Tichys Einblick
Was das Verfassungsgericht versäumt hat

Die fragwürdigen Hintergründe des Klimaschutz-Urteils

Das Bundesverfassungsgericht hat es versäumt, unterschiedliche Stimmen zu hören und angemessen abzuwägen, bevor man eine Entscheidung dieser Tragweite fällte. Man hat den eigenen Auftrag übersehen. Ein Gastbeitrag von Björn Peters.

IMAGO / Steinach

Der jüngste Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz hat viele Fragen aufgeworfen und wird kontrovers diskutiert. Der innovative Charakter des Beschlusses ist in der Tat anzuerkennen, dennoch muss festgehalten hat, dass das Gericht den eigenen Kompetenzrahmen weit überdehnt und elementare grundgesetzliche Gesichtspunkte des Umweltschutzgebotes nicht berücksichtigt hat. Dadurch hat es der eigenen Reputation geschadet.

„Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen…“

Zunächst zur Habenseite. Der Beschluss des BVerfG legt fest, dass künftige, noch ungeborene Generationen in Einklang mit Artikeln 2 und 20a Grundgesetz als Rechtssubjekte eingeführt werden, wodurch gleichzeitig das Staatsziel Umweltschutz erstmals die ihm gebührende Aufmerksamkeit erhalten hat. Dieses wurde in Art 20a Grundgesetz so formuliert:

Wissenschaftliche Unsicherheiten
Das Verfassungsgerichtsurteil zum Klimaschutz stützt sich auf fragwürdige Quellen
„Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“

Nirgendwo sonst im Grundgesetz wird von „künftigen Generationen“ gesprochen. Grundsätzlich zu begrüßen ist daher der Begriff der „intertemporalen Freiheitssicherung“ im BVerfG-Beschluss, der sich aus dem politischen Nachhaltigkeitsbegriff ableitet, also der Forderung, dass der heutige Lebensstil nicht die Möglichkeiten künftiger Generationen gefährden soll (Brundtland). Das BVerfG hat diesen Grundsatz von den materiellen Rechten auf die Freiheitsrechte ausgedehnt. Ob dies nur in der Klimadebatte gilt oder auch bei Themen wie Staatsverschuldung und Rentensystem, bleibt abzuwarten, dies wäre aber durchaus erfreulich.

„…die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere…“

Es ist positiv zu werten, dass durch den Beschluss klar formuliert wurde, dass der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Tiere auch den Schutz vor starker Erderwärmung einschließt. Ein zusätzliches „Staatsziel Klimaschutz“, das von manchen Parteien und Nichtregierungsorganisationen bereits angeregt wurde, ist also nicht nötig, da im Staatsziel Umweltschutz bereits enthalten.

Die Logik ist einfach: Würde der Klimawandel nachweislich und primär zu einer so starken Beeinträchtigung von Ökosystemen führen, dass ganze Arten ausstürben, hätte der Mensch die Pflicht, der Klimaerwärmung vorzubeugen und dazu wirksame Maßnahmen zu etablieren. Er hat dann alles zu tun, um sowohl Schaden von den natürlichen Lebensgrundlagen abzuwenden (Verschlechterungsverbot) als auch den Zustand der Natur im Sinne des Erhalts der Artenvielfalt zu optimieren (Verbesserungsgebot). Ideal wäre, wenn hierzu die Breite der wissenschaftlichen Ansätze zur Untersuchung dieser Frage gewürdigt würde.

„…im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung…“

Genau hier wird es kritisch. Bei der Untersuchung der argumentativen Grundlagen des Beschlusses fällt auf, dass sich das Gericht in vielen Punkten auch zum Richter über komplexe und kontrovers diskutierte naturwissenschaftliche Fragen gemacht hat. Betrachtet man den Weg der Entscheidungsfindung, verwundert dies nicht. Der Entscheid des Gerichts erging als Beschluss ohne Expertenanhörung. Dies wiederum wird wohl daher rühren, dass Kläger und Beklagte im Wesentlichen identisch waren, es also vor Gericht nicht zu Kontroversen kam. Hier eine von der Bundesregierung und aus Lobbygeldern der Umgebungsenergiebranchen wesentlich unterstützte Nichtregierungsorganisation, die die Kosten der meisten Individualkläger finanzierte, da das Bundesumweltministerium.

Die Argumentation hält keinen Tag
Bundesverfassungsgericht hebt Grundgesetz zu Gunsten der Klimapolitik auf
Inhaltlich hat die Verschränkung von Kläger- und Beklagtenseite dazu geführt, dass wissenschaftliche Quellen kaum ausgewertet wurden, sondern nur einseitige Literatur über Wissenschaft. Zusätzlich wurden in der Wissenschaft wenig anerkannte Theorien von klimatischen Kipppunkten und einem absolut anzugebenden CO2-Budget zur Grundlage des Urteils gemacht. Ein Großteil der Beschlussbegründung widmet sich diesen naturwissenschaftlichen Fragen, ohne die Breite des wissenschaftlichen Diskurses hierüber zu berücksichtigen.

Es ist nicht verwunderlich, dass die obersten Juristen der Republik auf diese Fragen wenig ausgewogene Antworten fanden. Sträflich ist, dass sie sich überhaupt zur Partei in einer sehr kontroversen naturwissenschaftlichen Debatte gemacht haben, die noch in vollem Gange ist. Hier hat sich das Bundesverfassungsgericht zu viel zugemutet und zu einseitig positioniert, und es hat aus einer eingeschränkten Sicht auf naturwissenschaftliche Fragen rechtliche Konstrukte mit hoher politischer Relevanz geschaffen.

Gerade die Idee eines bezifferbaren und beschränkten und für die nächsten Jahrzehnte unveränderten CO2-Budgets leitet die Argumentation des BVerfG in weiten Teilen an: Wenn die erlaubten CO2-Emissionen national absolut beschränkt seien, dann dürfe nach dem Ablauf der Beschränkung keine weitere Tonne davon freigesetzt werden, weil die Welt ansonsten allein durch die CO2-Emissionen von Deutschland unmittelbaren großen Schaden erlitte. Daher müssten mit Verbrauch des nationalen CO2-Budgets sämtliche Freiheitsrechte der dann lebenden Generation in Deutschland drastisch eingeschränkt werden.

Erstaunlich ist, dass das Gericht sehr wohl die enormen Unsicherheiten der Bestimmung des CO2-Budgets festgestellt hat, gleichwohl verabsolutierte es das CO2-Budget als eine exakte Richtschnur politischen Handelns über Jahrzehnte. Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist das unzulässig, und es dürfte der bislang hohen Reputation des Bundesverfassungsgerichts nachhaltig schaden, dass es in diesem Fall so weit jenseits der eigenen Kompetenz geurteilt hat.

„…und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch […] die Rechtsprechung.“

Von Hans-Jürgen Irmer, CDU-MdB
"Unser deutscher Alleingang hilft dem Klima nicht"
 Am schwersten wiegt, dass das Bundesverfassungsgericht den eigenen Auftrag, den es vom Verfassungsgeber erhalten hat, übersieht. Zur Kontrollaufgabe des Gerichts gehörte die Prüfung der Frage, ob der Gesetzgeber die Regelungen des Klimaschutzgesetzes so normiert hatte, wie es den Erwartungen des Verfassungsgebers entsprach. Das Gericht hätte prüfen müssen, ob das Klimaschutzgesetz Maßnahmen definiert, mit denen Umwelt- und Klimaschutz tatsächlich erreicht werden kann. Als Rahmengesetz definiert es zwar Ziele, aber keinerlei Maßnahmen, sodass daraus keine konkreten politischen Handlungen abgeleitet werden können. Es ist unverständlich, dass das BVerfG die Zieltauglichkeit des Klimaschutzgesetzes mit keinem Wort erwähnt hat.

Die Ignorierung der Frage der ‚Zieltauglichkeit‘ zieht sich übrigens wie ein roter Faden durch die energiepolitische Debatte der vergangenen drei Jahrzehnte. Wir werden darauf noch zurückkommen.

Abwägung der Verhältnismäßigkeit nach der Verfassungspraxis

Das Bundesverfassungsgericht hat es versäumt, die Verhältnismäßigkeit des Klimaschutzgesetzes umfassend zu prüfen. Dazu hätte es erstens untersuchen müssen, ob Klimaschutz überhaupt aus dem Umweltschutzgebot des Grundgesetzes abgeleitet werden kann.

Zweitens hätte überprüft werden müssen, ob die eingesetzten Maßnahmen der Politik, also namentlich der Ausbau der Umgebungsenergien, geeignet, erforderlich und angemessen sind, einer Klimaerwärmung entgegenzuwirken, und in welchem konkreten Umfang dies erreicht werden kann, und ob nicht die Schädigungen der natürlichen Lebensrundlagen durch diese Techniken überwiegen. In die Prüfung der Angemessenheit würde auch die Frage fallen, wie sich die von der Bundespolitik verfolgte Energiepolitik auf Versorgungssicherheit, das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht, den Sozialstaat, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung auswirkt.

Nichts davon hat das Bundesverfassungsgericht „erledigt“. Es wäre sehr zu wünschen, dass das Parlament, die Bundesregierung oder eine der Landesregierungen von selbst darauf kommen, im Wege einer abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 GG diese Fragen endlich systematisch zu untersuchen.

Alternativen nicht geprüft

Generell hat das BVerfG in seinem Beschluss die Komplexität im Zusammenspiel zwischen einem nur global lösbaren Problem und rein nationalen Lösungen deutlich unterschätzt. Deutschland stößt pro Jahr etwa so viel CO2 aus wie durch das durchschnittliche weltweite Wachstum jährlich an CO2-Emissionen hinzukommt. Dies ist sicher keine Entschuldigung für Nichtstun. Die Lösungsansetze müssen aber belegbar auf globaler Skala Wirksamkeit zeigen und Perspektiven für die Weltgemeinschaft eröffnen.

Ziele zu setzen ist nicht genug, der Gesetzgeber muss auch sinnvolle Maßnahmen definieren. Beispielsweise könnten durch Forschungsförderung hierzulande technische Lösungen erarbeitet werden, mit denen weltweit fossile Rohstoffe möglichst kosteneffizient ersetzt werden könnten und damit globale CO2-Emissionen vermindert werden. Dies ist möglich, wenn diese technischen Lösungen effektiver und preisgünstiger sind als der Einsatz von Kohle, Öl und Gas. Ansätze hierfür gäbe es, nur müssten sie technologieneutral und ohne Tabus, also unter Einschluss aller denkbaren Lösungen entwickelt werden.

Unterkomplexe Entscheidungsprozesse führen auf eine schiefe Ebene

Merkels Wort »Klimaleugner« muss alarmieren
»Klimaschutz« als Generalvollmacht gegen Recht und Freiheit
Dass die Europäische Zentralbank die Fragen nach der Verhältnismäßigkeit bei der Verabschiedung des Anleihekaufprogramms PSPP nicht sorgfältig untersucht hat, hat das BVerfG im Mai 2020 als „totalen Abwägungsausfall“ bezeichnet und entsprechend gerügt. Zudem hat es den EuGH der „ultra vires“-Entscheidung bezichtigt, also dem Gericht die Kompetenz abgesprochen, in bestimmten Fragen zu urteilen.

Diese Maßstäbe legt das Bundesverfassungsgericht aber offensichtlich nicht an sich selbst an, und begibt sich damit auf eine schiefe Ebene, von der es schwierig werden wird, wieder auf festen Boden zurückzukommen.

Der Beschluss zum Klimaschutzgesetz grenzt an eine ultra-vires-Entscheidung, weil sich hier ein Gericht in eine komplexe wissenschaftliche Debatte begeben hat, ohne hierfür gerüstet zu sein. Bedenklich wäre, wenn der Gesetzgeber diesen handwerklich bedenklichen Beschluss zur Grundlage für eine übereilfertige Entscheidung nehmen würde.

Um einen Pfad in der Klimapolitik einzuschlagen, der mit den sich ständig ändernden naturwissenschaftlichen, technischen, ökologischen, volkswirtschaftlichen und verfassungsmäßigen Zielen, Einschränkungen und Notwendigkeiten in Einklang steht, bedarf es einer sorgfältigen Güterabwägung unter Einbeziehung aller – auch kontroverser – wissenschaftlichen Ansätze in allen relevanten Disziplinen. Ein Schnellschuss in einer Frage, die die Lebensumstände aller Bürger auf Jahrzehnte hinaus entscheidend beeinflussen wird und deren Effizienz weder national noch global quantifiziert oder gar belegt wäre, würde der Größe der Herausforderung nicht gerecht.


Der Physiker Dr. Björn Peters ist Ressortleiter Energiepolitik und Vorstandsmitglied des Deutscher Arbeitgeberverband e.V. in Mainz-Kastel.

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