Tichys Einblick
Politische Sprache

Solidarität – Was heißt das in Corona-Zeiten?

Das Wort Solidarität kam um 1800 aus dem Französischen ins Deutsche: als juristischer Begriff für „gemeinsame Haftung“. Heute sollen sich die Nicht-Geimpften „solidarisch“ mit den Geimpften zeigen, indem sie sich impfen lassen. Sprachlogisch ist das nicht.

Der Schlüsselbegriff zur politischen Bewältigung der Corona-Krise ist „Solidarität“. Zu Beginn der Pandemie, als der Schulunterricht eingestellt oder reduziert wurde, erklärte der Bundespräsident (23. Juni 2020): „Es ist an uns, den Älteren, Solidarität mit den Jungen zu zeigen, indem wir ihre Zukunft offenhalten.“ Nun, in der Diskussion um eine Impfpflicht, gilt „Impfen als gelebte Solidarität“ und wird als „Akt der Solidarität“ eingefordert – notfalls mit Zwang: „Solidarität erzwingen!“, titelte eine Zeitung. Aber passt das sprachlich zusammen: „Solidarität“ und „Zwang“?

Das Wort Solidarität kam um 1800 aus dem Französischen (solidarité) ins Deutsche, und zwar als juristischer Begriff für „gemeinsame Haftung“; in Ausdrücken wie Solidarhaftung (bei Ehegatten, Mietverträgen u. Ä.) oder Solidarschuld(ner) ist diese fachsprachliche Bedeutung noch heute erhalten. Solidarität ging bald in den allgemeinen Sprachgebrauch über und nahm die Bedeutung „Zusammengehörigkeitsgefühl, Verbundenheit, gegenseitige Hilfsbereitschaft“ an. In diesem Sinne schrieb im europäischen Revolutionsjahr 1848 die Neue Rheinische Zeitung (Chefredakteur Karl Marx): „Wir wollen eine Solidarität der freien Völker!“. Für die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts war „Solidarität“ ein zentraler Programmpunkt, der dann, hauptsächlich im 20. Jahrhundert, auf nationaler Ebene im Aufbau des „Sozialstaates“ umgesetzt wurde.

Was bedeutet die traditionelle Wertevokabel Solidarität im heutigen Sprachgebrauch? Das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) gibt folgende, ausführliche Definition des Wortinhaltes:

„auf das Wissen um gemeinsame Interessen und Ziele oder das Zusammengehörigkeitsgefühl sich gründendes Zusammenhalten von Personen und Personengruppen und ihr Eintreten füreinander sowie die darauf beruhende gegenseitige Unterstützung“

Wenden wir diese Definition auf die Solidarität bei der Corona-Impfung an. Wir haben es mit zwei Personengruppen zu tun: Geimpfte und Nicht-Geimpfte. Wissen diese Gruppen, dass sie „gemeinsame Interessen und Ziele“ haben? Nein, und es besteht zwischen ihnen auch kein „Zusammengehörigkeitsgefühl“. Nun sollen sich die Nicht-Geimpften „solidarisch“ mit den Geimpften zeigen, indem sie sich impfen lassen. Sprachlogisch ist das nicht.

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Solidarität kennt viele Abstufungen: Von der „uneingeschränkten“ und „starken“ Solidarität über die „kritische“ bis zur „(sehr) schwachen“ Solidarität: Die Nicht-Geimpften müssen uneingeschränkt solidarisch sein (man kann sich nicht „ein bisschen“ impfen lassen), zwischen den verschiedenen Interessen von Geimpften und Nicht-Geimpften gibt es also keinen Kompromiss. Sachlogisch können diese beiden Gruppen an sich keine Solidarpartner werden.

Die politische Logik muss der sprachlichen und sachlichen allerdings nicht folgen. Nimmt man den Standpunkt ein, Geimpfte und Nicht-Geimpfte hätten ein „gemeinsames Interesse“, nämlich die Pandemie zu beenden, und das beste Mittel hierzu sei die allgemeine Impfpflicht, dann kann man diese auch als Akt der Solidarität „verstehen“ – tatsächlich aber missverstehen oder falsch verstehen.

Dass „Solidarität“ nicht richtig verstanden wird, kommt übrigens häufiger vor: Google bringt unter dem Suchbegriff „falsch verstandene Solidarität“ insgesamt 5.070 Einträge (Stand: 24. März 2022). Im Falle der Corona-Impfpflicht verstehen die Regierenden unter „Solidarität“ offensichtlich „Gehorsam“ – ein Gehorsam, den zwar Untertanen schuldig sind, aber nicht freie Bürger.

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