Tichys Einblick
Wochenrückblick

In den Medien schwarze Löcher

Was medial fehlt, gehört trotzdem zur Struktur. Ja, es macht die meisten Medien überhaupt erst typisch, so wie die Löcher den Almkäse.

National Science Foundation via Getty Images

Was lesen wir selten bis nie? Die vergangene Woche eignet sich bestens als Studie des Fehlenden. Was fehlt, strukturiert die Medien trotzdem, ungefähr so wie die Löcher den Käse und die nur schwer fotografierbaren schwarzen Löcher das Weltall.

Es gibt etwas, das in der Qualitätspresse noch seltener vorkommt als ein sichtbares Schwarzes Loch oder nachgewiesene Antimaterie im All. Nämlich ein irgendwie vorsichtig positives Wort über den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu.

Netanjahu besiegelte in der vergangenen Woche seinen Untergang (Zeit Online: „Mit Benjamin Netanjahu in den Abgrund“), beziehungsweise, er rettete sich ein allerletztes Mal.

Rein faktisch gewann er bei der Wahl eine fünfte Amtszeit, was in Ländern mit parlamentarischer Demokratie selten vorkommt. Die Nahostreferenten deutscher Qualitätsmedien vermag er damit nicht zu täuschen. Neben Donald Trump und Viktor Orbán gehört Benjamin Netanjahu, siehe oben, zu den Figuren, über die 90 Prozent der deutschen Presseorgane – mit Ausnahme von Welt und BILD – noch nicht einmal der Form halber einen milden oder auch nur neutralen Halbsatz verlieren. Davon würden sie auch nicht abweichen, wenn Angela Merkel dem Israeli zum Wahlsieg gratuliert hätte – was sie, keine Bange, im Gegensatz zu Donald Trump und Sebastian Kurz unterließ.

Eine kleine Presseschau: „Der ewige Netanjahu“ titelte die „Frankfurter Rundschau“. Um später die Überschrift zu ändern und folgende zerknirschte Erklärung abzugeben:

„Wir wollten auf die Dauer der Amtszeit des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu hinweisen – und haben dabei nicht bedacht, dass die Nationalsozialisten 1940 mit dem antisemitischen Propaganda-Film ‚Der ewige Jude’ gegen Juden gehetzt haben. Diese Geschichtsvergessenheit bitten wir zu entschuldigen.

Wir ringen täglich um die richtige Wortwahl, nicht nur bei Schlagzeilen und Überschriften. Das gelingt uns oft, aber leider nicht immer. Wenn uns dann trotz aller Vorsätze und Kontrollen mal doch etwas Derartiges durchrutscht, bedauert das niemand so sehr wie wir selbst.
Die Chefredaktion“

Das Durch- beziehungsweise Herausrutschen beschrieb schon Sigmund Freud mit seinem Konzept des Wiederholungszwangs. Natürlich fällt einer Zeitungsredaktion diese Überschrift im Leben nicht ein, weil es 1940 den Film  „Der ewige Jude“ von Fritz Hippler gab. So, wie Jakob Augstein seinerzeit auf Spiegel Online nicht ernsthaft Schuldabwehr betreiben wollte, als er den Gaza-Streifen ein „Lager“ nannte („Gaza ist ein Ort aus der Endzeit des Menschlichen. Gaza ist ein Gefängnis. Ein Lager.“)

Freud hin, Freud her, die FR-Überschrift hätte wirklich nicht sein müssen; der Hauptvorwurf gegen Netanjahu lautet nämlich gar nicht, dass er Jude, sondern, dass er rechts und nationalkonservativ ist, wie die „Frankfurter Rundschau“ ausführt:
„Für Israels Demokratie lässt das nichts Gutes erwarten. Rechtsnational war schon die noch amtierende Regierung. […] Israel ist auf einen gefährlich abschüssigen Weg geraten.“

Netanjahu ist nicht nur rechts, sondern mehr noch, ein Populist, wie die „Süddeutsche“ die Wahl in Israel kommentiert:

„Als Populist, als Hardliner, als Medienprofi, der immer gewusst hat, den Diskurs in Gesellschaft und Politik zu steuern und zu dominieren. Der mit seiner Angstrhetorik dazu beigetragen hat, dass Israels Wähler sich immer wieder vom Thema Sicherheit haben einfangen lassen.“

Die innenpolitische Debatte in Israel wird nämlich gar nicht durch den Raketenbeschuss durch die Hamas bestimmt. Sondern durch die Angstrhetorik Netanjahus, der populistisch auf die Unversehrtheitswünsche der Israelis reagiert, statt  sich von der taz-Nahostbeauftragten Susanne Knaul sagen zu lassen, wie es besser ginge:

„Mit den Raketen auf die grenznahen israelischen Ortschaften kann man sich arrangieren. Öffentliche Gebäude sind sicher konstruiert, die Bevölkerung ist geschützt, erhält Steuervergünstigungen und ist die seit Jahren regelmäßig aufheulenden Sirenen gewohnt.“

Am besten arrangiert man sich mit Hamas-Raketen auf Israel in der taz-Redaktion von Berlin-Kreuzberg, wo die Journalistinnen und Journalisten andererseits von Angriff sprechen, wenn ein halbes Dutzend Identitäre vor dem Gebäude Flugblätter verteilen, und über eine Redakteurin melden, sie sei „am Oberkörper getroffen worden“. Was allerdings auf einem Video der Langemarck-Szene nicht ganz so deutlich zu sehen war.

Aber egal: die Juden, die sicher und mit Steuervergünstigungen im Luftschutzbunker von Sderot hocken, sollten ruhig ein Mindestmaß Empathie mit dem Volloberkörpertreffer einer Tageszeitungs-Redakteurin aus der Rudi-Dutschke-Straße zeigen.

Die schon erwähnte „Zeit Online“ schrieb kurz vor der Israel-Wahl:

„Netanjahu hat etwas von einem waidwunden Tier, das in die Ecke gedrängt wurde. Er wird mit aller Brutalität, Skrupellosigkeit und Aggression zurückzuschlagen versuchen. […] Aus Angst, nach dem 9. April nicht genügend Koalitionspartner zu haben, da viele rechte Parteien in den Umfragen unter der 3,25-Prozent-Hürde bleiben, überredete er die schwächelnde Siedlerpartei HaBait HaJehudi (“Das jüdische Haus”) mit der ultrafaschistischen Partei Otzma Yehudit (“Jüdische Kraft”) ein Bündnis zu schließen. Letztere ist die Nachfolgepartei der in Israel verbotenen Kach-Partei des Rabbis Meir Kahane […] Die Kahanisten damals und heute sind Faschisten, sie sind Rassisten, Sexisten, wollen alle Palästinenser, eben auch jene 1,8 Millionen Menschen, die israelische Staatsbürger Israels sind, aus dem Land vertreiben.“

Ein waidwundes Tier mit aller Brutalität und Skrupellosigkeit, ein ewiger Rechter, ein Populist, ein Faschistenalliierter, ein Unglück für Israel und den ganzen friedliebenden Nahen Osten: Sich in Sachen Netanjahu nicht mit unnötigen Zwischentönen aufgehalten zu haben und trotzdem bis auf unvermeidliche Schwächen wie bei der „Frankfurter Rundschau“ anständig geblieben zu sein ist ein zwar schon mehrmals geschriebenes, aber immer wieder neu zu schreibendes Ruhmesblatt der bundesdeutschen Israelberichterstattung.

Differenzierung muss natürlich sein, wenn es um den Nahen Osten geht. Beispielsweise, wenn von den Gegenspielern des Quasifaschisten von Jerusalem die Rede ist („palästinensischen Kräfte“), mit denen ein anderer israelischer Premier unter Aufsicht der deutschen Schriftleitung schon längst dauerhaften Frieden geschlossen hätte:


Weshalb die unvorteilhaften Fotos praktisch nie in den Blättern erscheinen, die das Genre „Israelkritik“ pflegen.

In der Israel-Wahlberichterstattung kam übrigens auch kaum vor – aber dahinter steckt vermutlich noch nicht einmal Absicht – dass die Arbeiterpartei, gewissermaßen die SPD Israels und früher häufig Regierungspartei nur noch mit sechs  Parlamentariern in die 120 Abgeordnete zählenden Knesset einzieht. Ob die Sozialdemokraten in Tschechien oder die Sozialisten in Frankreich: Der Bereich zwischen fünf und sieben Prozent scheint für viele der ehemaligen Traditionsparteien so etwas wie eine Endstufe darzustellen.

Aber zurück zu den schwarzen Löchern: Was kam noch selten vor?  So, wie ein inneres Gesetz will, dass in 90 Prozent der Presseorgane nie, niemals ein nichtabfälliger oder wenigstens neutraler Satz über Benjamin Netanjahu erscheint, gibt es in den gleichen Medien umgekehrt kein Porträt eines Grünen-Politikers, das nicht von der Fülle des Wohlklangs getragen würde. Eher steigt Greta Thunberg in der neuen Woche zur Co-Päpstin auf, als dass ein Haltungsredakteur davon auch nur zeigefingerbreit abweicht.

Bei der ZEIT mögen sich die Redakteure in der vergangenen Woche gedacht haben, dass es in den letzten Monaten möglicherweise einen Overkill an Robert-Habeck-Porträts in der Medienöffentlichkeit gegeben hat. Wie gegensteuern? Nun, sagte man sich: mit einem Anton-Hofreiter-Porträt. Dafür räumte das Blatt das ehrwürdige Dossier frei, drei lange  Seiten, unter der Überschrift „Der Renntiger“. Renntiger, so erfahren wir, hieß die Ski-Marke, mit der der junge Anton – nein, nicht wie Netanjahu in den Abgrund, sondern einfach nur talwärts fuhr.

Nicht, dass es ein Problem wäre, nach all den Habeck-Stücken jetzt auch ein Hofreiter-Porträt zu schreiben. Der Punkt ist: Es klingt so wie die Netanjahu-Porträts in Zeit Online und anderswo, nur eben mit exakt entgegengesetztem Vorzeichen:
„Hofreiter ist zur Stelle, wenn er gebraucht wird, spielt sich aber nicht auf. Er verfügt nicht über die Talkshow-Nonchalance der Co-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, nicht über die managerhafte Leichtigkeit des früheren Parteichefs Cem Özdemir, nicht über die schillernde Theatralik der Abgeordneten Claudia Roth, nicht über das gepflegt verwitterte Gitarrensolo-Gesicht des grünen Parteichefs Robert Habeck. Anton Hofreiter ist einfach nur Anton Hofreiter.“

Im Laufe des Textes informierte der Autor seine Leser darüber, dass Anton Hofreiter sich wie viele Frauen „auf sein Äußeres reduziert“ fühlt.


Was er, ganz nebenbei, ruhig für eine Win-Win-Situation halten kann.
Der Autor hätte Hofreiter auf eine Meldung ansprechen können, die ebenfalls nur sehr spärlich und klein hier und da auftauchte: Am Dienstag entschied das Holsteinische Oberlandesgericht in letzter Instanz, dass Eltern, die sich geweigert hatten, ihren Sohn an einem Moscheebesuch im Rahmen des Schulunterrichts teilnehmen zu lassen, ein Bußgeld von 50 Euro zahlen müssen – wegen Verstoßes gegen die Schulpflicht. In Zeiten des von Robert Habeck mit dem Luftgitarrenspielergesicht sowie nachgeordnet von Bundespräsident und Bundeskanzlerin abgesegneten Klimaschulfernbleibens wäre diese Frage an Anton Hofreiter nicht ohne Reiz gewesen, zumal er sich kürzlich im Deutschlandfunk sehr ausführlich gegen Strafen für weltanschauliches Schulschwänzen ausgesprochen hatte. Sollte aber nicht sein. Tausendmal schade.

Es fehlt also fast immer eine ausgenüchterte Berichterstattung über den ewigen Netanjahu, es fehlt eine wenigstens formal distanzierte Beschreibung des grünen Spitzenpersonals, es kommen die einen oder anderen Kleinmeldungen zu kurz. Aber eins passiert praktisch gar nicht mehr: Dass falsche Überschriften korrigiert werden. Das Portal „Übermedien“ hatte ebenso wie Publico die Berichte etlicher Medien über eine Anfrage der saarländischen AfD-Fraktion zu so genannter Messer-Kriminalität auseinandergenommen. „Die meisten Messer-Angreifer heißen Michael“, titelte Spiegel Online, etliche andere Qualitätsorgane überschrieben ihre Texte ähnlich, nämlich ähnlich falsch. Denn die meisten Messer-Täter heißen weder im Saarland noch außerhalb Michael. Noch nicht einmal die deutschen Messertäter – und nur nach deren Vornamen hatte die AfD überhaupt gefragt. Übermedien wollte in der vergangenen Woche von Spiegel Online, RTL und anderen wissen, warum die in ihren Online-Auftritten ihre offensichtlich falschen Überschriften nicht korrigierten.

„Aber es meldete sich niemand. Korrigiert wurde auch nichts“, schreibt Übermedien in seinem Newsletter. 

”Doch jetzt haben wir ja endlich eine Antwort – die aber nichts erklärt: RTL.de, schreibt RTL per Mail, beschreibe‚ in dem Artikel rein nachrichtlich, was der Inhalt der (AfD-)Anfrage gewesen ist und zitiert die „Saarbrücker Zeitung”.

 Hm. Irgendwer müsste RTL noch mal erklären, dass es um die Überschrift geht: Weil eben nicht die meisten aller Messerstecher im Saarland Michael heißen, sondern die meisten aller deutschen Messerstecher. Aber, gut, wer differenziert heute schon noch? Und die Kollegen werden sicher irgendeinen Grund haben, an dem Fehler festzuhalten. Ob wir noch mal nachfragen?”

Wie gesagt: das, was medial fehlt, gehört trotzdem zur Struktur. Ja, es macht die meisten Medien überhaupt erst typisch, so wie die Löcher den Almkäse.

Um ehrlich zu sein: Angenommen, in der „Süddeutschen“ erschiene ein sachlicher Text über Israel, in der ZEIT ein, nun ja, kritisch-ätzendes Porträt über Robert Habeck und im STERN ein entspannt haltungsloses Stück über Sachsen, die Tagesthemen würden einen längeren Beitrag über die Rendsburger Moscheeverweigerungs-Familie senden, und mehrere Portale würden falsche Überschriften, mit denen sie Haltung demonstrierten, korrigieren und sich sogar entschuldigen – die meisten Mediennutzer kämen sich dann ja vor, als wären sie in einem komplett anderen Land.

Und das ist ja wohl Aufgabe der Medien: Ein gewisses heimatliches Grundrauschen zu erzeugen, das den meisten erst auffallen würde, wenn es plötzlich nicht mehr da wäre.


Der Beitrag von Alexander Wendt ist zuerst bei PUBLICO erschienen.