Tichys Einblick
Keine Lösung in Sicht

hart aber fair: In der Paketbranche ist alles hart und nichts fair

Hart aber fair am vorletzten Montag vor Weihnachten. Zum Jahresausklang soll es in etwa darum gehen, dass Arbeit kein Wunschkonzert sei. Und ein Recht auf Arbeit gäbe es schon gar nicht.

Screenprint:ARD/hart aber fair

„Feste Jobs gestrichen, Löhne gedrückt: Ist das die neue Arbeitswelt?“ lautet der exakte Titel bei hart aber fair. Konzerne würden tausende Industriejobs streichen, dafür brumme der Arbeitsmarkt für Paketboten und Co. Aber wie ist das eigentlich, wenn der Mindestlohn zum Standardlohn für vermeintlich einfache Tätigkeiten wird, wenn der Staat die Mindestlöhner millionenfach aufstocken muss, weil sich das Exklusivheer der Arbeitgeber brutal genau an die verbindliche Untergrenze hält und keinen Cent mehr bezahlen will?

Nicht selten sollen ursprünglich moderate Löhne sogar nach unten hin angepasst worden sein, frei nach dem Motto, nur derjenige, der weniger zahlt als Mindestlohn, ist doch der Ausbeuter. Fragt man Studenten, die ihre Jobs früher nach Entlohnung auswählen konnten – härtere Arbeit, mehr Geld – dann ist alles über Mindestlohn heute eine seltene Ausnahme. Stimmt die These, dass im Durchschnitt die Löhne sogar niedriger sind, als vor der Einführung des Mindestlohns? Haben die Linken also Recht, wenn sie auf eine Erhöhung von zwölf Euro irgendwas pochen?

Gäste bei Plasbergs hart aber fair sind die SPD-Bundestagsabgeordnete Leni Breymaier, sie leitete jahrelang den Landesbezirk Baden-Württemberg für die Gewerkschaft ver.di. Ebenfalls dabei ist Florian Gerster, Vorsitzender des Bundesverbandes Paket und Expresslogistik und Bernhard Emunds, Professor für christliche Gesellschaftsethik und noch irgendwas in Frankfurt am Main. Nicht gebürtig, aber Wahlfrankfurter ist Roland Tichy. Der Namensgeber dieses Portals zeigt außerhalb des Talkshow-Lebens auch mal neokapitalistische Reflexe – mal schauen, was er sich bei Plasberg in der roten Kulisse traut. Im Vorhinein kam obendrein eine Chefmail: „Lieber Wallasch, wenn sie mich schonen, haben Sie leider umsonst geschrieben, fangen Sie heute also nicht mit irgendwelchen vorgezogenen Weihnachtsgeschenken an.“ Drei Ausrufezeichen. Hmm …

Rücksichtlose Aufklärung über das Gesagte dürfen auch von Michael Hüther und Dieter Könnes erwarten, ersterer ist Wirtschaftswissenschaftler und Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft.  Kollege Könnes ist beim WDR für Verbrauchersendungen zuständig. Sein Format dort heißt „Könnes kämpft“ – mal schauen, ob er durchhält.

Jetzt schnell noch mal beten, dass der Namensgeber dieser Seite die sozialistische Kammer seines Herzens rechtzeitig in Schwung bringen kann – jeder gute Mensch hat doch eine, wenn auch manchmal zugeschüttet von den Segnungen des ersten und zweiten deutschen Wirtschaftswunders. Beide sind allerdings an Millionen Menschen vorbeigegangen. Man muss sich nur erinnern wollen. Wird ihnen Roland Tichy seine Stimme leihen? Schön wäre es ja.

Plasberg fängt hart aber fair mit Siemens an, die Entlassungen seien hart, aber sind sie auch fair? Und er fragt, warum sich der Wirtschaftsboom für viele dennoch wie eine Krise anfühlt. „Kann es denn gut gehen, wenn das Heer der billigen Dienstleister immer größer wird? (…) Moderne Gewinn-Verlust-Rechnung: Gewinn beim Arbeitgeber, Verlust beim Arbeitnehmer.“

Die Sozialdemokratin Leni Breymaier ist empört. Ihre Empörung wird die gesamte Sendung über immer mal wieder aufwallen, mehr aber liefert sie nicht bei hart aber fair. Sie erwartet von Siemens, dass sich die Manager endlich mal Gedanken machen und mit den Betriebsräten zusammenarbeiten. „Diese Schleife im Gehirn kann doch der Siemensvorstand noch drehen.“ Das würde man sogar der Gesellschaft schulden. Wenn gut bezahlte Arbeitsplätze wegfallen, fiellen Kaufkraft und auch Würde weg. Roland Tichy meint, von der Frau Breymaier gar nicht so weit entfernt zu sein. Siemens würde sich nach irgendwelchen undurchsichtigen Kriterien aufstellen. Tichy vermutet, dass es bei Siemens darum geht, große Standorte zu fördern auf Kosten der kleineren. Aber die Regierung sei auch nicht ganz unschuldig, wir hätten ja keinen Wirtschaftsminister mehr, sondern eine Aushilfskraft mit Namen Zypries.

Stichwort aufgenommen und kurz zwischengegoogelt: Tatsächlich hat sich alleine die Bezeichnung dieses Ministeriums seit Günther Rexrodt (1993-1998) vier Mal geändert. Erst kam ein „und Technologie“ dazu, dann „und Arbeit“ dann wieder „und Technologie“ und zuletzt „und Energie“. Nun denn.

Bernhard Emunds, Professor für christliche Gesellschaftsethik u.m. weiß, dass Siemens die Querfinanzierung schon in den 1990ern abgeschafft hat. Jede Sparte muss heute für sich rentabel sein. Siemens hätte wie nur wenige andere Unternehmen in Deutschland vom deutschen Wirtschaftsmodell profitiert, ist also quasi quer-subventioniert worden vom Staat. „Erwarten Sie da etwa Dankbarkeit von Siemens?“ fragt Plasberg amüsiert. „Da wird Porzellan zerschlagen zwischen Siemens und Staat und Siemens und den Mitarbeitern“, warnt Emunds.

„Dass durch Arbeitsplatzabbau die Effizienz des Unternehmens gesteigert wird, das ist asozial!“, schreit ein munterer Martin Schulz per Einspieler in die Runde. Ökonom Michael Hüther weiß, dass in die Zukunft investiert werden muss. Aber er ist noch ganz bei Tichy und der Sozialdemokratin.

Hat Plasberg falsch eingeladen zu hart aber fair oder gab es vorab Kreide statt Milch in den Auftaktkaffee? Michael Hüther beobachtet eine hohe Robustheit in der Industrie, da sei er nicht so pessimistisch wie Roland Tichy. Na immerhin. Tichy aber bleibt dabei, setzt sogar noch einen drauf: „Diese Konzerne sind auch ein stückweit vaterlandslose Gesellen.“ Der Blattmacher bleibt also vorerst in der Interims-Hart-aber-Fair-GroKo mit Leni Breymaier. Eine Finte?

Paketversendekönig Florian Gerster erinnert daran, dass der Bürger nun Mal gerne bequem auf dem Sofa sitzt, Dinge bestellt, die am nächsten Tag schon ins Haus kommen sollen. Das war nun fast zynisch, denn zum einen braucht es Geld, um Dinge zu bestellen, und zum anderen bekommen die, die diese Pakete austeilen, bereinigt, also auf reale Arbeitszeit berechnet, immer weniger als den sowieso schon niedrigen Mindestlohn. Was sagt Gerster dazu?

Erstmal nichts, denn nun ist Dieter Könnes dran, der ist Journalist und hat sich für einen Filmbeitrag tief durch die Paketwagen gewühlt und unwürdigste Arbeitsbedingungen festgestellt. Gute Arbeit. Allerdings reicht manches Mal schon ein kurzes nettes Gespräch an der Tür, wenn der Paketbote kommt, und schon weiß man um die unhaltbaren Zustände für dieses neue deutsche Proletariat 2.0, wenn man denn hinhören will.

Könnes weiß: Verhältnisse wie in Drückerkolonnen. Interviewte haben sogar Angst um ihr Leben, wenn sie den Medien über die Zustände erzählen sollen. Reißerisch? Dieter Könnes sagt nein. Und die großen Paketdienstleister hätten sich geschlossen verweigert, vor der Kamera Verantwortung zu übernehmen. Hermes zum Beispiel hätte ein verschachteltes System von Subunternehmertum installiert, bis hin zu osteuropäischen Saisonarbeitern, die in wirklich üblen Unterkünften hausen, nur um die Verantwortung im Zweifel abzuwälzen. Die Polizei, der er seine Beobachtungen meldete, hatte rückgemeldet: „Sie haben da in ein Wespennest gestochen.“

Florian Gerster, Vorsitzender des Bundesverbandes Paket und Expresslogistik, kann einen nun fast schon leid tun. Jeder Misstand sei einer zu viel und gehört abgestellt, verteidigt er seine Branche. Er hätte selbst als Arbeitsminister in Rheinland-Pfalz Razzien gemacht auf Großbaustellen. Ach du je, so redet man sich also öffentlich-rechtlich raus und kassiert trotzdem weiter seine Vorsitzendengehälter? Ja, man kann es an der Stelle ruhig sagen: Genau hier beginnt das System zu kranken, exakt an solchen Figuren. Am Ende leidet der schwitzende Paketbote nach einem Vierzehnstundentag für ein paar schäbige Euro Arbeitslohn. Und hier sitzt der Ex-Minister auf seinem Vorstandsposten und spielt den Unwissenden. Ungeheuerlich? Ja, auch das, aber schon so üblich, so abgenutzte Verhaltensweisen, dass man attestieren muss: Unrechtsbewusstsein? Fehlanzeige!

Er sei für die Einhaltung des Mindestlohns, betont er energisch. Wahrscheinlich hat er nicht einmal im Ansatz eine Vorstellung, wie es sich mit so einem Mindestlohn leben lässt. Wahrscheinlich erinnert er sich nicht einmal mehr an die Zeiten, als der Paketbote angemessen bezahlt wurde und oder sogar verbeamtet war. Geht er selbst zur Tür, wenn der Weihnachtschampagner im Zwölfergebinde kommt oder macht es schon ein schwarz bezahltes schwarzes Hausmädchen, dass wenn, dann natürlich auch schwarz nur den Mindestlohn bekommt?

Mindestlohn klingt hier in der Runde wie ein Prädikat wertvoll. Dabei ist es die unterste Marke, die, um gut zu leben, kaum ausreicht, der oft genug, wenn Kinder davon abhängen, noch subventioniert werden muss, wo die Kinder dann vom Amt angehalten werden, ein paar Stunden Zeitungen auszutragen, damit Vatis Aufstockung nicht wieder gekürzt wird. Sanktionspolitik. Vater und Kinder dann auf der selben Tour: der eine mit Paketen, die anderen mit Werbezetteln, auf denen die ganzen bunten Sachen abgebildet sind, die – na klar! – auch ins Haus geliefert werden, nur nicht in die Sozialwohnung des Paketzustellers. Kein Geld dafür da. Florian Gerster will Könnes‘ Vorwürfe als Einzelfall werten.

Aber selbst wenn es nur Einzelfälle wären, der Regelfall wäre dann immer noch eine knochenharte Tätigkeit bei Mindestlohn. Das ist dann auch der eigentlich Skandal im Skandal, der hier gerade verhandelt wird: Wenn einer wie Gerster argumentiert wie aus der Frühzeit der Industrialisierung, wenn er von Marktsituationen fabuliert, die für diese Zustände verantwortlich wären, wenn er wiederholt vom bequemen Sofa-Hocker spricht, der ja der Paketzusteller selbst nicht sein kann, viel eher Gerster selbst, dann möchte man sich tatsächlich wegdrehen vor Fremdscham über so eine desaströsen Auftritt.

Schuld sind dann sogar amazon und Co, die „kostenfreie Lieferungen“ anbieten würden. Und DHL sei auch schuld, die sich mit Kampfpreisen Konkurrenz vom Halse halten würden. „Wollen wir etwa das alte Postmonopol wieder machen?“, fragt er Effekt heischend in die Runde. „Natürlich, können wir gerne wieder machen“, kontert die Sozialdemokratin Leni Breymaier und Roland Tichy grinst in sich hinein, merkt er doch, dass diese Sendung überraschend anregende Momente bietet, die man sich in der Studiogarderobe kaum hätte so schön ausmalen können.

Bernhard Emunds findet es eine Zumutung, dass Gerster hier gegenüber dem Konsumenten fast moralisierend Bequemlichkeit anprangern würde. Recht hat er, mehr ist dazu nicht zu sagen. Roland Tichy ist noch nicht dran, macht aber als einziger weiter fleißig Notizen. Entweder er macht gerade in multitasking, nutzt die Zeit für einen TE-Artikel zu einem ganz anderen Thema oder es kommt gleich noch was, mal schauen. Würde man an sein Mitgefühl appellieren, müsste er jetzt fast die Lanze brechen für Gerster, der es gerade knüppeldick bekommt von fast allen Seiten.

Jetzt darf Tichy. Und er stell fest: Eigentlich sind wir doch alle ein bisschen Siemens Wer hat denn dem Paketboten mal einen Fünfer in die Hand gedrückt, wenn er ein Buch geschleppt hat in den dritten Stock?“ Was will Roland Tichy? Eine neue Trinkgeldkultur? Auch erinnert er daran, dass die prekären Paketboten doch freiwillig arbeiten würden. Hupps. Das sorgt bei der Sozialdemokratin für den Automatikreflex. So geht unter, dass Tichy meint, was bleibt den von allen, auch den Gewerkschaften verlassenen Prekären denn anderes übrig, als die mies bezahlten Jobs?

Trotzdem jetzt kommt noch mal Stimmung in die Bude. Tichy erinnert gleich im Anschluss daran, dass nicht einmal mehr der Mindestlohn eingehalten werden würde. „Minderheitenpartei!“, faucht er Richtung empörte Sozialdemokratie. Plasberg bestätigt schnell, das über 2,6 Millionen Arbeitnehmer heute schon unter diesen 8,50 Euro brutto tätig sein. „Was Könnes in ein paar Tagen herausgefunden hat, müssten doch die Unternehmen ebenfalls herausfinden können und Missstände beheben.“

Übrigens, die Kamera fängt es ein: tolle Kugelschreiberakrobatik von Roland Tichy, der sich den Silberclip über den Daumen geschnallt hat und Pirouetten damit dreht, während sich Gerster gewissermaßen als Kumpel von Joschka Fischer outet, er selbst sei als Student fünf Jahre lang auch Taxi gefahren. Das hätte er gerne gemacht, es gäbe auch Paketzusteller, die gerne Paketzusteller wären. Ach.

Fassen wir zusammen: Siemens war schnell abgehakt, das Elend der Paketzusteller wurde breit aufgefächert, Roland Tichy schlägt ein Trinkgeld im dritten Stock vor, die Sozialdemokratin möchte am liebsten wieder die alte Post zurück, Gerster hat sein Fett kübelweise und Filmemacher Könnes beste Werbung abbekommen, Plasberg eine überraschend gute Sendung gemacht und die Zuschauer fragen, was denn ist, wenn die Pakete per Drohnen kommen, dann wäre die ganze Diskussion von gestern.

Das ist sie natürlich heute schon, wenn sie das hier lesen: eine Diskussion von gestern. Empfehlungen sind nun zum Schluss schwer auszusprechen. Vielleicht so viel: Kaufen Sie so oft es geht im Einzelhandel Ihre Vertrauens, heben sie ein paar nette Worte für den Zusteller auf oder, wenn Sie es über haben, denken Sie doch bitte an ein kleines Weihnachtstrinkgeld. Denn wenn das viele machen, fühlen sich viele gut und es summiert sich noch für den armen Zusteller. Zumindest sollte man das so lange beibehalten, bis diese asoziale Ausbeutung abgeschafft wurde. Wie auch immer das passieren wird, wenn es je passiert.

Zum Kern des Problems stieß die Runde nicht vor, sondern wiederholte nur alte Formeln. Aber der Skandal Prekariat wurde sichtbar. Fortsetzung erwünscht.