Tichys Einblick
Presseschau

Augen weit geschlossen: Wenn der grüne Filzteppich ausgeklopft wird

Ignorieren können auch grünenfreundliche Journalisten den Skandal um Wirtschaftsminister Robert Habeck und seinen Staatssekretär mit ausgeprägtem Familiensinn nicht. Aber wie sie mit ihm umgehen, ist bezeichnend.

IMAGO / photothek

Die Presse entdeckt, wie das ist, wenn man die Liebste mit dem Trauzeugen im Bette erwischt. Und wie alle hemmungslos Verknallten versucht, auch der Großteil der deutschen schreibenden Zunft, den Schmerz des Betrogenwerdens mit den alten Rezepten zu mildern: Leugnen, Beschönigen, Ablenken.

Den Vogel schießt dabei Robin Alexander von der „Welt“ ab, wenn er, sicher nicht ohne feine Ironie, über einem Foto des sonnengebräunten, hemdsärmeligen Ministers Robert Habeck titelt: „Jetzt leidet er wirklich“. Habeck sehe „einen beleidigten Rückzug aufs eigene Milieu als größte Gefahr für die Grünen.“ Alexander hat wohl eine exklusive Audienz bekommen: Zu Robert Habecks Büro gehe man minutenlang durch ein Gebäude von 1709 (…) etwas Ehrwürdigeres gebe es in Berlin nicht. Größer könne die Aufgabe nicht sein (für Habeck, Anm.), zumindest aus grüner Perspektive: Es geht um die Rettung der Welt. Habeck lässt nicht bitten, er kommt selbst aus dem Ministerbüro. Fester Handschlag, „Tach“.

Aber das war wohl noch Tage, bevor der „Hauptstrom“ der Presse sich dem Skandal um seinen Staatssekretär Patrick Graichen widmen… musste… (TE berichtete weit über ein Jahr davor, Anm.).

Die Süddeutsche Zeitung beschrieb das, was dazu im politischen Berlin zu hören sei, Ende April noch in einem Kommentar als „Rumoren“: „Graichen, Graichen, Graichen“ schrieb Claus Hulverscheidt genervt, Robert Habecks Ministerium werde „angeblich vom ‚mafiösen‘ Familienclan der Graichens dominiert. Mit den Fakten hat sich allerdings bisher kaum jemand beschäftigt“.

Und beim WDR findet das seinen Widerhall, was schon Ex-Umweltminister im Unruhestand, Jürgen Trittin witterte: „…eine Schmutzkampagne“? Habeck stehe „unter Beschuss“. Der Vorwurf der Vetternwirtschaft gegen seinen Staatssekretär Patrick Graichen „bringe auch den Wirtschaftsminister in Bedrängnis. Ist die Kritik gerechtfertigt oder nur ein Versuch, den Grünen zu schaden?“ Der Sender versieht vorsichtshalber mal jeden kritischen Punkt mit einem dicken Fragezeichen und stellt fest, dass „den Grünen und besonders ihrem Wirtschaftsminister Robert Habeck der Wind zurzeit ziemlich stark ins Gesicht blase“. Der habe jetzt „auch noch den Vorwurf der Vetternwirtschaft am Hals“, daher fragt der WDR: „Bauschen hier in Wahrheit die Gegner der Energie- und Klimawende eine Petitesse zum Skandal auf, um Habecks Politik und am besten ihn auch gleich selber zu Fall zu bringen?“ Wie kann sich Habeck aus dieser schwierigen Situation befreien? Klientelpolitik „ gebe es auch bei anderen Parteien…wie kann er dem Eindruck entgegentreten, dass hier eine grüne ‚Bubble‘ eine Energiewende unter sich ausheckt, ohne Andersdenkende miteinzubeziehen, obwohl sie vielen Menschen sehr viel abverlangt?“

Für das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) sind die „Messer schon gewetzt“, bevor sich Union und Linkspartei im Deutschen Bundestag den „in Kritik geratenen Wirtschaftsstaatssekretär Patrick Graichen sowie dessen Dienstherrn Robert Habeck vorknöpfen“. Und Nein, liebes RND, bei der Berufung von Graichens Trauzeugen Michael Schäfer zum neuen Chef der staatlichen Energieagentur Dena war der Herr Staatssekretär eben nicht nur „persönlich beteiligt“, sondern hatte eine maßgebliche Stimme.

Glücklicherweise zeigt die Agentur mit dem dort verlinkten Kommentar von Markus Decker „Warum Robert Habeck trotz Heizungsstreit und Trauzeugenaffäre ein guter Politiker ist“ gleich, wem die größte Sorge gilt: „…die Gegner des grünen Ministers zielen auf dessen Heizungsplan wie auf seinen Staatssekretär und meinen eigentlich in beiden Fällen: ihn.“

Herr Decker setzt zu einer mehrere Zeilen anhaltenden Lobhudelei auf den Retter Robert Habeck an, einen „Artisten am Trapez, der mit Klimazielen, Versorgungssicherheit und niedrigen Preisen gleichzeitig jonglieren muss und dabei doch bitte schön noch eine gute Figur machen soll“, mit dem nur „wenige seiner jetzigen Angreifer tauschen wollten“, er sei eigentlich „ein guter Politiker“ mit „Anziehungskraft… und einem… Ziel – dem Umbau des Landes zur Klimaneutralität – welches er auch verfechte…“ Der Minister sei „…bisweilen zu empfindlich…dass er schon mal aus der Haut fährt, sei durchaus eine Qualität…nicht kalt und abgezockt…reagiere auf Widerspruch und sei diskussionsfähig… rhetorisch zwar stark genug…sehe sich bei der Umsetzung indes notgedrungen Hindernissen gegenüber. Die Aufgabe ist nämlich schon für sich genommen riesig, in Zeiten von Energiekrise und Inflation ist sie es erst recht.“

Der Tagesspiegel sieht die alte Tugend der Nibelungentreue bei Robert Habeck aufblitzen: „Trotz des Vorwurfs der Vetternwirtschaft steht Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) zu seinem Staatssekretär Patrick Graichen.“ Dieser stehe jedoch „in der Kritik: Hat er bei der Personalsuche getäuscht?“ Um „Kritik“ kann es hier wohl nicht mehr gehen, der beamtete Herr Staatssekretär hat die Regeln in einem Auswahlverfahren für einen Spitzenposten offenbar erheblich gebrochen, das mögen durchaus justiziable Umstände sein. Und ob, wie der Tagesspiegel in eine Überschrift setzt, auch ein weiteres Mitglied der Auswahlkommission, „Staatssekretär Wenzel … den Bewerber bereits kannte“ ist erstmal unerheblich. Der Tagesspiegel weiß seinen, dem ersten Anschein nach durchaus kritisch gemeinten Artikel mit einem eingestreuten Link zu seinem „Klima-Podcast“ aufzulockern, Titel: „Hauptsache zu langsam: So bremst die fossile Lobby den Klimaschutz in Deutschland aus…“ Ein Schelm, der hier erkennen möchte, dass vom Thema abgelenkt werden soll.

Die Berliner Zeitung meldet, nicht ohne einen Schuss Enttäuschung, dass der „Klimaschutzexperte und Grünen-Politiker Michael Schäfer von seinem Chefposten bei dem bundeseigenen Unternehmen Deutsche Energie-Agentur (Dena) zurücktrete …“, ohne sich „auf die Nachausschreibung zu bewerben …“ obwohl er „eigentlich im nächsten Monat den Posten des Dena-Geschäftsführers hätte bekleiden sollen“. Erst im April sei Schäfer „berufen worden – allerdings durch Vorwürfe der Vetternwirtschaft in Kritik geraten…“.

Einige Aufmerksamkeit wird Herrn Schäfer zuteil, der einigen wohlmeinenden Meldungen zu Folge „sein Amt nach massiver Kritik aufgebe … sich zurückziehe…“ (Frankfurter Rundschau). Weil „am Ende“ so FR, „die Kritik zu groß gewesen sei … einer der Gründe: Mit diesem Schritt solle Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) von möglichen Verwicklungen in der sogenannten Trauzeugen-Affäre entlastet werden…“. Dabei blieb dem designierten Leiter der Dena wohl nicht viel mehr übrig – er dürfte mit seiner Entscheidung den berühmten Stöpsel selbst gezogen haben, bevor es andere tun. Eine große Geste kann man da – nur mit viel Liebe – hinein interpretieren.

n-tv nutzt in Bezug auf den unrühmlichen Abgang des zukünftigen Dena-Leiters das geflügelte Wort des „vorzeitigen Hinwerfens“, so als ob es hier um einen Akt beleidigten Ehrgefühls und die emotionale Zurückweisung einer nun für den Kandidaten nicht mehr akzeptablen Aufgabe handeln würde. Um dann eilig hinzuzufügen, dass „das Wirtschaftsministerium die Stellenvergabe bereits neu aufgerollt hatte … der Chefposten wird neu besetzt“ (Der Leser ist beruhigt, dass jemand das Ruder übernimmt).

Nur ein paar familiäre Verquickungen?

Der Bayerische Rundfunk schreibt im Titel wenig kritisch von einem „Robusten Politiker“: „Habeck hält an Graichen fest“. Und so harmlos geht es in dem Artikel weiter, es sei ja „die Opposition, bei der die Wut groß zu sein scheine … die den Rücktritt von Staatssekretär Graichen, der in eine Verwandtenaffäre verstrickt ist, fordere … Ministerpräsident Söder warne, dass auch Habeck Schaden nehmen könnte. Doch der Wirtschaftsminister stärkt Graichen den Rücken.“ Der sei verstrickt in eine Affäre mit Fokus auf „familiäre Verquickungen, die immer höhere Wellen schlage“.

Und beim Focus sorgt sich Christian Böhm in der „Causa Graichen“ um die Integrität von Robert Habeck, die könne für ihn zum „Bumerang werden“. In der Politik sei es laut Kommentator „nicht ungewöhnlich, Vertraute um sich zu scharen. Auch die Wahlverwandtschaften an der Spitze eines Ministeriums sind nicht illegal, … wenn auch ziemlich ungewöhnlich“. Patrick Graichen habe „für seinen Boss nicht nur dessen heißes Eisen Klima-, Energie- und Heizwende schmieden“ müssen, aber nun sei ihm „im laufenden Betrieb ein Malheur unterlaufen…“ Böhm fragt, obwohl er die Antwort bereits kennen dürfte: „War Schäfer wirklich der beste Kandidat für den Geschäftsführerposten? Wenn nicht – wieso wurde er trotzdem auserkoren?“ Habeck müsse „jetzt handeln, sonst bleibt womöglich immer ein Geschmäckle an ihm haften. Das riechen auch die Wähler.“

Michael Stifter von der Augsburger Allgemeinen widmet Robert Habecks „wichtigstem Mann“ ein ausführliches Portrait. Er sei „der perfekte Mann für die zweite Reihe. Einer, der sich im Maschinenraum der Politik … und so gut mit der Energiewende auskennt wie wenige andere im großen Apparat des Ministeriums … und kein Problem damit hat, sich in den Niederungen der Detailarbeit aufzureiben, während der Mann in der ersten Reihe im Scheinwerferlicht die große Linie vorgibt“. Es habe „viel mit dem 51-jährigen Rheinländer zu tun, dass in Deutschland auch ohne russisches Gas und Atomkraft bislang nicht die Lichter ausgegangen sind“.

„Graichen wollte im besagten Maschinenraum des Ministeriums einen Großteil der Mannschaft neu besetzen – zum Teil ohne Ausschreibung und zum Teil mit dem Beigeschmack der Vetternwirtschaft… er weiß, wovon er spricht, wenn er die deutsche Energieversorgung umkrempelt. Ihm macht keiner etwas vor… er hat im vergangenen Jahr hart und durchaus erfolgreich geackert, was ihm selbst politische Gegner nicht absprechen.. dessen Robustheit resultiert auch aus einem ausgeprägten Selbstbewusstsein. Wer es gut mit Graichen meint, nennt ihn durchsetzungsstark.“

Familienfilz und Amigoskandale gehören in der eng verschwägerten Sippe der Klima-NGOs zum Versteh- und Entschuldbaren? Genau nach dieser Lesart wäre auch die Clankriminalität im dörflichen Umfeld von Corleone akzeptabel. Im Interview der ARD-Tagesschau vertritt Albrecht von Lucke aber diese steile These und rät dem Wirtschafts- und Klimaminister „enorm aufzupassen“, der zur „Lösung der Jahrhundertfrage fast Verdammte“ müsse eigentlich „maximal gestärkt werden…stattdessen wird er so weiter geschwächt…“.

Dieser Skandal „ereile Robert Habeck in einer Situation, in der gerade sein Ministerium mit der Klimakrise die wohl größte politische Aufgabe überhaupt zu bewältigen hat“. Es werde „massiv gegen ihn geschossen … dadurch droht aus dem Fall Graichen ein so gravierender Vorfall zu werden, der die politische Handlungsfähigkeit des Ministeriums untergraben könnte.“ Da kann einem wirklich Angst und Bange um Herrn Habeck werden. Denn, so von Lucke weiter, „auch der notorisch Grünen-feindliche FDP-Vize Wolfgang Kubicki habe ihm die Entlassung Graichens bereits nahegelegt“.

Nachfrage von tagesschau.de: „In der öffentlichen Wahrnehmung stand Habeck lange für einen anderen Politikstil. Jetzt geht es um seine Reputation. Was bedeutet das für seine Art, Politik zu machen und Konflikte zu lösen?“ Von Lucke meint, man müsse Habeck in dieser Hinsicht durchaus in Schutz nehmen, denn der habe sich früher weit weniger als andere Grünen-Politiker moralisch aus dem Fenster gelehnt. Das zentrale Problem sei aber, „dass die Bevölkerung jetzt zum ersten Mal ganz direkt erlebt, dass sie durch die Politik des Klimaministeriums erheblich belastet wird, um so die Lebenschancen zukünftiger Generation zu wahren. Deshalb wiegt es umso schwerer, dass nun durch den Fall Graichen der ohnehin herrschende Eindruck verstärkt wird, Habecks Ministerium habe als abgehobene Blase der familiär Eingeweihten und Eingeschworenen die Tuchfühlung zu den normalen Bürgern verloren.“

Auf Nachfrage der Tagesschau darf er das Bild zurechtrücken: Solche Fälle gebe es immer wieder, übrigens vor allem bei CDU/CSU, da diese am längsten an den Trögen der Macht saßen. Denken Sie nur an die CSU-Amigo-Skandale, etwa noch jüngst im Falle der millionenschweren „Masken-Deals“.

Und schließlich komme beim „grünen Klüngel“ ein besonderes Spezifikum hinzu: „Klimapolitik ist von einem hochgradigen Idealismus getragen. Die Vorfeldorganisationen der Grünen, die NGOs, Öko-Institute und sonstigen Gruppierungen, sind oft aus ehrenamtlicher Arbeit hervorgegangen. Da ist Politik nicht selten gleich Leben. So geht aus der gemeinsamen politischen Arbeit am Ende so manche Ehe hervor. Das hat man bei der FDP-nahen Auto-Lobby eher weniger.“

Jan Rübel findet bei Yahoo, dass Robert Habeck nun „ein enger Vertrauter aufhalte“, was er offenbar sehr bedauert. Denn mit Habeck kam für den Journalisten „… eine Vision. Der kann nicht nur reden, so die allgemeine Wahrnehmung, der bringt auch einen neuen, ehrlichen Stil mit. Eine Politik auf Augenhöhe. Und es ist nicht so, dass sich der Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz nicht auf neue Themen stürzt…“ Das, was diese „dauererregte BILD“ schreibe, sei doch „ein gefundenes Fressen für all jene, die für ihr schlechtes Gewissen einen Blitzableiter suchen“. Trotzdem findet der Kommentator dann doch, „das Fehlverhalten von Graichen muss Folgen haben“. Aber er gibt Graichen noch Zeit, in sich zu gehen: „Graichen sollte Urlaub nehmen, sich vom Amt für eine gewisse Zeit absentieren. Und dann überlegen, ob er zurückkehren sollte. Nur so habe er „theoretisch eine Chance, seinen Job zu behalten.“

Viele andere Vorwürfe rund um dieses „Graichen-Gate“ seien, so Rübel weiter, „an den Haaren herbeigezogen“, und „dass man in der Familie ähnliche politische Meinungen teilt, würde die CSU niemals als Verbrechen ansehen. Wenn dann ferner die eine Schwester mit dem Staatssekretärskollegen Graichens verheiratet ist – so what? Wo liegt darin irgendein Beef?“

Aber er hat dann doch das ungute Gefühl: „… beim Ding mit dem Trauzeugen … liegt etwas im Argen“, auch für den Grünen eigentlich zugeneigte Journalisten.

Anzeige