Tichys Einblick
Russland und Ukraine: Wo steht Deutschland?

Bei Anne Will korrigierte US-Historikerin Applebaum die einseitige Gästewahl

Die kontroverse Diskussion über Waffenlieferung an die Ukraine zeigt die Risse im Bündnis. Die Qualität der US-Historikerin Anne Applebaum korrigiert die einseitige Gästewahl. So wurde es trotzdem eine Lehrstunde für außenpolitisch Interessierte.

Screenprint ARD / Anne Will

Endlich mal ein „Anne Will“ Talk auf der Höhe der Zeit. Eine wahre Wohltat nach den endlosen Corona-Schleifen mit den immer wieder gleichen Gästen und den immer wieder gleichen, wenig aussagenden Floskeln. Gestern ging es wirklich ums Eingemachte! Europa steht erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges an der Schwelle eines offenen Krieges zwischen den beiden flächengrößten Staaten dieses Kontinentes – Russland und der Ukraine. In Wahrheit hat dieser Krieg schon vor acht Jahren mit der Annexion der Krim durch Russland begonnen und mit der Besetzung des Donbas im Osten der Ukraine seine Fortsetzung gefunden. Deutschland wird nun der Vorwurf eines unsicheren Kantonisten im Reigen der westlichen Demokratien vorgeworfen. Genau darum ging es gestern bei „Anne Will“.

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Schon bei einem Blick auf die Teilnehmerliste war man versucht, sich diese wertvolle Stunde am Ausklang des Wochenendes zu ersparen. Zu einseitig schienen die Plätze besetzt. Da war der sich heute staatsmännisch gerierende und einst militante linke Grüne Jürgen Trittin, der für sein flott-aggressives Mundwerk bekannte SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, der Uralt-SED-Kader und moskaugetreue Dietmar Bartsch, sowie die amerikanische Historikerin Anne Applebaum – schließlich als Einzelkämpfer der Botschafter der Ukraine, Andrij Melnyk. Die offenkundige Dreistigkeit dieses Forums, von dem mehr ein Anklagetribunal gegen die Ukraine als ein faires Gespräch zu erwarten war, riet förmlich zu Abstinenz.

Doch wie so oft, entschied auch diesmal die Qualität der Einzelnen das Rennen. Und da ist an erster Stelle – und das liest man hier selten – Anne Will selbst zu nennen. Äußerst konzentriert fasste sie nach, entdeckte Widersprüche in einzelnen Argumenten – Beispiel: Die Scheinheiligkeit deutscher Rüstungsexporte – und moderierte sachlich und ausnahmsweise mal nicht süffisant mit dauerndem linken Unterton.

Die kühle Frische, die amerikanischen Intellektuellen eigen ist, brachte die Pulitzerpreisträgerin Anne Applebaum in die Runde. Knappe Sätze, klare Aussagen! Ihre an die Adresse Deutschlands gerichtete Ansage: „Wer Waffen an die Ukraine liefert, verhindert den Krieg – wer nicht dazu bereit ist, macht den Krieg möglich“. Härter kann man Berlin nicht angreifen. Deutschland weist mit dem Grundsatz, keine Waffensysteme in Krisengebiete zu exportieren, den Wunsch der Ukraine nach eben solchen zurück. Und schon war man mitten drin im verbalen Gefecht.

Noch einmal schilderte der Botschafter aus Kiew die verzweifelte Lage seines Landes. Es sei das erklärte Ziel Putins, den souveränen Staat Ukraine auszulöschen. Als Beleg zitierte Melnyk mehrere Aussagen des russischen Präsidenten Putin. Deutschland, erweise sich nicht mehr als zuverlässiger Partner.

Ukraine-Krise
Putins Pyrrhus-Sieg
Als wirklich durchdachter Kontrahent zeigte sich der Diskussionsprofi Trittin. Er argumentierte, zweifellos zurecht, dass eine wirklich militärische Option im Ukraine-Konflikt nicht zur Debatte stehen könne. Weder die USA noch Großbritannien, als stärkste Partner der NATO, wären bereit, eigene Truppen in den Kampf um die Ukraine zu schicken. Folglich, so Trittin weiter, mache auch die Anhäufung westlicher militärischer Stärke auf dem Boden der Ukraine keinen Sinn, da diesem demonstrativen Kraftakt, nicht zuletzt aufgrund der massiven Zahl atomarer Raketen Moskaus, keine Weiterungen folgen könnten. Vielmehr komme es darauf an, den Preis einer Besetzung der Ukraine für Moskau so hoch wie möglich zu treiben. Trittins Erwartung ist, dass Moskau bei Abwägung aller Risiken vor dem Äußersten zurückschrecken werde. Das Ganze habe aber nur eine Chance auf Erfolg, wenn der Westen verhandlungsbereit und geschlossen bliebe. Die Lieferung von Waffen passe allerdings nicht zu diesem Szenario. Eine nachvollziehbare und logische Argumentation.

Genau das aber gilt auch für die gegenteilige Ansicht, die von Applebaum und Melnyk vertreten wurde. Putin ginge es in Wirklichkeit ja nicht nur um die Ukraine. Er habe mit seiner Forderung, den Status Quo in Europa auf die Zeit von 1997 zurückzudrehen, die Souveränität aller Staaten seines einstigen Vorhofes in Frage gestellt. Tatsächlich ist diese russische Maximalforderung eine Neuauflage der Beschlüsse von Jalta, mit denen die Sowjetunion, die USA und Großbritannien im Februar 1945 die Aufteilung Europas in Einflussgebiete besiegelten. Was damit aus russischer Sicht gemeint war, brachte kein Geringerer als der sowjetische Diktator Stalin auf den Punkt: „Der Sieger zwingt den von ihm besetzen Ländern sein System auf“. Welches Schicksal den Völkern Mittel- und Osteuropas sowie den Menschen in einem Teil Deutschlands über Jahrzehnte bis Ende der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts beschert wurde, ist hoffentlich noch in Erinnerung. Es ist zu befürchten, dass allein eine entsprechende Umfrage an deutschen Gymnasien und Universitäten das Gegenteil beweisen würde. Dieser imperiale russische Ansatz wurzelt im Denken des 18. und 19. Jahrhunderts und ist heute eine Herausforderung für den Rest der Welt!

Ukraine-Krise
In Kiew und Moskau hält man einen Krieg für unwahrscheinlich
Folgt man der Logik Trittins, müsste ja das weitere Besetzen der Ukraine Russland, neben den hohen politischen und wirtschaftlichen Kosten, auch einen erheblichen Blutzoll abverlangen. Letzteres gilt natürlich auch für die schließlich zweifellos unterlegene Ukraine, wobei sich niemand im Westen über die Kampfbereitschaft und die Leidensfähigkeit der Ukrainer täuschen sollte. Die Auseinandersetzungen zwischen Russen und Ukrainern haben über Jahrhunderte eine lange Tradition und waren immer von äußerster Härte und Brutalität gekennzeichnet. Das Ergebnis aber wäre am Ende das Gleiche wie bei Trittin. In seinem Szenario würde die Ukraine als Ergebnis von Verhandlungen zwar als Staat weiter existieren, aber unter dem bleiernen Mantel russischer Dominanz verschwinden – ein Krieg wäre vorerst vermieden worden. Aber die Machtgelüste der „kleptokratischen Diktatur in Moskau“ (Zitat Applebaum) wären nicht gestillt. Wie man es auch drehen und wenden mag, am Ende stünde die Aufgabe der Souveränität der Ukraine, es sei denn, Russland schrecke angesichts von weiteren Waffenlieferungen, vor der Möglichkeit eines wirklichen Krieges zurück, was einer Niederlage des Kreml gleichkäme. Alles in allem eine Art Russisch Roulette, bei dem taktisches Kalkül und Nervenstärke die entscheidende Rolle spielen.

Fast sieht es so aus, als folgten beide Denkschulen dem gleichen Ziel. Das ist aber nicht der Fall. Der Unterschied liegt in der grundsätzlich verschiedenen Beurteilung des Charakters und der Motive im Reiche Putins. Vor allem Deutschland verfolgt unverändert das Ziel eines „gemeinsamen europäischen Hauses“, letztlich abgekoppelt von den Vereinigten Staaten und ihren Interessen, mit dem Schwerpunkt auf weitgehende Harmonie und Neutralität zwischen den beiden entscheidenden Playern des 21. Jahrhunderts – den USA und China. Deutschland gerät dabei schon jetzt in einen Konflikt, an dessen Ende die tatsächlich schon oft bewiesene Tatsache steht, dass es so etwas wie „nur ein bisschen schwanger“ nicht gibt. Entweder Deutschland ist aktives Mitglied im westlichen Verteidigungs- und Wertebündnis, oder es muss dieses Bündnis verlassen, was zugleich das Ende der NATO bedeuten würde. Es bleibt jedem überlassen, über die sich daraus ergebenden Konsequenzen nachzudenken und auch persönliche Schlüsse zu ziehen.

Gefährliches Tauziehen
Putin droht, den Gashahn abzudrehen
Am Rande agierten der Shooting-Star Kevin Kühnert und ein sichtbar ermatteter Dietmar Bartsch. Kühnert bat um Nachsicht mit der neuen Bundesregierung und ihrem Kanzler Scholz, wenn sie nach so kurzer Zeit im Amt noch nicht auf alle Fragen eine Antwort hätten. Er schien zu vergessen, dass es jetzt nicht um die Strategie zur veganen Erziehung an den Schulen geht, sondern um existentielle Fragen von Krieg und Frieden. Wer sich selbst zur Nummer 1 berufen fühlt, wie Scholz, muss von der ersten Minute der Macht an bei solchen Fragen topfit sein. Ansonsten konnte man bei den hilflosen Blicken des jungen Mannes gen Studiodecke und den oftmals weit aufgerissenen Augen meinen, Kühnert fühle sich irgendwie im falschen Film. Augenscheinlich schien bei historischen Bezügen auch bei ihm der Fundus des Wissens begrenzt zu sein.

Apropos Geschichte: Wenn auch unausgesprochen, schwebte die in Polen und dem Baltikum sehr präsente Erinnerung an das unsägliche Abkommen zwischen der Sowjetunion und NS-Deutschland vom August 1939, in dem auch die Beseitigung der Baltischen Staaten und die Aufteilung Polens beschlossen wurde, spürbar im Raum. Auch das gehört zur in den letzten Tagen so oft beschworenen deutschen Verantwortung aus den Lehren der Geschichte. Das alles förderte der gestrige Abend bei Anne Will wieder zutage.

Brutalstmöglich räumt Applebaum mit der Beliebigkeit nach Tagesbedarf der  deutschen Geschichtspolitik auf: „Deutschland nutzt die Ausrede der Geschichte, wenn es gerade passt“, kritisiert sie indirekt Außenministerin Annalena Baerbock, die von  „historischen Gründen“ spricht, derentwegen man keine Waffen an die Ukraine liefern dürfe. „Ich finde das beunruhigend“, erklärt Applebaum, schließlich habe Baerbock nicht ausgeführt, welche Geschichte sie eigentlich meine. Deutschland beliefere viele gewalttätige Regime mit Waffen, pflege mit China engste Kontakte, und schließlich habe Russland das mit der Ukraine vor, was Hitler-Deutschland vorgemacht habe: Das Verschwinden von der Landkarte. Welche Geschichte also meint die auch historisch glänzend ungebildete Baerbock? Die Tatsache, dass während der Sowjetzeit ein Drittel der Bevölkerung der  Ukraine bewußt in den Hungertod getrieben wurden? Deutschland möge aus seinem Dornröschenschlaf erwachen, fordert da der ukrainische Botschafter. Ein Prinz für Baerbock ist allerdings nirgendwo in Sicht, der sie oder ihre Regierung zum Leben erweckt.

Unerwähnt blieben die starken Interessen eines mächtigen Teils der deutschen Wirtschaftseliten an Geschäften mit Russland, die auch mit engen persönlichen Verbindungen verbunden sind. Dies wird ergänzt durch ein vom ehemaligen Bundeskanzler und heutigem Gasverkäufer Putins, Gerhard Schröder, geführtes Netzwerk, zu dem auch hochrangige Persönlichkeiten wie Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, Bundeskanzler Olaf Scholz, SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, sowie der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil gehören. Auch deshalb kommt dem ersten Besuch des Bundeskanzlers in Washington eine besondere und hohe Bedeutung zu.

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