Tichys Einblick
Thielemann in Dresden

Mehr Toleranz geht kaum noch

Als Schüler am Steglitzer altsprachlichen Gymnasium fiel Christian Thielemann durch »ungebührliches Betragen« auf, das er inzwischen als Kontrapunkt zu seinem »Wohlverhalten, wenn es um Musik ging«, ansieht. Heute bezweifelt kaum ein Kritiker die Brillanz des Chefdirigenten an der Dresdner Semperoper. Politisch bevorzugt er die leisen Töne, aber gelegentlich sagen Musik und Dramaturgie alles für ihn. Ein Portrait im einundsechzigsten Lebensjahr.

© Semperoper Dresden/Matthias Creutziger

Christian Thielemann ist ein streitbarer Geist. Der gerade noch sechzigjährige Dirigent, der seit nunmehr acht Jahren Chef der traditionsreichen Sächsischen Staatskapelle Dresden ist, sorgt ab und zu für Schlagzeilen, weil er wieder einmal nicht den Kompromiss, sondern das Richtige gesucht hat. So soll er Anna Netrebko für ihr »Lohengrin«-Debüt an der Semperoper eine ordentliche Aussprache des Deutschen verordnet haben. Die Primadonna wusste es zu würdigen, die Aufführung wurde in ihrer Mischung aus sängerischer »italianità« und korrekter Prosodie des Textes zum Wagner-Fest.

Im vergangenen Jahr endete das ruhmvolle Dauerengagement der Sächsischen Staatskapelle bei den durch Herbert von Karajan begründeten, ganz ohne staatliche Subventionen auskommenden Salzburger Osterfestspielen im Streit um die zukünftige Ausrichtung. Es war wohl eine Uneinigkeit zwischen dem Traditionalisten Thielemann und dem vom Theater herkommenden Intendanten und Ex-Schauspieler Nikolaus Bachler, der die Osterfestspiele künftig auch durch »Kleinspenden« (um die 10.000 Euro, das ist das Crowdfunding der High Society) finanzieren will und sich »theoretisch« sogar die Toten Hosen als Bühnengäste vorstellen kann. Wo sich aber solcher Zwist auftut, geht einer wie Thielemann lieber andere Wege und beginnt ab 2023 seine eigenen Osterfestspiele in Dresden, zunächst mit Werken von Richard Strauss als Schwerpunkt. Der Erfolg dürfte ihm auch dort gewiss sein.

Wagner liegt ihm besonders am Herzen. Den Posten als Musikdirektor der Bayreuther Festspiele, den er seit 2015 neben der Wagner-Urenkelin und Festspielleiterin Katharina innehat, legt Thielemann auch deshalb weit aus. Im Sommer 2016 »beriet« er den jungen lettischen Dirigenten Andris Nelsons so lange bei seiner »Parsifal«-Interpretation, bis dieser entnervt den Taktstock schmiss und die Bayreuther Premiere absagte. Die Akustik des Festspielhauses, das von außen ein bisschen nach Stadtsparkasse aussieht und innen diskret-bürgerlichen Wanderzirkus-Charme versprüht, gilt als eine der heikelsten. Insofern wird sich Thielemann herbeigelassen haben, Nelsons ein zweites Ohrenpaar zu sein. Auch darin zeigt sich seine Leidenschaft für die Kunst und ein absoluter Verzicht auf Lauheit. Am Ende wurde die »Parsifal«-Premiere dank des eingesprungenen Hartmut Haenchen doch noch zu einer Bayreuther Sternstunde.

Ein Preuße reüssiert bei den Wiener Philharmonikern

2018 dirigierte der gebürtige West-Berliner als erster deutscher Dirigent überhaupt das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, mit denen ihn ebenfalls eine besondere Beziehung verbindet. Die »leichte Muse« – in diesem Fall vor allem Werke der Wiener Strauß-Dynastie – ist dabei eine neuere Farbe in Thielemanns Spektrum. Dem sechzehnjährigen Christian hatte einst »der große Karajan« eine »Privataudienz« gewährt und ausgiebig von der »Lustigen Witwe« erzählt – der Halbwüchsige war damals »fassungslos, dass dieser große Mann mir mit Operetten kam«. Doch dem Edel-Walzer-Polka-Marsch-Konzert, das jedes Neujahr wieder Millionen vor die Fernseher bannt und den Wiener Musikverein zu Klein-Tokio werden lässt, stand Thielemanns ›preußische‹ Klarheit – die sich nicht zuletzt der Perfektion seiner Deutungen verdankt – nicht übel an. Inzwischen führt er in Dresden alljährlich eine Operette auf und glaubt: »Operette wird erst richtig gut, wenn sie auf einem hohen Niveau musiziert wird.«

Bekannt wurde Thielemann als tiefsinniger Interpret deutscher Komponisten. Da sind zunächst die drei großen Bs – Bach, Beethoven, Brahms –, die den Grundstock in Kirche und Konzert bilden und in vielerlei Hinsicht stilbildend für die deutsche Musik, ihre Strenge, Logik und Verinnerlichung wurden. Doch bei Thielemann geht diese Linie noch weiter, teilt sich in Linien und Unterlinien, vom musikdramatischen Tausendsassa Wagner über den wunderbar versponnenen, doch so architektonischen Bruckner und den heiß-kühlen Techniker Richard Strauss bis zum vergrübelten, wegen seiner politischen Einstellung umstrittenen Hans Pfitzner. Nun, als Chef an der Dresdner Semperoper, dirigiert Thielemann auch einmal eine Verdi-Premiere, so in diesem Frühjahr »Don Carlo«, Verdis große Oper über Gedankenfreiheit und die Liebe in Zeiten der Inquisition.

Der politische Abstinenzler äußert sich

Doch zuvor bringt er die »Meistersinger«-Produktion, die er 2019 in Salzburg mit den Dresdnern erarbeitet hat, an die Semperoper. Ende Januar ist Premiere. Die Erläuterungen Thielemanns zu dem Stück, das als zweite deutsche Nationaloper neben Webers »Freischütz« gilt, sind dabei von besonderem Interesse – vor allem im Kontrast zu seiner sonst gewahrten Zurückhaltung in politischen Fragen. Dabei ist der Dirigent durchaus am Zeitgeschehen interessiert. Die Tage seiner Bayreuther Engagements verbringt er nicht etwa mit den Partituren, sondern mit der Lektüre von Süddeutscher, FAZ, Tagesspiegel oder auch der Berliner Morgenpost, die er in seinem Berliner Idiom kurz die »Motte« nennt. Seine konservative Grundhaltung hat er nie versteckt, auch wenn das im Kulturbetrieb nicht immer gut ankam. So ist er längst nicht bereit, alles »Neue« in der Kunst, auch das Triviale, zu feiern: »Die Toleranz darf nicht so weit gehen, dass man nichts mehr schlecht finden darf, um nicht als altbacken zu gelten. […] Jahrzehntelang haben uns die Revolutionäre erklärt, dass man sich gegen alles Bestehende auflehnen soll, heute sind es die gleichen Leute, die den Zeitgeist zum Dogma erklären.«

Angesichts der Pegida-Demonstrationen auf dem Dresdner Opernplatz rief er dazu auf, den Demonstranten besser zuzuhören. Den Einzug der AfD in den Bundestag sieht er ambivalent: »Was ist falsch gelaufen, dass es passiert ist? Wie kann es sein, dass die Leute so aufeinander einstechen?« Immerhin sei damit die jahrelange Stagnation durch die »lähmende« politische Korrektheit vorbei. Die etablierten Parteien müssten nun »Position beziehen«. Zugleich hat Thielemann durchaus keine Lust, ein »engagierter« Künstler zu werden und seitenlange Interviews über seine politischen Vorlieben zu geben: »Was befähigt uns dazu? […] Ich überlasse die Politik gerne den Politikern. Ich hab das immer als fehl am Platz empfunden.« Tatsächlich wundert sich Thielemann aber, dass »auf einmal das Selbstverständliche politisch« sein soll, etwa dass man in einem Hotel in einer deutschen Stadt in der Landessprache begrüßt wird (das Gegenteil sei eine »Schludrigkeit sondergleichen«) und Kunstgeschichtsstudenten die deutsche Rechtschreibung beherrschen sollten.

»Die Meistersinger von Nürnberg«, oder: wie das Alte ins Neue integriert wird

Politisches lässt sich aber, trotz aller Abstinenz, auch in der Kunst finden – nämlich über den Umweg des Allzumenschlichen und Alltäglichen. In einem anlässlich der Salzburger »Meistersinger«-Premiere entstandenen Video-Interview fand Thielemann ebenso beziehungsreiche wie deutliche Worte für Wagners »große komische Oper«, in der es um einen jungen fränkischen Ritter geht, der mit unkonventionellen Melodien und Bauformen den altehrwürdigen Meistergesang der freien Reichsstadt Nürnberg erneuert. Wo die anderen Meistersinger – namentlich der Pedant Sixtus Beckmesser – dem Neuling mit Misstrauen begegnen, findet dieser bald die Unterstützung des größten und bedeutendsten unter ihnen, des historischen Hans Sachs.

Als erstes erklärt Thielemann die Figur des Außenseiters Beckmesser, der sich in seinem Festwiesenauftritt mit einem missglückten Plagiat vollkommen unmöglich macht. Die Szene darf man sich etwa so vorstellen wie Friedrich Merz bei seiner Bewerbungsrede um den CDU-Parteivorsitz 2018 (auch AKK hatte sich da ja wie Wagners Ritter die Protektion von Altmeisterin Merkel-Sachs gesichert). Doch Thielemann sieht diesen Beckmesser nicht bloß als Antipoden des strahlenden Helden, sondern als tragische Figur aus eigenem Recht: »Das ist ein Meister, also keine lächerliche Figur, aber er wird – denken Sie an Professor Unrat – durch widrige Umstände zur Witzfigur.« Komisch sei das »und auch ein bisschen tragisch zugleich«. Aber letzten Endes wird die Figur nicht etwa verstoßen, sondern wieder in den Kreis der Meister aufgenommen. Beckmesser bleibt »nach wie vor eine respektable Persönlichkeit«. Dieses differenzierte Verständnis der komischen Figur wird der Werkinterpretation sicher gut tun und alles Holzschnittartige zumindest in der musikalischen Gestaltung vermeiden.

»Also, mehr Toleranz kann man ja gar nicht aufbringen«

Als nächstes hebt Thielemann an Wagners Sachs hervor, wie der berühmte Meistersänger seine Standeskollegen zum Zuhören gegenüber dem Neuen aufruft. »Es wär’ besser, hörtet ihr besser zu«, weiß er Wagners Text aus dem Kopf zu paraphrasieren. Was Sachs da sagt, erkennt Thielemann als Plädoyer für eine echte Duldsamkeit im bürgerlichen Diskurs: »Nun hört doch erst mal hin, bevor ihr von Vornherein sagt, der ist nicht bei den Regeln. Also, mehr Toleranz kann man ja gar nicht aufbringen.« Am Ende verzichtet Hans Sachs zugunsten des »Neuankömmlings« sogar auf die junge Eva, die der Witwer – eine Figur der Mitte – anfangs noch selbst umworben hatte.

Auch die Schlussrede des Hans Sachs, die viel für ihren angeblich nationalistischen Gehalt gescholten wurde und wird, deutet Thielemann mit der Virtuosität eines Philologen als Bekenntnis zur Kunst und einer lebendigen Traditionspflege. Die gemeinhin inkriminierten, häufig sehr ungeschickt inszenierten Textzeilen lauten:

»Drum sag ich Euch:
ehrt Eure deutschen Meister!
Dann bannt Ihr gute Geister;
und gebt Ihr ihrem Wirken Gunst,
zerging in Dunst
das heil’ge röm’sche Reich,
uns bliebe gleich
die heil’ge deutsche Kunst!«

Der Hintergrund dieser Rede ist die politische Situation von 1862, als Wagner sein Textbuch schrieb. Der Komponist beklagt darin den »Zerfall« der deutschen Staatlichkeit und den daraus folgenden Mangel einer einigenden deutschen Nationalkultur. Insbesondere kritisierte Wagner die modische Übernahme italienischer und französischer Opern – von denen er trotzdem viel gelernt hat – an die deutschen Hofopern. Die volkstümlichen Meister von Alt-Nürnberg, die die Kunst schon immer und »grad recht nach ihrer Art« gepflegt haben, sind für ihn symbolische Gegenbilder zu dieser Elitenkultur.

Man darf hier wohl an die zwei großen Bs denken, die auch Wagner sehr verehrte, an Bach und Beethoven als Meister aus der bürgerlichen Basis des monarchisch organisierten Deutschlands. Von seinem Zeitgenossen Brahms hielt er bekanntlich wenig (»versteht keinen Spaß«, übt einen »muckerischen Einfluss auf den gebildeten Bürgerstand« aus).

»Spielen wir unsere Klassiker«

Thielemann weist zum einen darauf hin, dass der musikalische Akzent der zweiten Zeile auf »Meister« liege. Betont wird mithin der Kunstcharakter (»Verachtet mir die Meister nicht, und ehrt mir ihre Kunst!«). Zum anderen seien es in Nürnberg ganz selbstverständlich »deutsche Meister« gewesen, in Frankreich wären es eben französische gewesen. Den Sinn des Monologs fasst der Dirigent so zusammen: »Ihr seid genauso tolerant wie ich, wenn ihr wisst, wo ihr herkommt. Wenn ihr mit eurer Tradition selber in Ruhe lebt, dann seid ihr auch offen für das Neue.« Und dieses Neue werde freilich im Finale der Oper für alle sichtbar inszeniert: »Denn gerade hat der Außenseiter gewonnen, den am Anfang keiner wollte. Und lustigerweise sind auch alle damit einverstanden.«

Ein »Lehrstück des Benimms« sei Wagners komisches Musikdrama, die »perfekte Integrationsoper«. Was passe besser in unsere Zeit, schließt der konservativ denkende Dirigent sibyllinisch… Die Kunst mag er letzten Endes nicht in den Dienst der politischen Debatte stellen: »Es gefällt mir ganz und gar nicht, wenn Musik oder Musiktheater in den Dienst einer politischen Botschaft gestellt werden. Ich finde das ideenlos und armselig. Spielen wir lieber unsere Klassiker. Die sagen viel Kluges über das, was uns aktuell beschäftigt.« In diesem Sinne: Spielen und genießen wir unsere Klassiker und hören wir ihnen mit viel Offenheit für das Neue, das auch in ihnen steckt, zu.

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