Tichys Einblick
Nach Niedersachsen-Wahl

Lösung für Anne Will: CDU und FDP müssen grüner werden

Schlechtes Management, niedrige Zufriedenheit für die Ampel. Wieso kann die CDU von dieser Krise der Bundesregierung nicht profitieren? Weil die CDU die Regierung zu viel kritisiere – so sehen das Gäste bei Anne Will.

Screenprint: ARD/Anne Will

Julia Reuschenbach ist Politikwissenschaftlerin. Manchmal liegt sie daneben. Etwa wenn sie vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen ein enges Rennen zwischen CDU und SPD voraussieht. Aber falsche Prognosen disqualifizieren einen in der ARD nicht als Experten. Zumal wenn sie wie Reuschenbach wichtige Voraussetzungen mitbringen: Sie ist eine Frau, redet über Politik und vor allem ist sie eine Frau. Da ist die Expertinnenkarriere sicher.

Reuschenbach weiß, warum die FDP in Niedersachsen aus dem Landtag geflogen ist: Die Liberalen hätten sich zu viel gestritten mit SPD und Grünen. So entstünde ein Bild, das der Wähler nicht verstehe. Nicht die uferlose Staatsverschuldung ist das Problem. Nicht die Wirtschaft, die den Betrieb drosselt und vielleicht bald ganz einstellen muss, weil nicht genug Energie da ist – während Deutschland Atomkraftwerke stilllegt. Und auch nicht, dass die FDP „die strengsten Regeln“ in Europa als Corona-Maßnahmen durchwinkt. Das alles erwähnt Reuschenbach in ihrer Analyse nicht. Nur dass sie bei alledem harmonischer mit SPD und Grünen agieren müssen, die Liberalen, analysiert die Wissenschaftlerin.

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Das gelte auch für die CDU. Die ist in der Opposition. Und so etwas muss auch in der Welt von Julia Reuschenbach möglich sein. Schon. „Natürlich“ dürfe die sogar kritisch sein. Aber es folgt ein Aber. Die Wortwahl … Konstruktiver müsse die sein und gesetzter. Mit dem Wort „Sozialtourismus“ habe der CDU-Chef Friedrich Merz sich disqualifiziert.

Mit Reuschenbach hat Will eine Gästin gefunden, die ihr Vorlagen in die Füße spielt. Denn an diesem Punkt setzt sie ihre Befragung von Jens Spahn (CDU) an. Merz habe die Wahl zur „Volksabstimmung über Atomkraft“ gemacht. Was bedeute das jetzt für das Thema? Was Anne Will mit der Frage will, ist nicht schwer zu verstehen. Ebenso wenn sie das Merzsche Stichwort vom „Sozialtourismus“ aufgreift. Ob das nicht mehr der AfD genützt habe? Auch da ist Wills eigene Meinung nicht schwer zu entziffern.

Doch Spahn hält dagegen. Die Wortwahl im ersten Anlauf sei schlecht gewesen. Aber die andere Seite habe diese Wortwahl genutzt, um das Thema niederzuschlagen. Merz habe nachgelegt und mit einer sachlichen Argumentation darauf hingewiesen, dass höhere Sozialleistungen für Einwanderungswillige attraktiv seien – ein „Pull-Faktor“, der sie nach Deutschland lockt. Und dass der Umfang der Einwanderung aktuell zu einem Problem werde.

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Ricarda Lang ist auch da. Sie erledigt die Aufgabe, die grüne Parteichefinnen in öffentlichen Debatten haben: Sie stellt andere Meinungen in die rechte Ecke – „hilft der AfD“, und neuerdings bediene es auch russische Propaganda. Da ist es dann der Vize-Chef der Welt, Robin Alexander, der eingreift: „Das macht die Debatte platt.“ Ein sachlicher Begriff wie Pull-Faktor, der sich nachweisen lässt, dürfe nicht gleichgestellt werden mit „Sozialtourismus“. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil macht einen Kompromissvorschlag. Man dürfe auch über Themen wie Missbrauch von Einwanderung reden, aber nicht kurz vor Wahlen. Angesichts einer Bundestagswahl, einer Europawahl und 16 Landtagswahlen dürfte es einigermaßen schwer werden, einen Termin für die Debatte zu finden.

Alexander ist der Spielverderber, wenn es für Will darum geht, die Talkshow in das übliche Grün zu färben. Will betont den Zugewinn der Grünen. Alexander erinnert die Zuschauer daran, dass der auf ein sehr schlechtes Ergebnis von 2017 aufschlägt. Und dass die Grünen zwischenzeitlich in den Umfragen bei 22 Prozent in Niedersachsen standen. Bevor Robert Habeck sich in Sachen „Gasumlage“ als Dilettant erwies.

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Die Debatte bei Anne Will dreht sich darum, warum Rot-Grün erfolgreich war und CDU oder FDP nicht. Die Show kratzt damit an der Oberfläche und will auch nicht mehr. Zumindest nicht, wenn sich die eigene grün-rote Agenda der Redaktion so schön darauf spiegelt. Eine interessante Grafik der Tagesschau ist zu sehen: 68 Prozent der Bundesbürger sind demnach mit der Bundesregierung unzufrieden. In Niedersachsen sind es nur 54 Prozent. Eine mögliche Erklärung, warum es keine Wutwahl wurde – von der Beinahe-Verdopplung des AfD-Ergebnisses abgesehen.

Aber eine entscheidende Gruppe wird bei Anne Will nicht einmal erwähnt: die Nichtwähler. Sie sind mit 40 Prozent die mit Abstand größte Gruppe bei dieser Wahl. Rechnet man sie mit ein, haben SPD, CDU, Grüne und FDP weniger Stimmen als Nichtwähler, AfD und andere nicht im Parlament vertretenen Parteien. Dann wäre es ja vielleicht doch eine Wutwahl. Und dann wäre es vielleicht auch ein schlechter Rat, würden FDP und CDU einfach charmanter mit Rot-Grün umgehen. Doch das bleibt alles unerwähnt – es passt auch nicht ins Bild, das Anne Will will.

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