Tichys Einblick
Spalten von Anfang an

Medien und „die Ossis“ – die Geschichte einer Radikalisierung

„So isser, der Ossi“, titelt der aktuelle SPIEGEL. Es ist ein Ansatz der Berichterstattung aus dem fernen Hamburg, gewissermaßen mit dem Fernrohr den Osten betrachtend. Alle Ossis sind gleich, frustriert, enttäuscht - und vor allem: undankbar.

„So isser, der Ossi“, titelt der aktuelle SPIEGEL. Es ist ein Ansatz der Berichterstattung aus dem fernen Hamburg, gewissermaßen mit dem Fernrohr den Osten betrachtend. Alle Ossis sind gleich, frustriert, enttäuscht – und vor allem: undankbar. Dabei, so zählt DER SPIEGEL auf, hat ihnen der Westen doch die schönsten Autobahnen geschenkt, moderne Stadtplätze, sogar Schulen und Universitäten. Und trotzdem ist „der Ossi“ undankbar und wählt nicht brav SPD oder Grüne oder zumindest CDU, wie DER SPIEGEL es sich wünscht, sondern AfD. Also, das geht ja gleich gar nicht – erst kassieren und dann wählen, wie man will. DER SPIEGEL beugt sich runter, versucht sich der ostdeutschen Seele zu nähern, aber „das heißt nicht, für Ausländerfeindlichkeit und Rassismus Verständnis zu zeigen, soll aber ergründen, warum die Furcht vor Einwanderern in einem großen Teil Deutschlands die Politik bestimmt.“

Damit ist der Ton vorgegeben: Alle Ossis sind gleich betreuungsbedürftig; sie raffen es nicht. DER SPIEGEL muss es ihnen erklären wie einem betreuungsbedürftigen Kind. Es ist ein bekannte Ton: So hätte man im wilhelminischen Deutschland über Deutsch-Südwest geschrieben, dort im fernen Afrika, wo die Menschen schwarz sind, Hottentoten heißen, nackt herumlaufen und auf die Beglückung durch die Kolonisatoren warten. Man könnte es betreuenden Journalismus nennen. Dabei ist es der westdeutsche Journalismus, der wesentlich dazu beigetragen hat, dass es nach der Wiedervereinigung zu einer Spaltung in Ost und West gekommen ist. Denn die Haltung „kluger Wessi – dummer Ossi“ zieht sich durch die mediale Geschichte der Wiedervereinigung. Dabei kommt der Ossi nicht gut weg. Dass jetzt Misstrauen gegen westdeutsche Medien und Politik tatsächlich eine breite Basis finden – überraschend?

Alexander Wendt hat die Geschichte der medialen Entfremdung aufgeschrieben. Sie geht nicht gut aus für westdeutsche Medien.

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2000, Sebnitz: „50 Skinheads ertränken irakisch-deutsches Kind“

Am 23. November 2000 erschien die Bundes-BILD mit einer Schlagzeile über das sächsische Sebnitz: „Gegen 50 Neonazis hatte der kleine Joseph keine Chance“. Vor aller Augen, so das Blatt, hätten 50 Neonazis im Jahr 1997 das Kind des irakisch-deutschen Apothekerpaars Kantelberg-Abdulla im Sebnitzer Freibad ertränkt. „Eine ganze Stadt hat es totgeschwiegen“, urteilte das Blatt. Die „taz“ wusste: „Badeunfall erweist sich als rassistischer Mord“. In der „Süddeutschen Zeitung“ kommentierte Heribert Prantl den „braunen Untergrund der Tat“. Bei den Ermittlungen in den folgenden Tagen und Wochen stellte sich heraus:

Das Kind war ohne Fremdeinwirkung, sondern aufgrund eines Herzfehlers im Freibad ertrunken. Die angeblichen Augenzeugenberichte, auf den die BILD ihren Bericht stützte, stammten von geistig zurückgebliebenen Jugendlichen, denen Kantelberg-Abdulla die Aussagen souffliert, und von einem Alkoholiker, dem sie Geld für seine Falschaussage gezahlt hatte. Weder die BILD noch andere Medien hatten vor ihren Berichten Recherchen angestellt. BILD-Chefredakteur Kai Diekmann, der den Medienskandal nicht zu verantworten hatte – die Sebnitz-Geschichte wurde von seinem Vorgänger Udo Röbel ins Blatt gehoben – entschuldigte sich später bei den Sebnitzern. Nicht so die taz . Sie kommentierte:
„Aber es hätte doch so sein können.“

2007, Mügeln: „Hetzjagd“

In der Nacht des 19. August 2007 kommt es in der sächsischen Kleinstadt Mügeln zu einer Schlägerei auf dem Dorffest zwischen mehreren Deutschen und einer Gruppe von Indern, die in der Stadt leben. Dabei werden acht Inder und sechs Deutsche verletzt, davon mehrere mit Stichwunden. Die Inder ziehen sich in eine nahgelegene Pizzeria zurück und verbarrikadieren sich dort, als eine Menschenmenge versucht, in das Lokal einzudringen. Schließlich löst die Polizei die Ansammlung auf, und nimmt mehrere Personen fest.

Zahlreiche Medien behaupten, es habe eine „Hetzjagd“ auf die Inder durch die Stadt gegeben. „Hetzjagd in Mügeln – Wegsehen, schönreden, abtauchen“ titelte SPIEGEL Online am 21.08.2007.

Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Leipzig ergeben später: Eine „Hetzjagd“ durch Mügeln hatte nicht stattgefunden, bei der Auseinandersetzung handelte es sich um eine Schlägerei ohne politischen Hintergrund.

2008, Mittweida: „Nazis ritzen Mädchen Hakenkreuz in die Hüfte“

„Im sächsischen Mittweida ritzt eine Clique von Rechtsradikalen einem 17-jährigen Mädchen ein Hakenkreuz in die Haut – viele Passanten sehen zu.“ Mit dieser Geschichte schockte die Sachsen-Korrespondentin der „Süddeutschen Zeitung“ Christiane Kohl am 19. Dezember 2008 ihre Leser. Etliche Medien berichten ähnlich: nämlich so, als wären alle Zweifel an dem angeblichen Horror-Ereignis ausgeräumt. In Wirklichkeit begannen die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen erst. Und die ergaben: die Teenagerin hatte sich das Hakenkreuz selbst geritzt – und die Geschichte zusammenfantasiert. Sie wurde später wegen Vortäuschung einer Straftat rechtskräftig verurteilt.

Apropos erfunden: „Passanten sehen zu“ – das hatte selbst das 17jährige Mädchen nie behauptet. Die Darstellung, eine Menge hätte – wieder einmal – zugesehen, hatte die Korrespondentin der „Süddeutschen“ frei erfunden.

2015, Dresden „Der erste Pegida-Tote“

Im Januar 2015 fanden Anwohner den erstochenen Asylbewerber Khaled Idris Bahray im Hof eines Dresdner Plattenbaus. „Khaleds Tod, Dresdens GAU“ trompetete die Journalistin Silke Müller auf Stern.de. Die Stadt habe jetzt „ihren ersten Pegida-Toten“. Kurz darauf überführte die Polizei einen anderen Asylbewerber als Täter.

2016, Bautzen: Sachsen, „der braune Schandfleck“

In Bautzen brannte im Juni 2016 das leerstehende Hotel „Husarenhof“, das für Asylbewerber vorgesehen war, durch Brandstiftung ab. Für etliche Medien war sofort klar: ein rechtsradikaler Anschlag. Viele, etwa Zeit Online, berichteten außerdem von einem angeblichen „Mob“, der die Löscharbeiten behindert habe. Die „Hamburger Morgenpost“ färbte auf einer Deutschlandkarte das gesamte Land Sachsen braun ein und titelte dazu: „Der Schandfleck“.

Tatsächlich bestand – worauf die Bautzener Feuerwehr auch hinwies – der angebliche Mob aus drei betrunkenen Jugendlichen, die Löscharbeiten nicht behindert hatten – weil die Polizei sie umgehend aus dem Verkehr zog. Bis heute stehen weder Täter noch Tatmotiv der Brandstiftung fest. Der Fall blieb ungeklärt.

2018, Chemnitz: „Hetzjagden“

Am frühen Morgen des 26. August 2018 wird der 35jährige Chemnitzer Daniel Hillig mutmaßlich von einem syrischen und einem irakischen Asylbewerber erstochen, zwei weitere Männer werden von den Tätern durch Messerstiche schwer verletzt. Am folgenden Nachmittag sammeln sich mehrere hundert Chemnitzer zu einer spontanen Demonstration. Es kommt zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, etwa ein dutzend Personen in der Menschenmenge zeigen Hitlergrüße. Der bis dahin unbekannte Account „Antifa Zeckenbiss“ versendet ein aus einer WhatsApp-Gruppe gekapertes 19-Sekunden-Video, auf dem zu sehen ist, wie ein Mann einem afghanischen Asylbewerber einige Meter hinterherrennt, ohne dass es zu einem körperlichen Kontakt zwischen beiden kommt. „Antifa Zeckenbiss“ behauptet, die Szene zeige eine „Menschenjagd in #Chemnitz“. Zahlreiche Medien übernahmen diese Deutung und schreiben von „Hetzjagden“, erst recht, nachdem Angela Merkel am 28. August erklärte: „Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, dass es Zusammenrottungen gab.“

Wenig später stellte sich durch eine Anfrage des Magazins „Publico“ bei der sächsischen Generalstaatsanwaltschaft heraus, dass die Ermittlungsbehörde keine Hinweise auf eine „Hetzjagd“ besaß – also eine über eine längere Strecke und eine längere Zeit andauernde Verfolgung von Personen durch eine Gruppe. „Tichys Einblick“ fand später die Urheber des Videos, die schilderten, dass der aufgenommenen Szene Provokationen der Asylbewerber vorausgegangen waren.

In einer Bundestagsdebatte musste Merkel 2019 indirekt einräumen, dass sie nicht, wie behauptet, über „Videos“ zu Chemnitz verfügt hatte, sondern nur über das eine 19-Sekunden-Video – und dass sie vor ihrer „Hetzjagd“-Behauptung bei keiner Ermittlungsbehörde nach dem Sachstand fragen ließ.

Der damalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen sagte am 7. September 2018 gegenüber BILD, er bezweifle, dass das Video „authentisch“ eine Hetzjagd zeige. Darauf forderte zunächst Juso-Chef Kevin Kühnert und bald die SPD die Entlassung Maaßens. Zahlreiche Medien inszenierten eine regelrechte Kampagne gegen den Beamten, die ZDF-heute-show bezeichnete Maaßen sogar als „Schädling“ (und entschuldigte sich nach entsprechenden Protesten dafür). Zahlreiche Medien behaupten bis heute, Maaßen hätte das Zeckenbiss-Video als „Fälschung“ beziehungsweise „Fake“ bezeichnet – was er nachweislich nie tat.

Innenminister Horst Seehofer versuchte die Situation zunächst dadurch zu lösen, indem er Maaßen als Staatssekretär in sein Ministerium holen wollte. Nachdem die SPD mit Rückendeckung Merkels dagegen massiv intervenierte, kündigte Seehofer an, Maaßen zum Sonderberater des Ministeriums machen. Die Abschiedsrede Maaßens, in der er von „linksradikalen Kräften“ in der SPD sprach, die sich durch seine Äußerungen zu Chemnitz ertappt gefühlt hätten, lieferte dem Innenminister schließlich die Begründung, den Sicherheitsfachmann in den Ruhestand zu versetzen.


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