Tichys Einblick
Klassentreffen von gestern

Salzburg hören – und sterben

Die Festspiele in der Stadt der Mozartkugeln gelten als das Hochamt abendländischer Kultur. Doch wer in diesem Jahr dabei ist, fragt sich: warum eigentlich? Und vor allem: wie lange wohl noch?

IMAGO / Manngold

Bitte, verstehen Sie das nicht falsch: Ich mag Österreich, wirklich. Vor zwei Jahren bin ich als reifer Mittfünfziger völlig freiwillig ins Salzburger Land gezogen, weil ich meine Heimatstadt Berlin einfach nicht mehr ertragen habe. Und es ist schön hier, ehrlich.

Nur darf man nicht den Irrtümern und Vorurteilen erliegen, die man als germanischer Bundesrepublikaner so hat über die „Ostmark“ (ein Scherz, bitte). Wer glaubt, Österreich sei doch eigentlich wie Deutschland, nur kleiner – der wird sehr schnell eines Besseren belehrt.

Oder eines Schlechteren, je nach Perspektive.

Die Österreicher sind ein kleines Bergvolk. Das ist keine Binse, sondern elementar für das Verständnis des Staates und der Gesellschaft. Hier sind die Wege kurz, nicht nur physisch, sondern auch sozial. Das Land ist politisch und kulturell völlig anders als das zehnmal größere Deutschland.

Österreich kultiviert einen permanenten Phantomschmerz über den Verlust einstiger Bedeutung. Aber niemand mag sich immer nur schlecht fühlen. Also überhöhen die Österreicher die wenigen verbliebenen nationalen Denkmäler von Weltgeltung zu Heiligtümern: die Wiener Philharmoniker zum Beispiel, die Spanische Hofreitschule, den Opernball.

Und natürlich die Salzburger Festspiele.

Da hat eben gerade Daniel Barenboim mit seinem „West-Eastern-Divan Orchestra“ gastiert. Es gab Beethovens Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 C-Dur (op. 15), mit Igor Levit als Solisten – und die Symphonie Nr. 2 D-Dur (op. 73) von Brahms.

Wer es für möglich hält, dass unsere westliche Kultur dem Untergang geweiht sein könnte, dem hat dieser Abend ganz jenseits der Musik einige Gründe und neue Argumente geliefert.

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Österreich ist nicht zuletzt bekannt für das gute Essen, und zwar absolut zurecht. Laut Volksmund gibt es aber zu jeder Regel eine bestätigende Ausnahme.

Das sind die Salzburger Festspiele.

Hier folgt die Verpflegung dem recht unösterreichischen Prinzip von minimalem Angebot bei maximalen Preisen. Für ein kleines Glas Champagner (0,1 l) blecht man 11,- Euro. Eine nicht mal handtellergroße Scheibe Weißbrot mit einer homöopathischen Menge Lachs obendrauf kostet 6,- Euro. Aber auch, wenn man unverschämt viel für unverschämt wenig ausgeben will, muss man sich sehr beeilen: Denn der Vorrat ist nicht nur inhaltlich, sondern auch mengenmäßig stark begrenzt.

Anders: Das Allermeiste ist schon vor Konzertbeginn aufgegessen.

Nicht nur der Preisbewusste bleibt also bis zum Konzertende hungrig und will dementsprechend nach der genossenen Kunst meist gerne auch noch irgendwo einkehren und ein Abendessen genießen. Die Lokale der Stadt haben bis allerspätestens um 22.00 Uhr warme Küche. Das ist misslich, weil das Konzert ziemlich genau zur selben Minute endet. Die wenigen Restaurants, die um diese Zeit doch noch Gäste zulassen und sogar etwas servieren, sind schon Wochen vor den Festspielen ausgebucht.

Man kann wirklich gut essen in Salzburg – sofern man nicht gerade die Festspiele besucht.

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Salzburg ist nicht Wien. Die Menschen hier sind tatsächlich freundlich und hilfsbereit – ganz anders als die chronisch grantelnden Ösi-Hauptstädter. Aber den berüchtigten Wiener Schmäh beherrscht man auch hier fließend, wenn’s passt.

Oder wenn die Salzburger es passend finden.

Daniel Barenboim ist mittlerweile 80 und nicht mehr gut zu Fuß. Er dirigiert zwar noch aus dem Kopf, ohne Partitur – aber im Sitzen. Und wenn er die Bühne betritt oder verlässt, sieht das doch unschön wackelig aus. Das ermuntert Zuschauer, die erkennbar derselben Generation angehören wie der Dirigent, zu typisch österreichischen Dialogen:

„Der Barenboim kann sich ja kaum noch auf den Beinen halten.“
„Er ist halt alt.“
„Oder betrunken.“
„Oder beides.“
„Ah, geh’…“

Gelächter ringsum.

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So fies wie die Witze sind, so mies ist die Akustik.

Wen wundert’s? Das Große Festspielhaus wurde dereinst als Pferdestall errichtet. Danach war es eine Kaserne, dann ein Museum. Erst in den 1950er-Jahren wurde es zum Konzertsaal umgebaut. Dafür wurden mal eben 55.000 Kubikmeter des städtischen Mönchsbergs abgetragen.

Bei seiner Bautätigkeit orientiert sich das kleine Land bis heute unverändert an seiner großen Geschichte als österreichisch-ungarische k.u.k.-Doppelmonarchie.

Da, wo er seine Berechtigung haben könnte, sucht man den Sissi-Prunk leider vergeblich. Es gibt keine karge Bühnendekoration, sondern gar keine. Also, im Wortsinn: nichts. Keine Blume, kein Bild, keine Projektion auf die nackten hässlichen Wände, kein Farbtupfer irgendwo. Man ist geneigt, das als demonstrativ lieblos zu empfinden. Oder als passiv-aggressive Missachtung des Publikums.

Und das Licht, mein Gott, das Licht … Die Bühne ist ganz ordentlich ausgeleuchtet. Aber im gesamten Zuschauerraum bleibt es das gesamte Konzert über gleißend hell. Das schafft eine Atmosphäre wie … Nein, falsch: Es schafft überhaupt keine, sondern es verhindert jede Atmosphäre.

Man kommt auf den Gedanken, dass die Festspiele sich das Ziel gesetzt haben, Musikkunst nicht nur nicht systematisch, sondern systematisch nicht zu inszenieren.

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Das hat – zusätzlich zu den rundum gesalzenen Preisen – einen spürbaren Effekt auf die Demografie der Veranstaltung.

Bei den Berliner Philharmonikern, immerhin einem der anerkannt besten Klangkörper der Welt, sind regelmäßig ziemlich viele Junge im Publikum. Neureiche und Erben auf den teuren Plätzen, aber auch viele nicht so gut betuchte Musikstudenten. Für die hält die Philharmonie zumindest immer günstige Plätze am Rand vor.

Die Salzburger Festspiele dagegen sind eine einzige große Ü50-Party.

Weiß ist die absolut dominante Farbe. Also, nicht bei den Anzügen und Kleidern, sondern bei den Haaren: Vom Rang aus schaut man auf ein gigantisches silbrig-graues Meer im Parkett. Keine jungen Leute, nirgends – außer im Orchester. Salzburg hat mit dem Mozarteum eine international renommierte Kunsthochschule und entsprechend auch viele Musikstudenten. In der Stadt begegnet man ihnen andauernd.

Bei den Festspielen begegnet man ihnen gar nicht.

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Die Salzburger Festspiele gibt es seit 1920. Zuletzt zählte man in den sechs Wochen, die sie jeweils dauern, 250.000 Besucher in den 200 Theater-, Opern- und Konzertaufführen. Kein Grund zur Sorge also.

Oder vielleicht doch?

Was sagt das aus über das angeblich „weltweit bedeutendste Festival der klassischen Musik und darstellenden Kunst“ (Wikipedia), wenn es so abgestumpft-routiniert, rüde merkantilistisch und grenzwertig seelenlos abläuft?

Wie zukunftsfähig ist das selbsternannte Hochamt der abendländischen Kultur, wenn es sich – konsequent und durchaus mit einigem Aufwand – weiträumig gegen die Teilnahme von Menschen unter 50 abschottet und eher wie ein Gerontokratie-Kongress wirkt denn wie ein Treffen, auf dem die Kunst gefeiert wird?

Was an den Salzburger Festspielen ist wirklich noch ein Fest?

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Übrigens, falls es noch wen interessiert: Die Musik war schön.

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