Tichys Einblick
Eine neue "Lost Generation"

Mutter Corona und ihre Kinder

Die Corona-Krise hat eine „Lost Generation“ hervorgebracht – das gilt für Kinder wie Erwachsene. Die Verbitterung unter Zero-Covid-Jüngern ist groß. Andere fordern einen Tag der Abrechnung. Selbst mit einem Ende aller Maßnahmen ist die Radikalisierung unvermeidlich und wird uns noch Jahre beschäftigen.

John William Waterhouse, Pandora.

IMAGO / UIG

Die Lauterbachs dieser Welt kommen und gehen. Wie lange der Gesundheitsminister im Amt bleibt, spielt keine Rolle. Das galt und gilt auch für seinen Vorgänger Jens Spahn, ja, sogar für Angela Merkel. Was bleibt, das sind die Schäden, die Risse, die Trümmer. Und diese Trümmer sind eine Hypothek, die Deutschland und Europa noch jahrelang, möglicherweise jahrzehntelang beschäftigen werden. Zwei Jahre Corona-Maßnahmen gehen nicht an Seele und Gemüt vorbei.

So schwer die Vermögensverluste wiegen, so schlimm die Existenz von Millionen Menschen materiell erschüttert wurde: Ein Haus kann man wieder aufbauen, eine Firma neu gründen, mit weniger im Leben zurechtkommen. Wer aber kann beispielsweise sagen, was dieser Ausnahmezustand für Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche hat, was es für ihre geistige Entwicklung bedeutet? Darin liegt der Kern der eigentlichen „Long Covid“-Folgen.

Wenn Trümmer beseitigt werden, sind Trümmerleichen nicht fern. Sie tauchen nun immer häufiger auf. Eine britische Studie hat gestern angedeutet, worauf es hinausläuft: Vorschulkinder mit Problemen, Gesichter zu lesen, Sprachfähigkeiten aufzubauen, Laufen zu lernen oder sich anzuziehen. Und was ist mit den Erstklässlern, deren erste Bekanntschaft mit der Schule stundenlanges Maskentragen war? Haben wir uns eine eigene „Lost Generation“ herangezüchtet, ohne es noch zu wissen?

Dass wir nur ahnen können, wie die postcoronale Welt ausschaut, liegt auch daran, dass man eine solche Welt nicht denken wollte. Wenn aber die Frage auftauchte, dann nur im Gewand von Klimafantasien, Social-Credit-Alpträumen oder besitzlosen Utopien. Die neue Welt durfte nicht die alte sein. Doch der Alltag ist banal, und die neueste Normalität wird der alten mehr gleichen, als es die Apologeten einer neuen Ordnung wahrhaben wollen. Doch es ist eine oberflächliche – und je nach Lage im Herbst – vorläufige Normalität. Was bleibt: Konditionierung, größere Bereitwilligkeit zu Einschnitten, Apathie gegenüber politischen Entscheidungen. Und vor allem: unregulierte Emotionen, die mit der neuen, alten Situation nicht mehr zurechtkommen.

Teile der Gesellschaft sind nach Corona nicht reintegrierbar

Die Medien haben im letzten Jahrzehnt viel von den „Abgehängten“ in der Gesellschaft geschrieben. Dazu gehörte dann auch gerne mal der erfolgreiche Mittelständler aus Thüringen, weil er sich gegen die Ansiedlung von Migranten aussprach, weil niemand wusste, woher diese Leute kamen und wer sie wirklich waren. Freilich: Es gibt ressentimentgeladene, intolerante Hinterwäldler, aber sie leben nicht nur in der ostdeutschen Provinz, sondern auch mitten in Berlin, Freiburg und Leipzig. Ihnen ist gemein, dass sie keine Lebensart gelten lassen außer ihrer eigenen.

Die Politisierung des Corona-Geschehens trifft uns noch einmal mit voller Wucht. In der Vergangenheit sah man vor allem in der tatsächlich sich erweiternden Verschwörungsszene ein Problem. Wer kann Leute reintegrieren, die QAnon folgen, an eine hohle Erde (inklusive unterirdischen Kindergefängnissen) glauben oder davon überzeugt sind, die Wiedererrichtung des Kaiserreichs von 1871 stehe vor der Türe? Trotz der von den Medien gewollten Vermischung dieses absonderlichen Typus mit gewöhnlichen Maßnahmekritikern darf man nicht vergessen, dass eine solche Szene mit hunderttausenden Mitgliedern weiter existiert. Doch die Herausforderung, die jetzt vor der Türe steht, hat eine ganz andere Dimension.

Denn anders als das Lager der absonderlichen QAnon-Anhänger und Reichsbürger stehen die Zero-Covid-Apologeten in der Mitte der Gesellschaft und haben als Influencer im Internet eine enorme Reichweite. Während Verschwörungsnutzer die großen Social-Media-Dienste kaum in aller Öffentlichkeit bespielen, posaunen sie ihre kruden Ansichten in alle Welt. Da ist etwa Jasmin Kuhnke, die als „Quattromilf“ bekannt wurde und knapp 140.000 Follower besitzt. Mit missionarischem Eifer tippt sie in die Tasten: „Fallen der Maskenpflicht und freiwillige Quarantäne für Erkrankte: Das potenzielle Todesurteil für Millionen Menschen die der Risikogruppe zugeschrieben werden!“

Zero-Covid-Anhänger sehen sich um ihren Sieg betrogen

Auch Sebastian Hotz, enger Mitarbeiter des ZDF-Moderators Jan Böhmermann für das „Neo Magazin Royale“, treibt sein Unwesen als „El Hotzo“ mit rund 350.000 Followern. Er schreibt: „keine Impfpflicht, Abschaffung Maskenpflicht, keine Quarantäne mehr, tbh lässt sich die Politik von Karl Lauterbach nicht von der eines überzeugten Coronaleugners unterscheiden.“

Damit sind wir am Punkt angelangt: Die Zero-Covid-Anhänger sind sauer auf Lauterbach. Er ist nicht radikal genug, nimmt uns nicht genügend in den Schwitzkasten, hat der FDP nachgegeben. Das sind noch die vornehmsten Äußerungen. Eine Hasswelle, die sich sonst nur gegen Corona-Leugner wirft, erfasst nun den Gesundheitsminister. Es ist eine überbordende Gewalt. Dahinter steckt ein seit zwei Jahren gewachsener Reflex. Wer Maßnahmen fordert, steht auf der moralisch richtigen Seite. Wer Lockerungen will, ist ein unverbesserlicher Menschenfeind.

Eine solche konditionierte Denkweise gleicht einem trainierten Pawlow’schen Hund. Er hat gelernt, bei jeder Maßnahmeforderung ein moralisches Tugendleckerli zu bekommen. Den Reflex abzulegen fällt schwer. Weil Corona keine medizinische, sondern eine politische Grundlage hat, darf die Pandemie nicht enden. Es wäre schlicht so, als gäbe es plötzlich keine Migranten mehr, deren Aufnahme man einfordern könnte. Genau das will man in der Blase nicht wahrhaben.

Wer nun einwirft, dass soziale Medien keine Rolle spielten, der hat sich gehörig geirrt. Denn Lauterbachs Herumlavieren bei der Quarantänepflicht ist ohne die Empörung, die sich in den eigenen Reihen der postkommunikativen Unterstützer etabliert hat, kaum zu erklären. Lauterbach bezieht seine Rückendeckung nicht nur aus Talkshows, sondern auch aus jenem Lager, das mit #WirWollenKarl nur zu gerne als Aufhänger der Medien genutzt wurde, um die überwältigende Zustimmung für den Dürener zu beweisen. Kurz gesagt: Ohne den Twittermob läuft nichts.

Die Regierung wird auch in Zukunft von der öffentlichen Meinung vor sich hergetrieben

Das Milieu bildet die Speerspitze einer in Deutschland weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe, die sich trotz fehlender gesetzlicher Vorgaben weiterhin zur Maske bekennt. Dahinter mag nicht nur moralischer Impetus, sondern auch eine über Jahre gefütterte Angst stecken. Was auch immer der Grund dafür ist: Es zeigt die tatsächlichen Folgen und Schäden. Und es ist nicht abzusehen, was passiert, sollte eine Epidemie in Zukunft neuerlich Deutschland heimsuchen, etwa eine heftige Grippewelle mit zehntausenden Toten, wie sie in manchem Jahr üblich war. Welche Reflexe wird es auslösen, welche unterbewussten Erinnerungen abgerufen?

Die Regierung muss dazu nicht einmal Beschränkungen verhängen. Sie wird darum angefleht, Maßnahmen durchzusetzen. Wer immer nur die Regierung als Problem ansieht, übersieht die Zwänge, die in einem demokratischen System gelten: Die öffentliche Meinung, die (gefühlte) Majorität hat die größte Macht, bis zuletzt alle ihr folgen. Tocqueville hat dazu gesagt: „Solange die Mehrheit ungewiss ist, redet man; hat sie aber unwiderruflich gesprochen, verstummt jeder, und Freund wie Feind scheinen sich einmütig vor ihren Wagen zu spannen.“

Die Welt kann wieder normal werden, aber die Menschen von 2022 sind eben nicht mehr die Menschen von 2019. Auch das sind Trümmer: keine Trümmerexistenzen, aber doch Schäden mit Langzeitfolgen, bar jeder Corona-Erkrankung. In einigen Belangen ähneln die Kinder Coronas den Anhängern von Extinction Rebellion.

Auch die andere Seite darf man nicht vergessen. Denn nicht nur die Radikalisierung der Zero-Covid-Jünger, die sich von Lauterbach verraten und an die Pandemie „ausgeliefert“ sehen, erreicht eine Rekordhöhe. Gestern trendete das Hashtag #IchHabeMitgemacht. Der Verrat spielt auch hier eine große Rolle, aber eben in die andere Richtung: Wer war für das Chaos, für die Einschränkungen, für die Berichterstattung verantwortlich? Innerhalb weniger Stunden erschienen mehr als 50.000 Tweets zum Thema.

Hashtag #IchHabeMitgemacht: Der Wunsch nach Abrechnung

Das Schema: User posten die Aussagen von Persönlichkeiten, die nicht vergessen werden sollten. Es ist das Gegenteil der Ansage von Ex-Gesundheitsminister Spahn, man werde einander später viel vergeben müssen. Im Gegenteil tönt es im Chor: kein Vergeben, kein Vergessen, nie wieder. Einige Nutzer erstellen Listen von Prominenten, die sich abfällig über Ungeimpfte oder Kritiker äußerten, Beleidigungen, Überzeichnungen, Provokationen oder unverhältnismäßige Aussagen. Dazu gehören auch anvisierte Strafen oder Verordnungen.

Einen Tag nach der offiziellen Aufhebung der Maskenpflicht in weiten Teilen des Landes folgt eine Abrechnung mit den Gesichtern der Corona-Krise. Alle Bekannten bekommen ihr Fett weg: ob Boris Palmer oder Sarah Bosetti, Eckhart von Hirschhausen oder Nikolaus Blome, Winfried Kretschmann oder Michael Kretschmer, Bento oder Tagesthemen, Ethikrat oder RKI, Ulrich Montgomery oder Christian Drosten – es ist eine Abschlussparade, die in vielen Teilen beängstigende Parallelen zu einem Pranger aufweist.

Beiden Gruppen ist gemein, dass Corona ohne Finale endet. Es entschwindet leise im Hintergrund, während Inflation, Lebensmittelkrise, Ukraine-Krieg und drohende Rezession den Sound bestimmen. Es gibt keinen Endsieg und eine totale Auslöschung; aber es wird auch keine vollumfängliche Aufklärung oder „Abrechnung“ mit den Verantwortlichen geben. Das lässt Ohnmacht und Wut zurück, auf beiden Seiten. Was bleibt, ist eine psychische wie emotionale Aufwühlung, die uns noch lange begleiten wird. Die Akte Corona wird nicht Aufgabe von Aktivisten oder Juristen, sondern von Historikern.

Das ist bitter. Für einige so bitter, dass sie die Gesellschaft noch lange Zeit destruktiv begleiten werden. Wie das leider mit verlorenen Generationen in der Geschichte so ist.

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