Tichys Einblick
Ein Lob der DVD:

Der digitale Datenspeicher ist zu früh verschrottet worden

DVDs galten lange als das ultimative Zeichen dafür, dass ihr Besitzer den Zeitgeist verpasst hat. Zu Unrecht. Wer sie aufgehoben hat, kann sich nun an verbotener Ware erfreuen.

Hunde hören irgendwann auf, beim Pinkeln das Bein zu heben. Einige Experten sagen, die Rüden wollten ihren Urin nicht mehr so stark verbreiten, weil sie nicht mehr bereit sind, ihr Revier zu verteidigen. Andere Experten sagen, es wird den Tieren irgendwann einfach zu anstrengend. Auf jeden Fall ist es ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie alt geworden sind.

Es gibt auch unter Menschen Zeichen, die belegen, dass sie alt geworden sind. Eines davon ist, DVDs zu schauen. Oder überhaupt nur, DVDs zu besitzen. Es brandmarkte einen als Mensch, der Netflix und Co verpasst hat und dem digitalen Besitz immer noch den entgegensetzen muss, den er in der Hand halten kann. Erwähnte man auf Facebook, man sehe gerade eine DVD, kamen unvermittelt Kommentare wie: „Du schaust immer noch DVD?! Komm mal ins 21. Jahrhundert!“ Meist waren das Sachbearbeiter oder Ähnliches, die sich bei dem Kommentar fühlten wie Arved Fuchs auf dem Weg zum Nordpol. Und wer weiß, wer Arved Fuchs ist, ohne googlen zu müssen, ist auch … – aber das führt vom Thema weg.

MENTALES PREPPING
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Zurück zur DVD. In ihren Anfangstagen war sie ein Status-Symbol, das sich ihre Besitzer gut sichtbar für Gäste ins Regal stellten. Doch mit der Netflix-Ära wurden sie allmählich zum peinlichen Geheimnis – wie Tages-Inkontinenz. Wer sich noch eine Scheibe anschauen wollte, tat das heimlich, verstohlen – niemals hätte er gewagt, dieses Vergnügen auf Facebook zu teilen. Schon gar nicht, wenn der Sachbearbeiter auf der Suche nach einem Steppenwolf-Moment war.

Ja. Netflix ist gut und Amazon Prime und sky und DAZN und so weiter. Doch es ist die Zeit gekommen, die DVD zu rehabilitieren. Sie bietet Vorteile, die ihren Besitz rechtfertigen. Zu was Gutem machen. Zur ungetrübten Freude an Kulturprodukten, für die sich der Käufer einst bewusst entschieden hat und für die er bereit war, ein Opfer zu bringen. Auch wenn das nur ein überschaubarer Geldbetrag war.

Als Gegenargument ließe sich anbringen, dass DVDs einen festlegen. Wer sich die Box aller Staffeln von „Two and a half Men“ kauft, werde am Ende jeden Tag eine uralte Serie sehen, in der abwertende Witze über Homosexualität gemacht werden. Aber warum denn nicht? ProSieben-Zuschauer tun das doch auch. Und sie müssen sich obendrein in achtminütigen Werbepausen gefallen lassen, wie sich der bigotte Sender als Spitze der LGBTQ-Bewegung verkauft, der die Homosexuellen-feindlichen Witzchen Tag für Tag sendet – seit Jahren.

Ohnehin bleiben dem DVD-Besitzer die Inszenierungen von Medienanschaffenden erspart. Wer auf Netflix eine Serie binge-watchen [bintsch-wotschn] will, der muss sich gefallen lassen, dass ihm vorher explizite Triggerwarnungen zu dem gleich wiedergebenden Inhalt angezeigt werden. Wo das Gezeigte wann und wie welches Seelchen quälen könnte. Wie in der Schule, wo du dir vor dem Pausenspaß auch erst Belehrungen anhören musst. Bei DVDs ist es nur eingangs der Hinweis, dass Raubkopien Diebstahl seien und folglich nicht ganz okay. Eins von Zehn Geboten – da lässt sich mit leben. Zumal der erfahrene DVD-Zuschauer ohnehin nochmal aufs Klo geht, nachdem er die Scheibe ins Gerät eingeführt hat.

Das Internet werde zum kollektiven, allumfassenden Gedächtnis. So hieß es. In optimistischeren Zeiten, als die DVD gerade anfing, zum Zeichen für Rückständigkeit zu werden. Doch dieses Gedächtnis hat Lücken, wie sich mittlerweile rausstellt. Und zwar nicht aus Altersschwäche heraus – sondern weil sich ein Wind gedreht hat. Wenn ein geschundenes, wokes Seelchen meint, in einem Scherz eine Zumutung erkannt zu haben, die es nicht ertragen kann – nicht nachdem ihm seine Eltern in den 27 Jahren seiner Kindheit alle Probleme aus der Welt geräumt haben. Bis hin zur Kruste vom Brot.

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So werden denn Serien nachträglich zensiert. Zum Beispiel Community. Darin geht es um eine Studiengruppe an einem Ersatz-College in Colorado. In einer Folge spielt diese Dungeons and Dragons. Dafür hat sich ein chinesisches Mitglied der Gruppe das Gesicht gefärbt. Um seine Rolle als Elf zu untermalen. Doch sich das Gesicht zu bemalen gehört zu dem, was gemeint ist, wenn sich wieder wer fragt, was eigentlich „Hass und Hetze“ genau sein soll.

Der Scherz erklärte sich durch die Spielsituation. Die Figur war zudem innerhalb der Serie als psychisch labiler Egomane etabliert, der beruflich und familiär gescheitert ist und fortan im Lüftungsschacht des Colleges lebte. Was diese Figur tat, war damit per se von den Autoren als fragwürdig definiert. Und die schwarzen Mitglieder der Gruppe sprechen in der Serie auch an, dass sein Verhalten rassistisch sei. Doch es half alles nichts. Die Folge verbreite Hass und Hetze, meinten die Streamingdienste und strichen sie aus dem kollektiven Gedächtnis des Internets.

Wer die Serie zuhause hat, auf DVD, kann diese aus dem Versteck holen und sich freuen: Wer schaut nun die heiße, verbotene Ware? Die hippen Netflix-Kunden oder der DVD-Rebell? Eben. Und vielleicht schreibt er sogar auf Facebook, dass er jetzt die Community-DVD bingt [binscht]. Wenn dann einer nachfragt, was denn Bingen sei, fühlt er sich wieder jung und hipp. Was aber unberechtigt ist – schließlich schreibt er auf Facebook. Vielleicht sollte er von seinem Hund lernen und irgendwann aufhören, beim Pinkeln das Bein zu heben.

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