Tichys Einblick
Tatort „Borowski und die grosse Wut“:

Spiel mir das Lied vom Trauma?

Die Krimireihe bedient mal wieder ein Narrativ: die Familie wird zum "Abgrund", in dem die schlimmsten Gefahren lauern.

© NDR/ARD/Thorsten Jander

Zunächst kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier eines der besten Zugpferde der Krimireihe (Axel Milberg als Klaus Borowski) wieder mal vor den Karren eines speziellen Narrativs gespannt werden soll. Dass hier der „Abgrund Familie“ (Pfleger Ömer, gespielt von José Barros, über die Familienverhältnisse eines Verdächtigen) in den gruseligsten Perspektiven ausgeleuchtet werden soll. Denn, so Autorin Eva Zahn auf der Webseite der ARD, „Ausbrüche von Gewalt“ seien da „…natürlich besonders spannend“, in diesem „…System“, das „vom Anspruch her auf Liebe und Zuneigung fusse…“ und „in unserer Gesellschaft gerne als Hort von Geborgenheit und Sicherheit gesehen werde…“.

Die Realität, so Zahn weiter, sei „leider oft eine andere. Die schlimmste Gefahr für Kinder und auch für Frauen lauert in der Familie.“ Für das Spektakel, so erfährt man im „behind the scenes“ (Klingt so viel aufregender als: „Hinter den Kulissen“) hat die ARD extra ein ausrangiertes Schulgebäude (Anm: offenbar gibt es in Schleswig-Holstein davon genügend) zum Krankenhaus umgebaut. Das sieht auch gar nicht mal schlecht aus, was ahnen lässt, wie teuer der Dreh gewesen sein muss. Der beginnt, Messermord inklusive, in bedenklicher Nähe zu vielen aktuellen Schlagzeilen. Zu „unerklärlichen“ Gewaltakten, die „aus dem Nichts“, manchmal sogar von Kindern verübt werden. Genau da scheint das Drehbuch aus der Feder der Grimme-Preisträger Zahn mit deren Sicht der Dinge anknüpfen zu wollen: „Uns beschäftigt oft die Frage: Wann wird ein Opfer zum Täter…die fundamentale Frage, wie viel Eigenverantwortung jemand hat, der selber Opfer war und dann zum Täter wird…“ es gehe „.um die Wucht traumatischer Erfahrungen. Wie gehen Menschen mit ihren Traumata um, und wie reagiert die Umwelt auf sie? Sehr oft fehlt es an Verständnis und Toleranz für Menschen mit Trauma-Erfahrungen, sie sind „schwierig“, überfordern ihre Nächsten, provozieren oft Widerspruch und Ablehnung. Und dieses permanente Gefühl, nicht liebens „wert“ zu sein, kann irgendwann in Gewalt umschlagen. Gegen sich selbst oder…auch gegen andere.“

Ohne Anlass oder Motiv wird eine Radlerin, Mutter von zwei Kindern, von einer Hoodie-tragenden Teenagerin (Caroline Cousin) vom Radweg auf die stark befahrene Strasse gestossen und so getötet. Hauptkommissar Borowski wird kurz nach den alleine an einer Berufsschule in der Nähe begonnenen Ermittlungen – Kollegin Mila Sahin (Almila Bagriacik) hatte sich zum Boxtraining verabschiedet – mit einer schweren Kopfverletzung aufgefunden; Jemand hat ihn scheinbar fürsorglich aber heimlich direkt am Krankenhaus abgelegt. Nachdem sich dieser ältere Beamte „mit der Konstitution eines Ochsen“ (behandelnde Ärztin, gespielt von Karla Nina Diedrich) bemerkenswert schnell von einer veritablen Hirnblutung erholt hat, läuft er zur Höchstform auf. Der Krankschreibung zum Trotz wird das Krankenzimmer zur telefonischen Einsatzzentrale des ganz speziellen SEK Borowski. Sahin findet auf Hinweis ihres Kollegen hin die Adresse der vermeintlichen Fahrradschubserin Celina Lüppertz und entdeckt dort deren Großmutter, erstochen neben der Badewanne.

Volker A. Zahn: „Es gibt nichts Langweiligeres als Krimis, die nach dem immer gleichen Muster gestrickt sind. Wir versuchen grundsätzlich, Geschichten für den „Tatort“ anders zu erzählen…die über die berühmt-berüchtigte „Wo waren Sie gestern Abend“-Ödnis hinausgehen…“. Das hat, zur Erbauung des Publikums, in diesem Fall sehr gut funktioniert. Der Film navigiert die Zuschauer stilsicher durch die langen Klinikgänge an der Seite des noch benebelten, aber auch im gestreiften Pyjama stets die Aura des gereiften Ermittlers verstrahlenden Borowski. Im krassen Gegensatz zu seinen Dutzenden Komplexbeladenen Kolleginnen in anderen Tatorten gibt es hier kein Wackeln, kein Zögern und keinen Raum für Pfusch. Zwar passieren ihm selbst „auch mal Fehler…aber eher selten“ (er zu Sahin, die ihm darauf das F-Wort zu zischelt).

Dem nordisch-kühlen Charme des Kieler Detektivs können sich, auch wenn er angeschlagen ist, weder die Frau im Blumenladen (lässt ihn von ihrem Festnetzanschluss aus telefonieren), noch seine Zimmernachbarin Maren (gespielt von Sophie von Kessel, sperrt sich mit ihm in die Kapelle) oder Haustechniker Sascha Seibert (gespielt von Roger Bonjour, legt Teilgeständnis ab) entziehen. Auch Celina nicht, die sich zusammen mit ihrer kleinen Schwester Finja (Jil Fiets) abgesetzt hat, und nun auf der Flucht vor der Polizei verzweifelt mit dem einzigen Ordnungshüter telefoniert, der ihr Vertrauen einflössen kann und gleichzeitig versucht, diesen Fall zu lösen.

Regisseurin Friederike Jehn zur Idee der impulsgestörten, jugendlichen Täterin:
„…ich war froh, dass diese klassischen, zehntausendmal gesehenen Krimistandards, die sonst Sinn machen, hier nicht funktionieren….eine 18-jährige Frau nicht nur in der Opferrolle…wie es ganz oft bei Krimis im deutschen Fernsehen der Fall ist, sondern dass sie sich in eine, wenn auch gefährliche, Selbstermächtigung begibt. Wir zeigen sie nicht nur als schwache, verletzte Person, sondern auch als starke, beunruhigende Person…“

Der ältere, weisshaarige Mann mit dem Kopfpflaster ist jedenfalls, kurz vor seiner Pensionierung (der letzte Tatort mit ihm soll 2025 ausgestrahlt werden, Anm.) und trotz drohendem Folge-Hirntrauma einfach nicht zu stoppen. Er ignoriert die Warnungen und lässt sich von dem willigen Polizeitechniker Philip Krautkrämer (Joel Williams) den Dienst-Laptop im Krankenzimmer installieren. Er wälzt auf dem Bett die Akten und handelt mit Celina, die Finja defacto entführt hat, deren Freilassung aus. Sahin leistet der Arbeitswut des übermächtigen Kollegen nur hinhaltenden Widerstand, fühlt sich mitschuldig an seiner Verletzung. Sein Vorgesetzter und Polizeidirektor Roland Schladitz (Thomas Kügel) ist ihm, weil er dessen Wagen auf dem Parkplatz des Präsidiums gegen einen Blumenkübel gesetzt hat, noch was schuldig und daher hilflos ausgeliefert. Die Akte von Celina lässt keinen Zweifel zu: Das Mädchen hatte in der Patchworkfamilie Oma/Mama/Papa/Stiefvater offenbar die „A-Karte gezogen“ (Borowski zu ihr). Weil sie schwierig zu erziehen war, hat der leibliche Vater sie gequält (in eine Holzkiste gesperrt) und geschlagen. Therapiefehler wurden wohl auch gemacht (sie wurde in der Kieler Selbsthilfegruppe aggressiv).

Die „Schulversagerin“ (Ihre Mutter, gespielt von Alexandra Finder, über sie) fing zu allem Überfluss auch noch mit dem verheirateten Nachbarn (überraschenderweise Krankenhaus-Techniker Seibert) was an und wurde schwanger. Die offenbar wenig empathische Oma (verschenkte zum Geburtstag Zwanziger ohne Geschenkpapier, „liebevoll sei anders“, so Nachbar Seibert) machte ihr deshalb Vorwürfe, worauf Celina sie vor Wut erstach. Anschliessend schlug sie den hinzukommenden Borowski nieder, den dann der Nachbar zu seinem Krankenhaus transportierte. Für ihn, ihren Liebhaber, der sich trotz der Affäre mit ihr entschied, bei seiner Frau und deren Kindern zu bleiben, hat Celina ein fulminantes Ende vorgesehen: Sie entführt dessen Baby mitsamt Kindersitz im Familienauto und droht sich mit beiden in einem See zu ertränken. Dank des erneuten Telefonseelsorgerischen Einsatzes von Kommissar Borowski und Celinas Mutter („Sagen sie ihr, dass sie wertvoll ist, tun sie es einfach!“) sowie der an der Waterkant bestens funktionierenden Einsatzkräfte werden beide aber wohlbehalten an Land gebracht.

Erfreulich war, dass der Film sowohl der depressiven, bei der Erziehung Celinas offenbar gescheiterten Simone Schuster eine Chance gab, denn sowohl sie als auch der privatinsolvente Stiefvater Dennis (Jean-Luc Bubert), der kurz als Verdächtiger für den Mord an Oma Beckmann gehandelt wurde, wurden als durchaus liebevolle Eltern von Finja dargestellt. Die Wohnung von Oma Beckmann war zwar mit schrecklichen Tapeten und Unheil verheissenden Hinweisen (z.B. Aufkleber überm Haken für den Waschlappen: „Gesicht“ und überm Waschbecken „Wasser sparen“) ausgestattet, jedoch ersparte man der Figur darüber hinaus weisende Anspielungen auf die Lebensumstände der 70er-Jahre.

Almira Bagriacik (spielt Mila Sahin) hat hingegen dasselbe Problem wie der Kieler Tatort. Mit dem Fortgang von Hauptkommissar Borowski wird die Berlinerin 2025 den Kieler Laden wohl samt einer neuen Partnerin schmeissen müssen. Die Grundlage dafür scheint, trotz des in dieser Folge geäusserten Selbstzweifels: „Vielleicht bin ich doch nicht so gut, wie ich denke“ mit einer selbstbewussten Standpauke vor versammelter Ermittlermannschaft: „..Ich möchte bis zum Abend Ergebnisse, vorher geht keiner nach Hause.“ ausserhalb Borowskis Schatten gelegt.

Allerdings scheint Frau Bagriacik, trotz Berliner Schrebergarten und der beim NDR gemachten Aussage, sie sei „bei unserem Tatort froh, dass die Herkunft von Mila Sahin nicht so in den Vordergrund gestellt wird“ doch noch (ARD-Website des aktuellen Tatorts) mit ihrer Herkunft und der Arbeit beim Kieler Tatort zu hadern: „Gerade als Migrantin hat man das Bedürfnis, besser zu sein als alle anderen, weil du weißt, dass du es sonst nicht schaffst. Du musst mindestens doppelt so gut sein, um auch nur ansatzweise das gleiche Level zu erreichen wie die anderen. Schon zu Hause wird dir kommuniziert, dass du in der Schule gute Noten bekommen musst, damit sich nicht als richtig herausstellt, dass Migrant*innen schlechter sind, weil sie die Sprache nicht können oder sich nicht an die Regeln halten. Ich denke, daher kommt auch Sahins Entscheidung, Polizistin zu werden. Um mit jemanden wie Borowski auf Augenhöhe zu ermittelten, muss sie die Beste sein.“

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