Tichys Einblick
Im Verschieben ist Scholz Klasse

Ukrainischer Außenminister Kuleba bei Anne Will: „Wir werden auch mit Schaufeln kämpfen“

Bei Anne Will treffen zwei Welten aufeinander: Die Bräsigkeit, in der Deutschland und die EU auf Veränderungen reagieren – und die Dramatik, mit der sich die Welt gerade verändert. Zum Beispiel in der Ukraine.

Screenshot: ARD/maischberger

Es ist immer falsch, jemanden völlig zu unterschätzen, der etwas erreicht hat. So haben sich Linke und die meisten Medien in Deutschland nie die Frage gestellt, warum Donald Trump Präsident werden konnte. Ein Fehler. Die Antwort darauf würde manche Erkenntnis liefern. Genauso verkehrt wäre es, Olaf Scholz nur von seinen (offensichtlichen) Schwächen her zu definieren. Aufschlussreicher ist die Frage, welche Stärken Olaf Scholz ins Kanzleramt gebracht haben – als Kandidat einer Partei, die zum Beginn des Wahlkampfs noch auf Platz drei der Umfragen stand.

In Kiew hat Scholz der Ukraine versprochen, sich für eine Aufnahme in die Europäische Union (EU) einzusetzen. Damit hat er Zeit gewonnen und die Debatte in seinem Heimatland auf eine Ebene gebracht, die er beherrscht. Diskutiert wird jetzt nicht mehr (ausschließlich) über Umstände, die hochnotpeinlich für den Kanzler sind. Stattdessen geht es um Ansätze, bei denen die allermeisten Bürger aussteigen.

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Wie das funktioniert, hat die jüngste Ausgabe von Anne Will gezeigt. Dort wird zuerst EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) zugeschaltet. Sie unterstützt, dass die Ukraine Kandidat für die Aufnahme wird: In einigen Punkten sei das Land weiter als manches EU-Mitglied, etwa in der Digitalisierung. In anderen Punkten müsse sich die Ukraine noch strecken, etwa im Kampf gegen die Korruption und die Oligarchie, also den übermäßigen Einfluss einiger weniger Reicher. Dann begibt sich von der Leyen in die Rolle, in der sie sich wohlfühlt: die der Gouvernante. Es liege an den Ländern, wie schnell die Aufnahme gelinge. Die Slowakei habe mal Kopf an Kopf mit der Türkei gelegen, sich dann aber durch viel Mühe nach vorne gearbeitet. Diese Mühe solle sich die Ukraine nun auch geben.

Das hört sich nach Spaß an. Also Spaß aus Sicht eines Brüsseler Bürokraten: Papiere werden geschrieben, Konferenzen einberufen, Papiere überarbeitet, Richtlinien aufgestellt. Das könne sich über Jahre hinziehen, ist sich die Runde einig, als die Schalte zu von der Leyen beendet ist. Als ob die EU alle Zeit der Welt hätte und in Ruhe die Aufnahme prüfen könne – so wie damals bei der Slowakei.

Manchmal blitzt die Realität in die Sendung – so wie ein Irrlichtern in die Sommerschwüle. Etwa durch den ukrainischen Außenminister, der in der ersten Hälfte der Sendung zugeschaltet wird: „Wir werden auch mit Schaufeln kämpfen“, sagt Dmytro Kuleba. Aber er hoffe noch auf Waffenlieferungen. Doch je länger der Westen für diese brauche, desto mehr Menschen müssten sterben. Das klingt nach einem Pokerspieler, der verzweifelt ist, aber nicht verzweifelt wirken darf, weil sonst das Spiel verloren ist.

Wie lange die Ukraine den russischen Beschuss noch aushalten könne, will Anne Will später in der Sendung wissen. „Ohne unsere Unterstützung nicht mehr lange“, sagt die Militärexpertin Claudia Major. Russland gehe es darum, der Ukraine das Recht abzusprechen, weiter zu bestehen. Sie erobere Gebiete nicht als Verhandlungsmasse, sondern um sie Russland anzuschließen. Lasse der Westen das zu, sei es um seine eigene Sicherheit schlecht bestellt.

Irrwege
Die Infantilisierung der Politik 
Apropos schlecht um die Sicherheit bestellt. Der CDU-Abgeordnete Johann David Wadephul kritisiert, dass Deutschland noch keine schweren Waffen an die Ukraine geliefert hat. Michael Müller begründet, warum das so ist. Müller war mal Regierender Bürgermeister in Berlin, ist jetzt Hinterbänkler im Bundestag und durfte wieder in die erste Reihe, weil die eigentlich eingeladene SPD-Chefin Saskia Esken sich mit Corona infiziert hat. Die Bundeswehr hat momentan keine schweren Waffen, die sie liefern könne, sagt Müller. Panzer wie der Marder müssten überarbeitet wären. Doch das sei innerhalb von vier Monaten noch nicht möglich gewesen – und werde so schnell auch nicht klappen.

Russland überfällt die Ukraine. Der droht an der Grenze zur Nato eine schwere Niederlage. Und das größte Land der EU steht ohne einsatzfähige Armee dar. Das sind dramatische Aussagen. Jede einzelne würde eigene Texte rechtfertigen, TE berichtet auch ausgiebig darüber. Doch in diesem Text jetzt geht es um die Sendung Anne Will. Und es würde einen falschen Eindruck vermitteln zu behaupten, diese Aussagen hätten die Ausgabe von Anne Will geprägt.

Die Sendung war mehr wie eine EU-Konferenz: langatmig und kleinteilig. Über Aufnahmewege diskutieren. Sich ein Fläschchen Wasser öffnen. Über Waffensysteme fachsimpeln. Noch ein Fläschchen Wasser trinken. Und sich über Sprachregelungen streiten bei einem dritten Fläschchen – ach komm, was soll’s, es darf auch mal ein O-Saft sein. Eine Sache für Menschen mit einem hohen Interesse an Politik und viel Leidensfähigkeit oder wenigen Vorstellungen von sinnvoller Freizeitbeschäftigung.

In der Ukraine droht ein Sieg Russlands. Eine Machtübernahme. Mit allen sich daraus ergebenen Konsequenzen bis hin zu einer neuen Weltordnung. Konsequenzen, auf die Deutschland offensichtlich nicht vorbereitet ist. Doch im Ersten Programm, zur besten Sendezeit, geht es um Formalitäten und Sprachregelungen. Scholz hat erfolgreich abgelenkt und sich ebenso erfolgreich Zeit verschafft. Zwei Talente, in denen er wirklich Weltklasse erreicht.

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