Tichys Einblick
Wer sind Steinmeiers „Landsleute“?

Weihnachts- und Neujahrsansprache: Ohne „Deutsche“

In Deutschland ging das politische Jahr mit der Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten und der Neujahrsansprache des Bundeskanzlers zu Ende. Die Botschaft beider Ansprachen richtete sich vor allem an das Staatsvolk, also die Deutschen, aber diese wurden – wie schon in den Vorjahren – auch 2022 nicht mehr beim Namen genannt.

IMAGO / Metodi Popow

Bundespräsident Steinmeier wandte sich in seiner Weihnachtsansprache mehrmals an die „lieben Landsleute“. Das klingt altväterlich: Unter „Landsleuten“ versteht man die Einheimischen einer Region oder eines Landes, hier: die deutschen Landsleute. Nun leben in Deutschland (Stand: 2022) 12 Millionen Ausländer, die keine Landsleute der Deutschen sind. Sollen sie auch angesprochen werden, muss man eine andere Anrede wählen, etwa „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger“. Diese Formel – die schon Bundeskanzler Kohl verwendete – benutzt auch Bundeskanzler Scholz in seinen Neujahrsansprachen. Allerdings ist sie sprachlich zweideutig: Das Wort Bürger bedeutet einerseits „Staatsbürger“, andererseits „Einwohner“ (unabhängig von der Staatsangehörigkeit). Will man diese Zweideutigkeit vermeiden und eindeutig alle im Land ansprechen, wäre eine mögliche politisch korrekte Anrede: „Liebe Menschen in Deutschland!“.

Aber so etwas sagt niemand. Noch; denn die Formulierung „Menschen in Deutschland“ ist – außer in der Anrede – politisch schon üblich. Zu den „Menschen in Deutschland“ zählen auch die Deutschen, mehr noch: sie bilden die große Mehrheit (72 von 84 Millionen Einwohnern). Trotzdem kommen sie in der Weihnachts- bzw. Neujahrsansprache der höchsten politischen Vertreter Deutschlands namentlich nicht mehr vor: „Ich bin stolz auf unser Land, in dem so viele Menschen anpacken“, sagte Scholz in seiner Neujahrsansprache, über die das ZDF (heute 31. 12. 2022) unter dem Titel berichtete: „Kanzler Scholz ruft die Menschen in Deutschland zu Zuversicht auf“.

Nun sind „die Menschen in Deutschland“ (insgesamt 84 Millionen) nicht ein beliebig austauschbarer Teil der Weltbevölkerung (8 Milliarden). Die meisten dieser Menschen betrachten sich als Angehörige einer geschichtlich geprägten Menschengruppe mit eigener Kultur, Sprache und politischer Organisation und nennen sich „Deutsche“. Wohl deshalb fasste die Süddeutsche Zeitung (31. 12. 2022) die Rede von Scholz folgendermaßen zusammen:

„Am Ende eines schwierigen Jahres hat Bundeskanzler Scholz die Deutschen zu Optimismus, Solidarität und Zusammenhalt aufgerufen.“

Warum bezeichnet Scholz in seiner Rede diese deutschen Menschen nicht als „Deutsche“ und macht sie zumindest an einer Stelle sprachlich „sichtbar“? Bei anderen Menschengruppen unterscheidet er obstinat nach Geschlecht und spricht von „Ukrainerinnen und Ukrainern“, „Ingenieurinnen und Ingenieuren“, „Soldatinnen und Soldaten“ usw. Aber ist die Geschlechtszugehörigkeit wichtiger als die nationale Zugehörigkeit?

Die Frage, warum in der Neujahrsansprache eines deutschen Bundeskanzlers keine „Deutschen“ vorkommen, könnte man auch der Vorgängerin von Scholz stellen. Der letzte Bundeskanzler, der die Deutschen beim Namen genannt hat, war Gerhard Schröder. In seiner Neujahrsansprache vom 31. Dezember 1999 sagte er den „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern“:

„Erstmals in unserer Geschichte haben wir Deutsche die Chance, ein neues Jahrhundert in einem in Frieden und Freiheit geeinten Land zu beginnen.“

Diese Chance sollten die Deutschen auch 2023 weiter nutzen.

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