Tichys Einblick
Großrazzia in der Reichsbürger-Szene

Was heißt hier eigentlich „Staatsstreich“

„Staatsstreiche“ kannte man in den letzten Jahren vor allem aus afrikanischen Ländern. Seit dem 7. Dezember 2022 wird das Wort auch auf Deutschland bezogen. Aber was bedeutet es? Eine sprachliche Analyse.

IMAGO / agefotostock

„Sicherheitskräfte vereiteln Staatsstreich“ titelte die Süddeutsche Zeitung (8. Dezember 2022) über eine Polizei-Aktion am Vortag. Aber wo rollten die Panzer der Putschisten? Nicht auf der Straße, sondern allenfalls im virtuellen Raum. Es wurde auch nichts im letzten Moment „vereitelt“, sondern lediglich eine lang geplante Razzia – „die größte Razzia aller Zeiten in Deutschland“ (Bild) – in einem bestimmten Milieu („Reichsbürger“) durchgeführt, wobei man bei 150 Durchsuchungen keine Waffenlager fand, sondern neben Schreckschusspistolen u. Ä. nur 1 (in Worten: eine) scharfe Schusswaffe.

Was bedeutet das Wort „Staatsstreich“? Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) definiert es als „plötzlicher, gewaltsamer Regierungswechsel in einem Staat, meist durch Träger hoher staatlicher Funktionen“, woraus folgt: Es putschen Generäle und führende Politiker, aber nicht einfache Soldaten oder Abgeordnete. Bei der „Riesenrazzia“ am 7. Dezember wurden 25 Personen festgenommen, darunter ein ehemaliger Oberstabsfeldwebel und eine frühere AfD-Bundestagsabgeordnete.

Wie läuft ein echter Staatsstreich ab? Es werden zunächst die Rundfunkanstalten und staatlichen Kommandozentralen besetzt. Laut SüZ wollten die Putschisten „erst im März, dann wohl Anfang September mit Waffengewalt in den Berliner Reichstag eindringen, Abgeordnete festnehmen und sie in Handschellen aus dem Plenarsaal führen“. Aber was hätte das – außer dem medialen Effekt – gebracht? Die politische Kommandozentrale Deutschlands befindet sich nicht im Reichstag, sondern im – viel besser bewachten – Bundeskanzleramt. Und ohne Beherrschung der Rundfunkanstalten (was offensichtlich nicht geplant war), würde ein Putsch lokal beschränkt bleiben.

Das Handschellen-Motiv ist übrigens keine Erfindung der (virtuellen) Putschisten. Es gehört zur Inszenierung von Herrschaft, und auch die Bundesanwaltschaft macht davon Gebrauch: Der angebliche Anführer des Putsches, ein 71-jähriger Prinz (den seine Familie als „verwirrten alten Mann“ bezeichnet), wurde nach seiner Verhaftung, flankiert von drei bewaffneten Polizisten, der Presse in Handschellen „zum Fototermin“ vorgeführt. Frage: Gibt es bei Festnahmen keinen Datenschutz, und woher wusste die Presse, wann der verhaftete Prinz das Gebäude verlässt?

„Die Verschwörung des Prinzen“ nennt der Münchner Merkur das Netzwerk der
vermeintlichen Putschisten. Nun ist seit Corona das Wort „Verschwörung“ in aller Munde und hat neue Wortzusammensetzungen (Komposita) hervorgebracht wie: Verschwörungserzähler Verschwörungsfantasie Verschwörungsgläubige
Verschwörungsideologe Verschwörungsmythos Verschwörungstheorie
Es ist also Skepsis angebracht bei „Verschwörungen“ aller Art.

Unter einem „Streich“ verstehen wir heute meistens eine „aus Übermut und Mutwillen begangene Handlung, durch die jemand geneckt, hereingelegt wird“ (DWDS). Ist der Staatsstreich 2022 in Deutschland – ähnlich wie ein Lausbuben- oder Studentenstreich – eine Posse des Staates, mit der die Bürger hereingelegt werden? Sprachsystematisch wäre das möglich, sprachgeschichtlich hat aber der Staatstreich eine ältere Bedeutung des Wortes „Streich“ bewahrt, nämlich „Hieb, Stich, Schlag“. Staats-streich ist ein Schlag gegen den bestehenden Staat und kommt in dieser Bedeutung erst seit der Revolution von 1848 vor, als Lehnübersetzung von französisch coup d’État.

Vorher war der Staatsstreich eine für den Staat gute Sache: Man verstand darunter bis ins 19. Jahrhundert einen politischen Überraschungsschlag, eine „Staatslist“; in einem einschlägigen Handbuch der „Staatsklugheit“ (1761) heißt es hierzu:
„Es gibt einzelne Fälle, wo zur Erhaltung des Staats und dessen Verfassung die ordentlichen Mittel nicht hinlänglich sind, und daher … außerordentliche Mittel ergriffen werden; diese werden „Staatsstreiche“ genannt.“

Fazit: War der Staatsstreich vom 7. Dezember ein (geplanter) „Staatsumsturz“, eine „Staatslist“ oder eine „Staatsposse“? Wie dem auch sei – ein Heldenstück war er sicher nicht.

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