Tichys Einblick
Der „Spiegel“ auf dem Relotius-Trip 2.0

Für den „Spiegel“ ist Venezuela fast ein Traumland – wenn nur der Kapitalismus nicht wäre

Venezuela könnte eines der reichsten Länder der Welt sein. Doch das Land hat sich bereits in den 1970er Jahren für den Weg des Sozialismus entschieden. Das einstige „Sturmgeschütz der Demokratie“ lässt einen Autor behaupten, ein „neuer Wildwestkapitalismus“ sei schuld am Niedergang Venezuelas.

"Der Spiegel", Verlagsgebäude in Hamburg

imago images / Jürgen Ritter

„Ein neuer Wildwestkapitalismus im sozialistischen Venezuela lässt viele Menschen verarmen …“ So beginnt der jüngste Bericht des „Spiegels“ vom 14. Juni 2022 über die Zustände in Venezuela. Muss man nach einem solchen Einleitungssatz des aus Caracas berichtenden „Spiegel“-Redakteurs Marian Blasberg noch weiterlesen?

Nein, man muss eigentlich nicht. Denn was sich bereits mit einem einzigen Satz andeutet, lässt entweder annehmen, dass der Spiegel wieder auf Relotius-Spuren wandelt, oder dass Relotius unter Pseudonym wieder für den Spiegel tätig ist. Claas Relotius, wir erinnern uns, war 2018 als Erfinder von Reportagen und Interviews aufgeflogen – nachdem man ihn zuvor mit Journalistenpreisen überhäuft hatte.

Zurück zu Venezuela: Dieses Land im Norden Südamerikas mit Küste zur Karibik ist mit rund 912.000 Quadratkilometern Fläche fast dreimal so groß wie Deutschland; es ist dünn besiedelt und hat nur rund 28,4 Millionen Einwohner, von denen freilich immer mehr das Weite suchen, das heißt auswandern.

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Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner (nominell) liegt in Venezuela bei 1.691 US-Dollar pro Jahr. In Deutschland sind es 46.000 US-Dollar. Venezuela befindet sich damit in der Nähe der Länder Kambodscha und Kamerun. Die Armutsquote (definiert mit täglicher Verfügbarkeit von 1,20 US-Dollar pro Nase) liegt bei 76 Prozent – mit steigender Tendenz. Die Arbeitslosenquote hat die 50 Prozent überstiegen. Die Inflationsrate betrug im Jahr 2018 schier wahnsinnige 65.374,08 Prozent; für 2022 werden 500 Prozent prognostiziert. Die Folgen sind neben Abwanderung vor allem Unter- und Mangelernährung sowie eine sinkende Lebenserwartung.

Das hat alles mit Sozialismus zu tun, da gibt es kein Wenn und Aber. Venezuela hatte sich bereits in den 1970er Jahren dafür entschieden. Die Präsidenten Hugo Chávez (1999 bis 2013) und Nicolás Mandura (seit 2013) haben diesen Weg mit eiserner Faust auf pseudodemokratischem Weg fortgesetzt und verschärft: mit Totalverstaatlichung, Enteignungen, korrupter Bürokratie, Ausschalten von Marktgesetzen und Zerstörung von Eigeninitiative. Vor dem Ölpreisverfall 2016 fiel das zunächst nicht sonderlich auf. Venezuela wollte jedenfalls als das sozialistische Musterland des 21. Jahrhunderts gelten – mit einem Leben für alle in Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Westliche Intellektuelle schlossen sich dieser Schwärmerei an. Die Links-Partei meinte gar, in Venezuela ein Sozialismus-Revival erahnen zu können. Man unternahm Bildungsreisen dorthin.

Dabei könne das mittlerweile extrem verelendete Venezuela eines der reichsten Länder der Welt sein. Mit 18 Prozent Anteil an den Ölreserven der Welt (entsprechend rund 300 Milliarden Barrel) rangiert Venezuela sogar vor Saudi-Arabien (298 Milliarden Barrel, entsprechend 17 Prozent aller Vorkommen), Kanada (168 Milliarden Barrel), Iran (158 Milliarden Barrel), Irak (145 Milliarden Barrel) und Russland (108 Milliarden Barrel, entsprechend rund 6 Prozent des Ölvorkommens).

Damit ist erneut bewiesen: Sozialismus produziert selbst bei natürlichem Überreichtum nichts als Armut und ein Leben in Saus und Braus für Bonzen. Und er vernichtet die Mittelschicht und den Mittelstand. Die Ewig-Gestrigen werden das nie wahrhaben wollen. Für sie bleibt der Sozialismus eine tolle Idee, die bislang eben nur falsch umgesetzt wurde. Das Hamburger „Sturmgeschütz der Demokratie“ (so Gründer Rudolf Augstein) scheint auch daran zu glauben. Und so verbreitet dieses Blatt die Verschwörungstheorie, ein „Wildwestkapitalismus“ sei schuld am Niedergang Venezuelas.

Aber so ist der Mensch: Was der Bauch (die Gesinnung) nicht will, lässt der Kopf nicht rein. Und wohl noch lange gilt der Anspruch des Sozialismus/Kommunismus: Mit ihm kann man erklären, wie alles besser werden wird. Aber auch erklären, woran es liegt, wenn trotz Sozialismus/Kommunismus alles schlechter wird.

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