Tichys Einblick
Cineastisches Meisterwerk

Englands Dunkelste Stunde – eine filmische Hommage an Winston Churchill, den größten Politiker des 20. Jahrhunderts

Dieses filmische Meisterwerk, in dem alle Gewerke des Filmhandwerks auf der Höhe ihrer jeweiligen Kunst zu besichtigen sind und das die historischen politischen Kontroversen nicht publikumswirksam versimpelt, ist unbedingt sehenswert

Einen großen, an welthistorischer Dramatik kaum zu überbietenden Stoff hat sich der Film „Die dunkelste Stunde“ vorgenommen. Der von der herrschenden Politik und Presse lange fast verfemte Winston Churchill wird in Englands schwerster Stunde Premier des Kriegskabinetts. John F. Kennedy sprach 1963 über diese Tage der Entscheidung: „In dunklen Tagen und noch dunkleren Nächten, als Britannien allein stand, und die meisten Menschen, ausgenommen die Engländer, um Englands Leben bangten, mobilisierte er die englische Sprache und sandte sie in die Schlacht. Die glühende Kraft seiner Worte erleuchtete die Tapferkeit seiner Landleute.“
Die Biographie des erstaunlichsten demokratischen Politikers des 20. Jahrhunderts gehört in England zur Allgemeinbildung.

Das Fiasko in Skandinavien

Für deutsche Besucher: Am 7. und 8. Mai 1940 debattiert das Unterhaus das Fiasko der britischen Strategie in Skandinavien, der es nicht gelang, die Besetzung Norwegen und Dänemarks durch Nazideutschland zu verhindern. Die konservative Regierung Chamberlain wird von Liberalen, Labour und einem wachsenden Teil der eigenen Partei einer gnadenlosen Kritik unterzogen, die sich ausweitet auf die gesamte Appeasement-Politik der Vorkriegszeit – die Beschwichtigung der Diktatoren, die Hinnahme der rasanten deutschen Aufrüstung, das Stillhalten bei der Besetzung Österreichs und der Tschechoslowakei. Am 9. Mai zieht der Premier die Konsequenzen und tritt zurück. Das Votum der Labourführer und der Liberalen bringt die Entscheidung: Am 10. Mai beauftragt König George VI. Churchill mit der Bildung einer Allparteienregierung.

England am Rande des Abgrunds

An diesem 10. Mai überfällt die Wehrmacht Belgien, Luxemburg und Holland. Deutsche Panzer stoßen Richtung Ärmelkanal vor. Frankreich hat dem deutschen Vormarsch kaum mehr etwas entgegenzusetzen, und das gesamte britische Expeditionscorps – fast die gesamten verfügbaren Landstreitkräfte – weicht an die Küste zurück. England steht am Rand des Abgrunds.

Am 13. Mai hält Churchill als Premier eines Kriegskabinetts seine berühmte Radiorede, in der er jede Kapitulation zurückweist und seinem Volk „Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß “ verheißt. Die patriotische Mythologie suggeriert, dass von da an Volk und politische Klasse sich geschlossen hinter Churchill sammelten. Die historische Realität sah anders aus. Kaum war er im Amt, begannen die alten Appeasementpolitiker, die immer noch großen Rückhalt im Parlament und in der Oberschicht hatten, gegen Winston zu intrigieren. Es zeichnete sich ab, dass Frankreich einer Niederlage entgegensah. Die britischen Truppen und zersprengte französische Armeeteile, zusammen etwa 380.000 Soldaten, wurden in einem immer enger werdenden Kessel bei Dünkirchen eingeschlossen. Für große Kriegsschiffe gab es keine Anlegemolen, eine Evakuierung schien deshalb nicht möglich. So gewannen Erwägungen zu einem Sonderfrieden mit Hitler wieder an Gewicht. Halifax und Chamberlain sahen in einem Vermittlungsangebot Mussolinis, der noch nicht in den Krieg eingetreten war, die Chance, die eigenen Truppen vor der Vernichtung zu retten. Und ihr altes Konzept zu realisieren: Festlandeuropa der deutschen Hegemonie zu überlassen und dafür die Garantie der Unantastbarkeit des eigenen Kolonialreiches zu erlangen.

Hohe historische Authentizität

Die Filmhandlung spielt in diesen Tagen zwischen dem 8. Mai und dem 4. Juni 1940. Mit dem für britische Produktionen typischen Anspruch weitestgehender historischer Authentizität wird ein schmutziges, etwas heruntergekommenes London gezeigt, in dem stumpfes Gelb, verblichenes Blau, zerfranste Sofas und ausgetretene Teppiche dominieren. Der langsame Niedergang des Empires seit dem 1. Weltkrieg hat überall seine Spuren hinterlassen. Der Schauplatz Buckingham Palace wurde in einem neoklassizistischen Gebäude nachgestellt, in dem verhangene Fensterläden die Säle in einem mausgrauen Licht erscheinen lassen. Beim Nachbau der Kommandozentrale, einem labyrinthischen Bunker, in dem Churchill und sein Kriegskabinett rund um die Uhr arbeiteten, ist jenes oft reportierte organisierte Chaos abgebildet – mit unzähligen Telefonen, Bergen von Papier, Wandkarten von Europa mit bunten Kartennadeln für die militärischen Stellungen und zerwühlten Schlafquartieren. Jedes Detail vermittelt die klaustrophobische Atmosphäre, in der auf allen Beteiligten ein ungeheurer Druck liegt, und in der sie mit Durchhaltevermögen und emsiger Rastlosigkeit gegen die Katastrophe ankämpfen. Im Gegensatz dazu ist das Unterhaus im großzügigen viktorianischen Stil angelegt. 450 Statisten verkörpern die Parlamentarier, die lebensecht mit Lärm oder Beifall auf die Reden Winstons und seiner konservativen Gegner reagieren.

Herausragende Besetzung, glänzendes Drehbuch, geniale Maske – Spitzenleistungen der Filmkunst

Mit dem Hauptdarsteller des Films, Gary Oldman, dürfte der nächste Oscarpreisträger gefunden sein, mit dem Golden Globe wurde er bereits ausgezeichnet. Kann es ein, dass die Verkörperung von Sid Vicious (“Sid und Nancy“), Beethoven und Lee Harvey Oswald den untersetzten, rundköpfigen und klobigen Churchill spielen kann? Oldman kann es, und wie! Allerdings mit Hilfe einer genialen Maske, für die der japanische Künstler Kazuhiro Tsuji herangezogen wurde. Mit bearbeiteten Kopf- und Ganzkörperabgüssen und Alltagsphotographien von Churchill formte er die Gesichtszüge aus Ton und goss sie mit Silikon aus, das auf Oldmans Gesicht aufgetragen wurde. Das Ergebnis ist eine lebensnahe und hautähnliche Textur, die jede mimische Bewegung mitmacht. Außerdem stellte Tsuji für Oldman einen Schaumstoff-Body-Suit her, der die für Churchill typische Körperhaltung ermöglichte. Das Anlegen dieser Rundummaske dauerte täglich etwa 3 Stunden, noch einmal zwei Stunden benötigte am Tagesende die Entfernung. Oldman hatte während der 57tägigen Drehzeit Arbeitstage zwischen 18 und 20 Stunden. Das frappierende Ergebnis kann man sich vorweg in den verschiedenen Trailern ansehen.

Die wichtigste Frau im Drama des Mai 1940 war Winstons Ehefrau Clementine, seine Mitwisserin und Kritikerin, der er mehr als allen vertraute. Die ebenfalls oscarverdächtige Kristin Scott Thomas (meine persönliche Lieblingsschauspielerin) hat die Klasse, Intelligenz und Scharfzüngigkeit, die sie den Charakter der wirklichen Lady Churchill glaubwürdig verkörpern lässt. Ohne sie hätte er den Krieg nicht überstanden, schrieb er später.

Mit Bedacht ist auch die Rollenbesetzung der Gegenspieler Churchills, Chamberlain und Halifax, ausgewählt, Ronald Pickup und Stephen Dillane. Sie sind keine Pappkameraden, auf die der geniale Winston einschlagen kann, sondern ernstzunehmende Kontrahenten mit schwerwiegenden Argumenten. Die politischen Kontroversen sind nicht publikumspädagogisch versimpelt, sondern in ihren Komplexität teilweise wortwörtlich aus den Protokollen der Beratungen übernommen. Es gelingt so Drehbuchautor McCarten und Regisseur Joe Wright, die Positionen beider Seiten nachvollziehbar zu machen.

Operation Dynamo

Die scheinbar aussichtslose Situation der eingeschlossenen und von ständigen Luftbombardement bedrängten britischen Streitmacht am Strand von Dünkirchen motiviert die Appeasementanhänger zu Putschplänen. Erst mit einer genialen Initiative Winstons, der „Operation Dynamo“, kommt die Wende. Durch die Mobilisierung aller verfügbaren Wasserfahrzeuge, vom Fischkutter bis zu Seerettungsbooten und privaten Motoryachten, gelingt es, in wenigen Tagen fast 340.000 britische und französische Soldaten, unter Zurücklassung allen militärischen Geräts, aus dem Kessel zu evakuieren. Der Kampf geht weiter. Churchills Rede am 4. Juni steht in jedem englischen Geschichtslehrbuch: „Wir werden kämpfen bis zum Ende. Wir werden in Frankreich kämpfen, wir werden auf den Meeren und Ozeanen kämpfen. Wir werden mit wachsender Zuversicht und wachsender Stärke am Himmel kämpfen. Wir werden unsere Insel verteidigen, wie hoch auch immer der Preis sein mag. Wir werden an den Stränden kämpfen, wir werden an den Landungsabschnitten kämpfen, wir werden auf den Feldern und auf den Straßen kämpfen, wir werden in den Hügeln kämpfen. Wir werden uns nie ergeben.“

Eine Lehre aus vielen möglichen: Ist nicht die Gestalt Churchills die Widerlegung all derer, die Geschichte nur als die Evolution anonymer Wirtschaftskräfte sehen? Eine Persönlichkeit kann positiv – wie negativ – den ganzen Unterschied ausmachen.

Albert Christian Sellner ist studierter Historiker und Publizist. Als Autor und Herausgeber hat er zahllose Bücher und Artikel zu historischen und politischen Themen angeregt, betreut, verfasst und veröffentlicht. Das Leben und Werk von Sir Winston Churchill begleitet ihn seit Jahrzehnten.