Tichys Einblick
Berichterstattung über Ungarn

„König Orbán” und die einäugige Journalistin

Eine Reportage wollte zeigen, wie das "System" von Ministerpräsident Viktor Orbán („König Orbán”) in Ungarn funktioniert. Es wurde eher ein trauriges Musterbeispiel dafür, wie zeitgenössische Ungarn-Berichterstattung (zu) oft funktioniert.

Ministerpräsident Viktor Orban bei seiner Rede zur Lage der Nation, 18.02.2023

IMAGO / Xinhua

Kürzlich erschien in der NZZ eine Reportage über Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán („König Orbán”) und darüber, „wie sein System funktioniert”. Sie zeigte aber eher, wie zeitgenössische Ungarn-Berichterstattung (zu) oft funktioniert. Nie geht es um das Land, sondern immer um den bösen, schurkenhaften Orbán – und warum er so böse und schurkenhaft ist. Dazu sucht man sich irgendwie zusammen, was zur Drapierung des Narrativs taugt. Mit beiden Augen hinsehen braucht man dabei nicht, eines genügt vollauf. Als Sinnbild für ihre Geschichte wählt die im Übrigen hoch angesehene, mehrfach preisgekrönte Reporterin Anja Jardine die Schmalspurbahn von Felcsút, Orbáns Heimatort.

Es ist auch ein gutes Sinnbild für die enge Bahn ihrer eigenen Gedanken. Nie entgleist sie aus der schmalen Spur der gebräuchlichsten Orbán-Gemeinplätze, nirgendwo ist ein Bedürfnis spürbar, „beide Seiten der Geschichte“ anzuhören. Außer einem Ortsansässigen kommt niemand zu Wort, der etwas Positives über Orbán zu sagen hätte. Der wird aber lässig als Rassist markiert, denn er meint, Orbán hätte einen Weg gefunden, mit den Roma umzugehen.

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Der Artikel beginnt mit dem Eingeständnis, offenbar kein Ungarisch zu können. Am Bahnhof kritzelt ein Bahnbeamter eine Uhrzeit auf ein Stück Papier, „nachdem die Verständigung anders nicht geklappt hatte“. Dann wird gedichtet: Hier in Felcsút ist Orbán „fern von Brüssel“ (wie vermutlich auch die Autorin selbst, wo immer sie wohnen mag). Er ist „fern der Lehrerproteste in Budapest“. Die sind allerdings keine Budapester Proteste, sondern landesweite, weil die Anliegen der Lehrer landesweit relevant sind (miserable Bezahlung), was die Regierung von Anfang an auch offen anerkannt hat und sich um eine Lösung bemüht. Allerdings sind diese Proteste zum Zeitpunkt des Artikels längst abgeflaut, zumindest im Vergleich zum vergangenen Herbst.

Und Orbán ist „fern der zunehmend verstörenden Armut“ im Land. Armut ist zwar ein echtes Problem, aber sie nimmt seit Jahren nicht zu, sondern ab, und verstörend ist höchstens das Unwissen der Autorin darüber. Nicht nur stimmt es nicht, sondern die Reporterin segelt damit gleich zu Beginn ihres Textes komplett an Orbáns Erfolgsgeheimnis vorbei. Also an ihrem Thema: „Wie Orbáns System funktioniert“.

Es sind diese Menschen, jene, denen es am schlechtesten geht, die ihn immer wieder wählen. Weil es ihnen zwar schlecht geht, aber etwas besser als früher. Dafür werden sie von Budapests arroganten Intellektuellen, von den Reicheren, gehasst und beschimpft. Das ungarische Facebook ist voll von solchen Wutausbrüchen der urbanen, wohlsituierten Bildungsschicht gegenüber den „Bauern“ und „Idioten“ auf dem Land. Das ist die Opposition.

Die Armut ist in Ungarn, wie in anderen Ländern der Region, ein Erbe des Kommunismus. Hinzu kommt ein relativer großer Anteil von Roma. Sie wurden Opfer nach Ungarns Übernahme des westlichen liberalen Gesellschaftsmodells. Vorher hatten alle Jobs, auch wenn das nicht nachhaltig war. Auf Anraten westlicher Ökonomen und Reformer wurde die Wirtschaft brutal liberalisiert, mehr als eine Million Arbeitsplätze verschwanden, 90 Prozent der Roma verloren ihre Jobs.

Dann kümmerte sich 15 Jahre lang niemand um das Problem. Die heutige Opposition war an der Macht. Weil sich niemand darum kümmerte, entstand die radikal rechte Partei Jobbik: Viele chronisch arbeitslose Roma versuchten, ihre Familien durch – in Budapest belächelte – Vergehen wie Kartoffelklau zu ernähren. Das machte aber die ebenfalls nicht sonderlich reichen Kleinbauern wütend. Nur Jobbik hörte ihnen zu und nutzte ihren Groll politisch aus.

Dann kam Fidesz. Der erste große Schritt der Regierung Orbán war es, eine Strategie auszuarbeiten, um die Roma zu integrieren und Tiefenarmut zu bekämpfen. 2011 übernahm die EU diese ungarische Strategie offiziell als Empfehlung für alle Mitgliedsländer.

Im Jahr 2021 lebten laut nationaler Statistik 12,2 Prozent der Ungarn unter der Armutsgrenze, was etwa dem vergleichbaren (national gemessenen) Wert in Frankreich entspricht. (Aber natürlich sind die Allerärmsten in Ungarn ärmer als die ärmsten Franzosen.) 2020 waren es 12,6 Prozent, und in den Jahren davor noch mehr. In Ungarn nimmt Armut ab, sie nimmt nicht zu.

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Orbán selbst beobachtet vor allem einen Wert sehr genau: wie viel Prozent ihres Einkommens die ärmsten Bevölkerungsschichten für Grundnahrungsmittel ausgeben müssen. Im Herbst 2022, als er sich intern bei einem Treffen mit Fidesz-Anhängern zur aktuellen Wirtschaftskrise äußerte, betonte er, dass es gelungen sei, diesen Wert in den letzten Jahren deutlich zu senken. Und er nannte es eine Priorität, Krise hin oder her, an dieser Politik der Armutsbekämpfung festzuhalten. (Ich zitiere aus dem Gedächtnis, es war off the record, aber sei’s drum.)

Warum ist ihm das so wichtig? Weil diese Menschen seine Wähler sind.

Doch zurück zum Text. Orbán verbringt „so viel Zeit“ in Felcsút, weil er dort fern von Brüssel, von Protesten und von der Armut ist – also, so wird suggeriert, fern von der Realität. In Wirklichkeit verbringt er eher wenig Zeit in Felcsút. Es ist die wohlsituierte Opposition, die sich im Budapester Elfenbeinturm verschanzt, deswegen nie wirklich versteht, was los ist im Land, und deswegen jede Wahl verliert. Ungarns reichster Politiker ist Oppositionsführer Ferenc Gyurcsány, der zur Zeit fragwürdiger Privatisierungen des kommunistischen Parteivermögens nach der Wende ein vermögender Mann wurde. Aber seine Frau, die Europaabgeordnete Klára Dobrev, ist reicher. Sie ist eine Enkelin des einstigen Strippenziehers im kommunistischen Zentralkomitee, Antal Apró.

Orbán hingegen hat meistens den Finger am Puls der Gesellschaft. Er versteht, was die Menschen auch außerhalb Budapests bewegt. Meist sind es nicht die Dinge, die liberale Intellektuelle bewegen.

Die NZZ-Geschichte erzählt viel Biografisches – wie und wo Orbán aufwuchs. Die Autorin hat einiges gelesen, namentlich erwähnt wird allerdings nur einer von vielen Orbán-Biografen – József Debreczeni, aus dem Umfeld der oppositionellen Demokratischen Koalition.

Entlang der Stationen seines politischen Lebens wird die gängige Geschichte erzählt, wie Orbán Ungarn korrumpiert habe, die Medien gleichgeschaltet, wie er die EU-Gelder seinen Kumpanen zuleiten lässt. Es wird suggeriert, dass das in die Diktatur führt.

Es ist eine Geschichte, die man auch anders erzählen kann. Wie nach der Wende die Kommunisten die quasi monopolistischen Medien der Diktatur an westliche Verlage gaben, wobei aber ihre Leute in diesen Medien blieben. Wie die Linken auf diese Weise fast die komplette Medienlandschaft sowie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk beherrschten. Wie das Vermögen der einstigen Kommunisten so privatisiert wurde, dass daraus ein wirtschaftlicher Hinterhof der Sozialisten wurde. Und wie Orbán versuchte, trotz dieser strukturellen Nachteile es mit Fairplay in der Politik zu versuchen – aber am Ende einsehen musste, dass das Spielfeld stark nach links neigte. Also versuchte er, Strukturen zu ändern.

Dazu gehörte auch der Versuch, die EU-Gelder anders zu verteilen – nachdem der französische Ökonöm Thomas Piketty 2016 nachweisen konnte, dass diese Gelder überwiegend gar nicht Ungarn zugutekommen, sondern an westliche Konzerne und Eigentümer zurückfließen. Orbán versuchte, inländische Großunternehmen aufzubauen, die mit den westlichen Konzernen mithalten können. Der Streit mit der EU um diese Gelder dreht sich genau darum.

Die Autorin erwähnt diesen Aspekt mit einem Satz, in dem sie Sorge trägt, falsch zu übersetzen. Aus dem in Ungarn üblichen Begriff „nemzeti tőke“ („nationales Kapital“, womit Kapital in den Händen ungarischer Eigentümer gemeint ist) wird ein furchterregendes „nationalistisch-kapitalistisches“ System. (Auf ungarisch würde das, wenn jemand solche Begriffe benutzen würde, „nacionalista-kapitalista“ heißen müssen.)

Kritik ist übrigens berechtigt: Ungarns Zukunft hängt davon ab, ob dieses „nationale Kapital“ effizienter und für das Land besser funktionieren kann als das Kapital westlicher Großkonzerne. Das ist nicht sicher, und muss genau analysiert werden. In Ungarn selbst gibt es darüber lebhafte Debatten, auch innerhalb der Regierungspartei.

Zurück zum Text. Zitiert werden einige frühere Weggefährten Orbáns, vorausgesetzt, sie haben sich mit ihm überworfen und sagen Schlimmes über ihn. Da ist Lajos Simicska, der verbal vulgärste Fidesz-Politiker aller Zeiten, der in seiner Wut auf Orbán einst jedem Journalisten, dessen er gewahr wurde, ungefragt mitteilte, Orbán sei ein „Geci“ (ungarischer Kraftausdruck, der „Sperma” bedeutet“). Er wird als Autorität herangezogen: „‚Er ist der Klügste von uns allen‘, hat Orbán früher einmal über ihn gesagt. Vermutlich deswegen kam es nach 30 Jahren Freundschaft zwischen ihnen zum Showdown.“ Was genau zwischen den beiden Männern ablief, wird einst Historiker beschäftigen. Mein Tipp ist, dass Simicska ein Staat im Staate werden wollte, und sich verrechnete. „Seltsam nur, dass er danach zur rechtsextremen Jobbik-Partei wechselte“, wundert sich die Autorin. Ja, warum nur? Vielleicht, weil er doch nicht so klug war? Dennoch wird er für die Suggestion herangezogen, bei Orbán laufe es „auf eine Diktatur hinaus“.

Das darf dann auch auch Ákos Hadházy sagen, ein politischer Jongleur, der bei Fidesz begann, dann zur links-grünen LMP ging, bis er sich dort unbeliebt machte, und bei den letzten Wahlen von der urbanen Yuppie-Partei Momentum unterstützt wurde. Wer weiß, wohin es ihn auf seiner Suche nach politischem Erfolg noch verschlägt. Er wird von der Autorin „couragiert“ genannt, was er teilweise durchaus ist – er hat mehrere Korruptionsfälle aufgedeckt, nicht nur bei Fidesz-Politikern.

Jedenfalls ist es als Oppositionsabgeordneter seine Mission, der Regierung möglichst großen Schaden zuzufügen. Ihm widmet die Autorin 4500 Anschläge, quasi ein Artikel im Artikel, ganz am Ende, als Schlusspunkt mit besonderer Wucht. Der „Übergang von Demokratie zu Diktatur“ sei in Ungarn „fließend“, sagt er. Das wird, wie zuvor Simicskás Zitat, ohne Gegenstimme (Experten? Politologen? Eventuell mit konträren Meinungen?) stehengelassen. So klingt der Artikel aus.

In Wahrheit braucht es nur eines, um Fidesz von der Macht zu trennen: Eine relative Mehrheit der Ungarn müsste bei Wahlen entscheiden, dass sie lieber von jemand anderem regiert werden wollen. Dass das bislang nicht gelang, liegt vor allem daran, dass die Opposition dem Land kein überzeugendes Gegenangebot macht. Auch wenn Hadházy und andere Oppositionelle den Fehler überall suchen, nur nicht bei sich selbst.

Glaubwürdige Experten, und sogar führende Oppositionspolitiker, die das sagen können, gibt es zuhauf. Einige Tipps für die Zukunft, falls es die Autorin mal wieder nach Ungarn verschlägt: Momentum-Politikerin Anna Donáth, Budapests Bürgermeister Gergely Karácsony, sogar der gescheiterte Spitzenkandidat Péter Márki-Zay – sie alle haben das Problem vor allem in den eigenen Reihen verortet. Sie wurden von der NZZ nur nicht gefragt.

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