möglicher Demokratiekrisen, sondern die Überlastung des Staates durch die demokratischen Mechanismen selbst.

Nicht der Kapitalismus sei demnach schuld an der inneren Auszehrung der Demokratie, sondern die Zunahme der gesellschaftlichen Komplexität, das Wuchern disparater Interessen, die Erosion traditioneller Werte und besonders die steigenden Ansprüche der Bürger. Damit werde es für die demokratischen Regierungen immer schwieriger, das Allgemeinwohl zu formulieren oder effektiv in Politik umzusetzen.

Nach Helmut Willke sehen sich alle politischen Steuerungsregime mit Risiken konfrontiert, die nicht erst dann ernst genommen und politisch angepackt werden sollten, wenn die hinter ihnen lauernden Katastrophen eingetreten sind. Demokratien mit ihrem langsamen und inkrementellen Lernmodus sind dieser Aufgabe jedoch nahezu hilflos ausgeliefert. Zwei Jahrhunderte war dieses Lernmodell überaus erfolgreich. Sogar Gesetze, die als normative Regelungen eher lernresistent gebaut sind, können durch Gesetzesänderungen an schleichende, evolutionäre Veränderungen angepasst werden. So sind die modernen Demokratien zu den vorbildlich gesteuerten Gesellschaften der Neuzeit geworden, wodurch die Leistungsgrenzen dieses Modells schwer zu erkennen sind.

Nun hat uns «Corona» mit diesen Grenzen bekannt gemacht. Wenn Veränderungen sich nicht an die überkommenen Regeln halten und mit ungewohnter Dynamik, Langfristigkeit und Konsequenz auf die Gesellschaft einstürzen, kann sich dieses Lernmodell sogar in sein Gegenteil verkehren. Die etablierten Anpassungsroutinen greifen nicht mehr. Es stellt sich die Frage, ob die Corona-Krise den Graben zwischen Befürwortern autoritärer Regierungsformen und jenen, die trotz Krise mehr Demokratie fordern, vertiefen wird, und ob angesichts unverhältnismässiger Grundrechtseinschränkungen die Grundlagen von Demokratie und Rechtsstaat zusehends zerfallen.

Für Sascha Kneip entscheidet sich die Legitimität einer liberalen Demokratie an der Frage, ob die geltende demokratische Rechts- und Verfassungsordnung hinreichenden Legitimitätsglauben in Politik und Bevölkerung generieren kann. Ermangelt es den getroffenen Massnahmen an Rechtskonformität und Verfassungsmässigkeit, gerät die liberale Demokratie – deren Überleben davon abhängt, dass ihre normativen Grundlagen mit dem Handeln der Exekutive und den Einstellungen ihrer Bürger in Einklang stehen – in eine Legitimitätskrise.

Sachzwang statt Demokratie

«Der Terror beginnt nicht mit der Pest, sondern mit den Massnahmen gegen sie», schreibt Gerd Göckenjan in «Das Pest-Regiment». Wie die Seuchengeschichte lehrt, rankt sich um jede Epidemie ein spezifischer Komplex von Wahrnehmungs- und Denkmustern, der die Krankheit selbst in den Hintergrund drängt. Entsprechende Narrative verbreiten Furcht und Schrecken, um die Quarantäne-Massnahmen zu rechtfertigen. In Notlagen sehen sich die politischen Akteure offenbar genötigt, die Krise gewissermassen zu inszenieren.

Im «Corona-Regiment» gelangt die in der Finanz- und Flüchtlingskrise erprobte «Rhetorik der Alternativlosigkeit» zu neuer Blüte. Wo die Rahmenbedingungen des sozialen Lebens nicht mehr politisch ausgehandelt, sondern als unverhandelbare Systemimperative dargestellt werden, degeneriert die Politik zum Management des Unabänderlichen.

Um Handlungsfähigkeit zu simulieren, werden ideologische Erwägungen den Expertisen übergeordnet und die Relevanz des verfügbaren Wissens nach politischen Opportunitäten gewichtet. Dabei hat die Politik immer weniger Spielraum, um «bottom-up» den Willen der Bürger zu repräsentieren.

Geradezu überflüssig werde die Demokratie, wenn die Politik in «Gutachterkämpfe» ausarte, argwöhnte der Soziologe Helmut Schelsky bereits in den 1960er Jahren («Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation»). Er entwickelte die Idee des Sachzwangs als «Endpunkt demokratischer Politik» – ein dystopisches Modell einer evidenzbasierten Technokratie jenseits demokratischer Konflikte. Sein Entwurf beschreibt eben jene Demokratie-Skepsis, die dem Konzept politischer Alternativlosigkeit zugrunde liegt.

Nach Schelsky sind die hyperkomplexen Sachverhalte, über die es zu entscheiden gilt, vom Volk intellektuell nicht mehr zu bewältigen. Mehr «Informationen» helfen auch nicht weiter: Überinformation fördert nicht die politische Urteilsbildung, sondern Entpolitisierung, Entdemokratisierung und politische Apathie der Staatsbürger.
Kognitive Überforderung kann pandemische Ausmasse annehmen, wenn globale Vernetzungen und Abhängigkeiten, Risikoanfälligkeiten, katastrophische Entwicklungen und die Produktion von Nichtwissen und Ungewissheiten zunehmen. Es droht eine wachsende Desorientierung der Bürger, welche in eine Dystopie des Systems umschlagen kann.

Damit wird die Demokratie als Gemeinwesen zur Illusion. Von einer «Wiederherstellung des Primats der Politik» (Hartmut Rosa) kann solange keine Rede sein, wie Ideologielosigkeit, Sachlichkeit und Neutralität der eigenen Politik inszeniert werden, um politische Debatten abzuwürgen.

In der «Fassadendemokratie» (Wolfgang Streeck) fungiert die Politik nicht mehr als «Diskursmaschine» oder Institution normativer Willensbildung, sondern nur noch als Instrument der «Motivmanipulation» – mit freundlicher Unterstützung von Medien, Meinungsforschung und Öffentlichkeitsarbeit.

Wo immer das Volk zum «Objekt der Staatstechniken» wird, wandelt sich die Form der Demokratie und das Verhältnis zwischen den Menschen, lautete Schelskys Fazit. «Corona» hat uns dieser Dystopie ein Stück nähergebracht.


Thomas A. Becker, ehemaliger Forschungsleiter des Gottlieb-Duttweiler-Instituts, Berater und Autor.

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