Tichys Einblick
Otto Schily im Interview

Maischberger: Das Versagen der Politik ist die Mutter aller Probleme

Wie weit darf Israel in seiner Verteidigung gehen? Anders als in vorherigen Konflikten wird weniger zu Mäßigung gerufen. Auch in der Migration zeigt sich: Die Stimmung kippt. Und ein Interview mit Otto Schily zeigt, dass die Fehler in der Migrationspolitik schon unter Schröder anfingen. Von Fabian Kramer

Otto Schily im Interview bei Sandra Maischberger

Screenprint ARD

An diesem Abend geht es bei Maischberger um den barbarischen Terror-Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel. Die grüne Politikerin Marieluise Beck und der Altlinke Gregor Gysi diskutieren über den Konflikt und seine Konsequenzen.

Die Existenz des jüdischen Staates ist die Garantie für Juden weltweit, dass sie frei und in Sicherheit leben können. Er ist das Versprechen: Wenn es in der Heimat nicht mehr zu ertragen ist, gibt es eine zweite. Diese Garantie ist, seit es den Staat Israel gibt, unter Vorbehalt. Arabische Terroristen versuchen seit jeher, den jüdischen Staat zu beseitigen. „Es macht mich traurig, dass sich scheinbar die ganze Welt gegen die Juden verschworen hat“, beklagt Marieluise Beck. „Die Israelis haben keinen Raum, wohin sie gehen können.“ Schließlich ist der Staat Israel umzingelt von Feinden in Syrien, dem Libanon und den palästinensischen Gebieten. Die Palästinenser haben durch ihren mörderischen Terror eine tiefe Wunde in das Herz Israels geschlagen.

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Für Gregor Gysi, Urgestein der Linkspartei, hat die Bedrohung jüdischen Lebens eine historische Vorgeschichte. „Tausende Jahre wurden Jüdinnen und Juden verfolgt“, berichtet er. Für ihn ist der jüdische Staat eine zivilisatorische Errungenschaft. „Durch den Staat Israel haben Juden einen Staat, der sich um sie kümmert.“ Diese Existenz wird nun einmal mehr auf die Probe gestellt. Die ideologischen Nachfahren der SS, in Gestalt der Hamas, haben die Zivilgesellschaft bis ins Mark getroffen. Die gefühlte Sicherheit, in einem geschützten Raum zu leben, ist vorüber. Israel erlebt seinen 9/11-Moment. Doch Beck beschreibt den Unterschied gut: Der Anschlag auf das World Trade Center war für die Vereinigten Staaten traumarisierend, weil er die Schwäche der Großmacht entblößte. Doch das mörderische Schlachten der Hamas in Israel ist existenzbedrohend für den Staat – eine weitreichendere Bedrohung als 9/11 es jemals sein konnte.
Muss sich die Armee zurückhalten?

Die israelische Antwort wird zwangsläufig zu Opfern und Gewalt auf der palästinensischen Seite führen. Doch wie weit kann Israel Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nehmen, wenn es zu einem Vergeltungsschlag ansetzt? Gregor Gysi sieht Israel vor Unwägbarkeiten. „Es gibt Schwierigkeiten, wenn Israel antwortet“, gibt er zu bedenken. „Wir müssen das Völkerrecht durchsetzen“, fügt er hinzu. Die Hamas jedenfalls, welche ihre eigene Bevölkerung als menschliche Schutzschilde benutzt, schert sich wenig um das Völkerrecht. „Das Völkerrecht sagt, der Staat hat das Recht, seine Menschen zu verteidigen“, meint Beck zur Problematik. Und doch: „Die israelische Armee ist keine Terrororganisation.“

Damit spricht sie einen wichtigen Fakt aus. Ein souveräner Staat, welcher von blutrünstigen Terroristen attackiert wird, muss sich militärisch zur Wehr setzen können. Die Terroristen dürfen sich nicht auf Gnade berufen und für den Gegner Spielregeln einfordern, die sie selbst mit den Füßen treten. Trotzdem stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. „Wer hat eine Antwort darauf, wie Israel eine möglichst schonende Antwort auf den Terror findet?“, fragt sie sich deshalb.

Hamas macht die Bevölkerung zu Schutzschildern

Wenn Maischberger Gregor Gysi eingeladen hat, in der Hoffnung, dass der Linke-Politiker mit Beck über das Eingreifen Israels in Gaza streitet, hat sie den falschen Politiker eingeladen. Gysi beruft sich zwar auf Menschen- und Kriegsrecht, wenn er eine Verhältnismäßigkeit der israelischen Truppen fordert. In die Falle, die Israelis von Opfern in Täter zu verkehren, tappt er aber nicht. Anders als es viele andere Vertreter der politischen Linken gern tun.

Politisch analysiert er gut, wie internationale Verhandlungsbemühungen durch gezielte Falschmeldungen von israelischen Kriegsverbrechen sabotiert werden sollen. Die Hamas münzt einen verpatzten Raketenabschuss schon mal in einen israelischen Angriff auf ein Krankenhaus. Durch das perfide Säen von Hass will sie die internationale Vermittlung stoppen. „Die Palästinenser fühlen sich unterdrückt“, sucht Gysi nach Gründen für den Hass. Allerdings unterdrückt die Hamas die eigene Bevölkerung weitaus mehr, als es Israel tut. Die Hamas hat kein Interesse an irgendeiner Lösung, sie lebt vom Zyklus aus Gewalt und Gegengewalt, den sie stets selbst anstößt.

Integrationskraft ist überdehnt

Neben dem Krieg im Nahen Osten geht es in der Sendung noch um das brisante Thema der Migration. Als politische Kommentatoren sind Polit-Rentner Wolfgang Bosbach, die Journalistin Kritstina Dunz vom Redaktionsnetzwerk Deutschland, und der afghanischstämmige Podcaster Khesrau Behroz geladen. Für das CDU-Urgestein Bosbach ist klar, dass die Migration in Deutschland aus dem Ruder läuft. „Die Integrationskraft unseres Landes darf nicht überdehnt werden“, kommentiert er eher diplomatisch.

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Eigentlich verbietet es sich, in der gegenwärtigen Situation von einer angeblichen Integrationskraft zu sprechen. Die Kommunen und Gemeinden sind über dem Limit. Es gibt keine Sprachkurse und keinen Wohnraum. Wieder einmal werden Flüchtlinge in Turnhallen oder Container gepfercht und nur verwahrt. Integration findet wenn, nur noch in homöopathischen Dosen statt.

Die Journalistin Dunz empfindet die Situation ganz anders. „Unser Land ist unglaublich offen“, meint sie: „Ich erlebe eine Willkommenskultur.“ Ihre Einschätzung ist wohl ziemlich entkoppelt vom Rest der Gesellschaft. Von einer Willkommenskultur kann weit und breit nicht die Rede sein. Vielmehr beklagen Vereine, dass ihnen ehrenamtliche Flüchtlingshelfer wegbrechen. Die schiere Masse hat viele zur Resignation und anschließend zur Aufgabe gebracht. Die Lage ist außer Kontrolle.

Braucht es eine Arbeitspflicht für Migranten?

Der Podcaster Behroz stört sich an der Debatte über eine Arbeitspflicht für Migranten. “Ich bin erstaunt, welche Gespräche wir führen“, zeigt er sich irritiert. „Meine Eltern wollten arbeiten und haben gearbeitet“, erzählt er. Er kritisiert die Arbeitspflicht scharf. „Niemand kommt nach Deutschland, um faul herumhängen.“ Dass viele Menschen in der Absicht kommen, einer Arbeit nachzugehen, dürfte richtig sein. Allerdings bietet die staatliche Versorgung durch Bürgergeld einen nicht unerheblichen Anreiz, dann doch nicht zu arbeiten. Für Behroz nur ein Vorteil: Es sei doch „toll“, wenn wir den Menschen hier einen „menschenwürdigen Lebensstandard“ bieten könnten. Geschlossene Grenzen lehnt er ab, die würden ja sowieso nichts bringen.

Die Fakten sprechen eine klare Sprache. Die Hälfte der Migranten, die seit 2015 nach Deutschland gekommen sind, hat keinen Job. Die Mittel zur Versorgung von immer mehr Menschen in den Sozialsystemen sind nicht unendlich. Wolfgang Bosbach hält von der Arbeitspflicht ebenfalls wenig. Er bemängelt die hohen Bargeldleistungen. Selbst SPD-geführte Länder plädieren für Sachleistungen und möchten den Bargeldfluss begrenzen. Wie erst kürzlich berichtet wurde, geben Schleuser Migranten, die nach Deutschland wollen, sogar Kredite: Die deutschen Sozialleistungen machen das zu einer sicheren Geldanlage.

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Die Migrationsfrage ist nach wie vor angespannt: Aber der Wind scheint sich langsam zu drehen. Noch vor wenigen Wochen wäre Bosbach mit seiner kritischen Haltung, so vorsichtig er sie auch vorträgt, allein gewesen. Nun fängt Dunz an, ihn rechts zu überholen. Die Grenzen zu schließen oder abgelehnte Asylbewerber abzuschieben, das erwähnt sie immer noch nicht. Aber eine Arbeitspflicht für Sozialhilfeempfänger ist plötzlich denkbar. So eine Arbeitspflicht ist eine schlechte, schlechte Idee. Wer arbeiten kann, sollte sich eine Erwerbsarbeit suchen, statt mit Sozialhilfe und einer Beschäftigung Arbeit zu simulieren. Aber allein, dass das Thema zur Disposition steht, ist ein Hinweis auf einen sich drehenden Wind.

Zum Interview ist an diesem Abend Otto Schily bei Maischberger. Es ist ein faszinierendes Gespräch mit dem mittlerweile 91-Jährigen, das klar macht: Keines der Probleme, mit denen sich die Bundesrepublik konfrontiert sieht, ist neu. Ihre Wurzeln haben sie schon in den Frühjahren der Republik, als das individuelle Recht auf Asyl in das Grundgesetz geschrieben wurde. Doch damals waren die Situation und die Intention eine andere. Unter Innenminister Schily im Kabinett Schröder I entbrannte eine Migrationsdebatte, als er vorschlug, schon in Afrika Asylverfahren durchzuführen, damit sich die Migranten gar nicht erst auf den Weg nach Europa machen.

Die Unfähigkeit der Bundesregierung, sich damals mit der Migration auseinanderzusetzen, konnte erst das Debakel von 2015 entstehen lassen: Die viel schwächeren Regierungen seitdem können das Problem nicht einmal ansprechen. Schily beschreibt die Migration als ein „Kaleidoskop an Problemen“, und obwohl alle Redner an diesem Abend den Satz Seehofers, „Die Migration ist die Mutter aller Probleme“, ablehnen, muss man sich fragen, ob nicht eine Abwandlung stimmt: Das Versagen der Politik, die Probleme der Migration zu adressieren, ist die Mutter aller Probleme.

Otto Schily ist ein Mann, bei dem es sich immer lohnt, ihm zuzuhören – wenn Maischberger ihn ausreden lassen würde. Mal um mal fällt sie ihm ins Wort, auch weil Schily zu langen, wenig talkshowfreundlichen, aber spannenden Ausführungen neigt. Kurz vor Schluss will sie noch den Dolchstoß von ihm: Was er denn von Schröder und seiner Beziehung mit Putin halte? Doch Schily verweigert eine Antwort. „Gerhard Schröder ist mein Freund“, sagt er. Und damit ist die Diskussion vorbei.

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