Tichys Einblick
Zu viel Märchen

Churchill – Fakten, künstlerische Freiheit, fromme Fiktion: „Darkest Hour“

Regisseur Joe Wright überschreitet die Grenze zwischen Fiktion und anachronistischer Verfälschung der Wirklichkeit zu höheren moralischen Zwecken.

Getty Images for Focus Features and Comcast/NBC Universal

Was bei den Brexit-Verhandlungen letztlich herauskommt, wie die Briten ohne bzw. mit EU-Europa zurecht kommen werden (und umgekehrt), ob ihnen der Rückzug auf ihre eigene insulare Existenz teuer zu stehen kommt oder nicht, ob am Ende gar noch ein Exit vom Brexit stehen könnte – all das schwebt noch im Ungewissen.

Immerhin lässt sich spekulieren, warum gerade in dieser Zeit der Ungewissheit zwei Filme in die Kinos gekommen sind, die, erfüllt von patriotischem Pathos, geeignet sind, einerseits den Mut der Brexiteers zu stärken, andererseits auch verzagte Remainers. Beide mögen sich an den Filmen erbauen, die den EU-Europäern die Rolle Englands bei der Rettung des Kontinents vor Hitler vor Augen halten. Die Rede ist von den Kriegsdramen „Dunkirk“ und „Darkest Hour“.

In einer fulminanten Besprechung auf „Tichys Einblick“ hat Albert Sellner den Churchill-Film „Darkest Hour“ zu Recht ob seiner filmischen Qualitäten gerühmt und zum Pflichtbesuch aufgerufen. Kein Zweifel, der Film war sein Geld wert, aber er verdient eine Nachbetrachtung.

Cineastisches Meisterwerk
Englands Dunkelste Stunde – eine filmische Hommage an Winston Churchill, den größten Politiker des 20. Jahrhunderts
Mit Filmen zu großen historischen Themen ist es wie mit großen historischen Romanen. Autor oder Regisseur beweisen ihre Erzählkunst, indem sie die Fakten in künstlerischer Freiheit behandeln oder durch fiktive Ereignisse anreichern. Der Unterschied zwischen Filmen und historischen Romanen liegt indes darin, dass der Film in der Massendemokratie auf ein Massenpublikum wirkt und folglich das Geschichtsbild einer Gesellschaft nachhaltiger prägt als mancher noch so auflagenstarke Roman.

Wenn es um das „richtige“ Geschichtsbild geht, ist selbst der Historiker nicht immer der „richtige“ Interpret vergangenen Geschehens, insofern nicht wenige Vertreter der Zunft als Künder politisch erwünschter Wahrheiten fungieren. Nichtsdestoweniger gibt es andere, die entgegen den Weisungen des Zeitgeists und eingedenk des eigenen, ideologieanfälligen Erkenntnisinteresses sich um den nüchternen Blick auf die meist unerfreulichen res gestae bemühen.

Der amerikanische Historiker John Broich, spezialisiert auf Geschichte des British Empire und des II. Weltkriegs, hat den Film „Darkest Hour“ auf seinen Umgang mit den Fakten überprüft. Sein Katalog der Abweichungen des Drehbuchs von den historischen Fakten ist beachtlich. Es gibt beispielsweise keinen nachweisbaren Versuch seitens des zurückgetretenen Neville Chamberlain im Bündnis mit seinem Ex- Außenminister Lord Halifax, im House of Commons ein Misstrauensvotum gegen Chruchill herbeizuführen. Die Sekretärin Elizabeth Layton begann erst ein Jahr nach der „dunkelsten Stunde“ unter dem für seine Wutanfälle bekannten Churchill zu arbeiten. Sie hatte keinen Bruder, der bei Dünkirchen gefallen war. Erst 1943 gab es direkte Telefonkontakte zwischen Churchill und dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt.

Broich widerlegt vor allem die Schlüsselszene, in der Winston Churchill auf Anregung des Königs sich in die Londoner Untergrundbahn begibt, um die Haltung des Volkes zu erforschen. Und es ist im Film das Volk, die einfachen Leute, die, anfangs von dessen Auftritt noch befremdet, den Premierminister durch ihre Unbeugsamkeit beeindrucken und zu seiner Rede vor dem erweiterten Kabinett inspirieren. Winston stieg nicht hinab zum Volk in der Tube.

In seinem Artikel verzichtet Broich auf einen Kommentar zu diesem fiktiven Einschub. Er hätte insbesondere die Fragwürdigkeit jener Szene beleuchten können, in der Churchill, Abkömmling der englischen Hocharistokratie, mit dem einzigen schwarzen Passagier spricht und eine patriotische Antwort bekommt. Zum Schluss, bevor er an der Westminster-Station aussteigt, rezitiert Churchill zur Demonstration seiner Entschlossenheit den Horatio-Monolog aus „Hamlet“. Der wohlgekleidete schwarze Passagier fällt bildungsbewusst in die Schlusszeilen ein – eine Art Hochamt des demokratischen Patriotismus.

Der Regisseur Joe Wright überschreitet die Grenze zwischen Fiktion und anachronistischer Verfälschung der Wirklichkeit zu höheren moralischen Zwecken. Selbst ein noch so positives Urteil über Churchill angesichts seines Standhaltens gegen Hitler – im Film tituliert er den Tyrannen publikumswirksam auch als „house-painter“ – kommt an dem Faktum nicht vorbei, dass der britische Staatsmann von Rassenvorurteilen geprägt war. Er glaubte an die Überlegenheit des weißen Mannes und ersehnte – im Hinblick auf das Verblassen des British Empire – eine weltpolitische Allianz der angelsächsischen „Rasse“ in Washington und in London.

Mit dieser anachronistischen Szene trägt der Regisseur – ob aus Überzeugung oder aus Verbeugung vor dem Zeitgeist – dazu bei, ein Geschichtsbild zu etablieren, das weit von der historischen Wahrheit entfernt ist.