Tichys Einblick
Nachruf auf Henry Kissinger

Der letzte Machiavellist

Henry Kissinger war für Freund wie Feind der Richelieu des 20. Jahrhunderts. An ihm spalteten sich die Geister: Die einen sahen in ihm einen brillanten Realpolitiker, die anderen einen Kriegsverbrecher. Dass er das tat, was zuerst den USA nützte, stellte niemand infrage. Sein Einsatz für Deutschland wird bis heute unterschätzt.

IMAGO / Sven Simon
Henry Kissinger war nicht nur in Jahren ein Jahrhundertcharakter. Damals wie heute spaltet er die Geister. Es gibt wenige, die den Namen Kissinger kennen und nicht entweder in Lobeshymnen oder in Geifer verfallen. Kissinger gilt als US-amerikanische Graue Eminenz, war aber vermutlich der letzte Außenpolitiker deutscher Herkunft von historischem Kaliber. Seine Fürther Herkunft hat er nie verleugnet, wenn er sein Leben lang auch stets einer anderen Nation diente. Als Nationaler Sicherheitsberater, Außenminister und Intellektueller gehört er zu den prägendsten Persönlichkeiten der amerikanischen Geschichte – nicht nur im 20. Jahrhundert.

Historiker und Politikwissenschaftler haben schon zu Lebzeiten Kissingers ihre Urteile über ihn gefällt. Nur wenige haben es verstanden, ihn differenziert zu betrachten, insbesondere angesichts der explosiven politischen Wirkung, die Kissinger bereits in den 1960ern und 1970ern entfaltete. Ähnlich wie beim Phänomen Franz Josef Strauß kann man sich der Mythen und Anti-Mythen nicht entziehen; aber Mythen machen auch einen Mann aus, der sich nicht als Rädchen im großen politischen Werk sah, sondern als Gestalter und „uomo virtuoso“ im machiavellistischen Sinne: Kissinger wusste, dass „Fortuna ein Weib ist, das man prügeln muss“ (Machiavelli). Vornehmer ausgedrückt: Man muss die Gelegenheit am Schopf packen.

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Es ist deswegen nicht zu viel gesagt, Kissinger als den letzten Machiavellisten aufzufassen. Nicht im falsch verstandenen Sinne, wie es etwa Niall Ferguson tut, wenn er Kissinger nicht als Realisten, sondern Idealisten auffasst. Machiavelli war überzeugter Republikaner, hat als Urheber der Staatsräson jedoch verstanden, dass man im Zweifel Böses tun muss – wenn das Staatswesen bedroht ist, muss notwendigerweise der Tyrann die Republik retten, damit sie nicht untergeht. Auch Machiavellis Ideal war nicht eine autoritäre Monarchie, sondern die wohlgeordnete, gesetzestreue Republik nach römischem Vorbild; da diese aber nicht existiert, kann man sie nur näherungsweise erreichen, über Spannen auch mit der Diktatur als Methode.

Damit kommt man Kissingers Denken wohl am nächsten. Der konservative Stabilitätsgedanke überwiegt angesichts der Anarchie in der Welt. Kissinger hat als Kind jüdischer Eltern selbst erlebt, wie schnell ein demokratisches System fallen kann, wie zerbrechlich all das ist, was man tags zuvor noch für selbstverständlich hält. Kissingers Familie floh vor den Nationalsozialisten aus Deutschland, Verwandte, die blieben, wurden ermordet. Zugleich erlebte Kissinger bei seiner Rückkehr als US-Soldat die völlige Zerstörung seines einstigen Heimatlandes, wie es sie nicht mehr seit dem Dreißigjährigen Krieg erlebt hatte.

Die geistige Konsequenz konnte nur sein, dass nach dem doppelten Weltkrieg das Westfälische System fortbestand und in neue Formen gegossen werden musste. Die Prinzipien, die in Münster und Osnabrück formuliert wurden, hatten weiterhin Gültigkeit. Nicht nur in der Hinsicht entsprach das geopolitische und diplomatische Denken Kissingers deutlich mehr den historischen Kontinuitäten der Frühen Neuzeit denn des Zeitgeists. Beachtlich sind auch Kissingers Bachelorarbeit und Promotion in diesem Kontext. Die Arbeit über Metternich und Castlereagh zeigt die Verbindung zum Wiener Kongress 1815, der Europa nach den Napoleonischen Wirren restaurierte und ebenfalls in den Kontext des Westfälischen Systems gehört. In dieser diplomatischen Real- wie Vorstellungswelt hat auch die Geheimdiplomatie ihren festen Platz.

Daneben fällt aber auch der Titel der vorangegangenen Arbeit (Reflections on Spengler, Toynbee and Kant) auf: Denn einerseits teilt Kissinger zwar den Pessimismus Spenglers, andererseits gehört Kissinger zur aussterbenden Spezies der Geisteswissenschaftler, die daran glauben, dass „große Männer“ weiterhin Einfluss auf die Geschichte haben. Kissinger wird sich selbst als einen dieser großen Männer gesehen haben, die wie Bismarck und Metternich handelten und wie Machiavelli und Thukydides dachten. Dass Bismarck und Metternich beide Konservative waren, die ihre eigene Welt nur dadurch retten konnten, indem sie diese erneuerten, ist eine häufig übersehene Parallele: Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist.

Ganz ähnlich hat Kissinger in seiner Amtszeit immer wieder damit überrascht, dass er konservative Denkmuster verlassen hat, um etwas zu tun, was Liberale oder Sozialdemokraten nicht hätten tun können. Dazu gehört die geschickte Entkopplung Ägyptens aus der Klammer der Sowjetunion, um den Frieden zum Nachbarland Israel einzufädeln. Dazu gehört die Beendigung des Vietnamkrieges, die der im Westen gefeierte Kennedy angefangen hatte, von dem aber der bis heute geschmähte Nixon nie profitieren konnte. Dazu gehört aber vor allem der Wechsel in der China-Politik, vermutlich nicht zuletzt vom machiavellistischen Gedanken geprägt, dass die USA nicht gleichzeitig gegen China und Russland bestehen können.

Dass Kissinger nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges sich für eine Verständigung mit Russland aussprach, sorgte für Irritationen, entspricht aber exakt den Denkmustern eines Mannes, der Westfalen, den Wiener Kongress und die Balance of Power als wegweisender ansieht als moralische Verpflichtungen oder nationalistische Romantik. Kissinger konnte in Vietnam verhandeln und zugleich das neutrale Kambodscha bombardieren lassen; er setzte sich für die Demokratien Europas ein und unterstützte Pinochets Putsch in Chile. Kapitel wie diese haben häufiger den Vorwurf verlauten lassen, statt des Friedensnobelpreises habe Kissinger ein Kriegsgericht verdient – aber freilich müsste das unter diesen Voraussetzungen für so gut wie jede Regierung der Großmächte der letzten Jahrhunderte gelten.

Dass ausgerechnet Kissinger dieser Vorwurf immer wieder, vor allem von linker Seite, widerfahren ist, hat nicht zuletzt mit jener Philosophie der „großen Männer“ zu tun, die Kissinger selbst gelebt hat. Denn in einer Zeit, in der man gesellschaftliche Prozesse und soziale Bewegungen als treibende Kraft der Weltgeschichte entdeckte, und auch die einflussreiche marxistische Wissenschaft nicht etwa Personen wie Metternich und Bismarck, sondern die gesellschaftlichen Kämpfe (oder deutlicher: Klassenkämpfe) als Motor der Geschichte erblickten, arbeiteten sie sich an diesem einen Mann ab, der wie kein anderer das Gesicht der Außenpolitik der Vereinigten Staaten war und sie wie kein anderer auf sich ausgerichtet hatte.

Kissinger war nicht nur deswegen ein Fossil, weil sein Denken aus den Jahrhunderten und nicht aus der Gegenwart stammte; er war ein Fossil, weil er trotz der vielfältigen Zwänge, der politischen Bewegungen und Vernetzungen als individuelle Persönlichkeit etwas bewegte, obwohl doch schon Schiller gezeigt hatte, dass selbst ein Wallenstein nicht mehr frei als Politiker handeln konnte. Auch da wieder: der uomo virtuoso Machiavellis, der sich dem stählernen Gehäuse der entzauberten Welt entzog.

Aber auch deswegen ist er zur Chiffre des rücksichtslosen Machtpolitikers geworden, zum Kabinettdiplomaten, zum Kriegsverbrecher, zum Unterstützer von Diktatoren und zum Anwalt der USA, der für die „nationale Sicherheit“ seines neuen Vaterlands weiter ging als manch anderer. Das ist zugleich historische Wahrheit und verklärter Mythos; aber es ist dieses Kissinger-Bild, das bleiben wird, und ihn tatsächlich in eine Reihe mit den historischen Vorbildern hebt. Kissinger war nicht nur für viele seiner Gegner der Richelieu des 20. Jahrhunderts: im Hintergrund agierend, raffiniert, skrupellos, und doch wieder zu charmant, um ihn zum bloßen Abziehbild abzustempeln. Dass Kissinger in erster Linie das tat, was dem Staat, also den USA nützte, daran hatten Freund und Feind keine Zweifel.

Dass dabei ausgerechnet in Deutschland eine regelrechte Aversion gegen ihn bestand, hat schon so manchen europäischen Beobachter verdutzt die Augen reiben lassen. Denn trotz der Verfolgung hat Kissinger immer gewusst, zwischen Hitlers Schergen und den Deutschen zu unterscheiden. In Washington galt er auch als Anwalt deutscher Interessen, als vertrauensvoller Ansprechpartner der Schmidt-Regierung – und als der Mann, der nicht geringen Anteil daran hatte, dass in der KSZE-Akte Europas Grenzen zwar als „unverletzlich“, aber eben nicht als „unveränderbar“ galten. Die deutsche Wiedervereinigung blieb damit eine reale Möglichkeit.

Das ist – bei aller Kritik – etwas, das ihm von seinen Landsleuten bis heute zu wenig gedankt wird, gehört aber zur Tradition, Deutschlands beste Außenpolitiker als abstoßende Machiavellisten zu schmähen, während man in der harten Realität mit Moral, Ideologie und Feminismus scheitert und sich zusätzlich blamiert. Als Egon Bahr Kissinger mit der künftigen Ostpolitik der SPD konfrontierte, reagierte Kissinger entsetzt ob der naiven Vorstellungen in Bonn. Es hat sich seitdem wenig geändert; aber es sind die Momente, in denen man Richelieu für den besseren Musketier hält.


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