Tichys Einblick

Nicht nur in Großbritannien: Selbstzerstörerische Tugenden als Statussymbol

Sieben Jahre nach dem Brexit-Referendum: In Großbritannien erobern die progressiven Eliten die politische Vorherrschaft zurück, wie der Politologe Matthew Goodwin feststellt. Offen zur Schau getragene Überzeugungen im Sinne eines „virtue signalling“ sind zum Statusmerkmal geworden.

Protest gegen die Migrationspolitik der Tory-Regierung in London, 13.03.2023

IMAGO / ZUMA Wire

Unter den europäischen Ländern nimmt Großbritannien mit seiner spezifischen politischen Kultur eine gewisse Sonderstellung ein. Einerseits steht es wie kein anderes Land unter dem direkten kulturellen Einfluss Amerikas, was unter anderem erklärt, warum so viele Menschen den Wertvorstellungen der Wokerati folgen und Cancel Culture an den Universitäten ein so verbreitetes Phänomen ist. Andererseits begünstigt das Wahlrecht weiterhin ein Zwei-Parteien-System (mit der Ausnahme ausgesprochener Regionalparteien), was dazu führt, dass die Parteien noch mehr als anderswo recht heterogene Allianzen sehr unterschiedlicher Kräfte sind, die sich oft gegenseitig stärker bekämpfen als den offiziellen politischen Gegner. Das gilt ganz besonders für die Tories. Dazu kommt der Umstand, dass in Großbritannien ein Aufstand einer – nach dem üblichen Verständnis – „populistischen“ Protestbewegung tatsächlich einmal spektakulär erfolgreich war, indem er den Austritt aus der EU erzwang, den die politische Klasse in ihrer großen Mehrheit eigentlich parteiübergreifend ablehnte. 

Der Politologe Matthew Goodwin bemüht sich in seinem neuen Buch (Matthew Goodwin, Values, Voice and Virtue: The New British Politics, London 2023) um eine Bestandsaufnahme der neuen politischen Konstellationen, wie sie sich in den Jahren nach dem Brexit-Referendum entwickelt haben. Wie andere vor ihm verweist er darauf, dass sich in Großbritannien – wie auch in anderen westlichen Ländern – eine linksbürgerliche progressive Elite von leidlich wohlhabenden, wenn auch nicht unbedingt „reichen“ urbanen Universitätsabsolventen herausgebildet hat, die ihren Anspruch auf kulturelle Hegemonie legitimieren, indem sie sich zu einer Reihe von „Luxus-Überzeugungen“ bekennen.

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Dazu gehört ein übersteigerter Anti-Rassismus, der Weiße immer und überall als schuldbeladen ansieht, wenn sie nicht wie die Angehörigen der neuen Elite selbst permanent als Anwälte ethnischer Minderheiten auftreten. Dazu gehört aber auch ein prononcierter Individualismus, der ein „anything goes“ der Lebensstile propagiert und traditionelle Bindungen etwa im Rahmen der Familie nur als Belastung ansieht, ebenso wie eine deutliche Abwendung vom Nationalstaat im Namen eines umfassenden Kosmopolitismus. Dieser geht dann mit der Forderung einher, auf jede effektive Kontrolle nationaler Grenzen zu verzichten. Man betrachtet daher eine Massen-Immigration ebenso wie die grenzenlose kulturelle Vielfalt, die sie entstehen lässt, ausnahmslos als einen großen Segen. 

Die traditionelle nationale Kultur der einheimischen Bevölkerung wird hingegen kritisch gesehen oder sogar gänzlich abgelehnt. Goodwin schätzt den Anteil der Wähler, der glaubt, sich solche „luxury beliefs“ leisten zu können oder leisten zu müssen, auf nicht mehr als etwa 15 Prozent der Bevölkerung, aber diese üben einen in vielen Bereichen etwa in den Medien und im Kulturleben dominanten Einfluss aus, was ja nicht nur für Großbritannien gilt, sondern auch für Deutschland, wo die Grünen die Stimme des „fortschrittlichen“ Bürgertums sind und im deutschen Parteiensystem eine absolute Schlüsselstellung besetzt haben. Insbesondere in London, aber auch in einigen anderen Großstädten gibt dieses progressive Bürgertum, das in etwa den französischen „Bobos“, den bourgeois bohémiens, entspricht, den Ton an, was zusammen mit dem demographischen Wandel durch Einwanderung erklärt, warum die Tories hier bei Wahlen kein Bein mehr auf die Erde kriegen.

Aber wie konnte es überhaupt dahin kommen, dass offen zur Schau getragene politische Überzeugungen im Sinne eines „virtue signalling“ zum Statusmerkmal wurden? Offenbar spielt hier, auch wenn Goodwin das nicht explizit sagt, eine Rolle, dass ältere Mechanismen, die dazu dienten, kulturelle Überlegenheit zu demonstrieren, obsolet geworden sind. Da es keinen wirklichen Kanon großer kultureller Werke mehr gibt, durch deren Kenntnis im Sinne einer umfassenden Bildung man die Zugehörigkeit zur Elite unter Beweis stellen könnte, muss es die vorbildliche moralisch-politische Haltung sein, mit der man sich vom gemeinen Volk, der Plebs absetzt. Diese Plebs, das ist vor allem die weiße untere Mittelschicht oder die „working class“, der die ganze Verachtung der neuen Elite gilt, und die deshalb auch mit Schimpfwörtern wie „gammons“ (eigentlich Pökelfleisch wegen der vermeintlich rötlichen Gesichtsfarbe einfacher Engländer) bedacht wird. 

Die Tories profitierten nur vorübergehend vom Aufstand der einheimischen working class und unteren Mittelschicht

Die aus solchen Kulturkämpfen resultierende kulturelle Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft ist jedoch ein gewisses Problem für eine sozialdemokratische oder zum Teil auch sozialistische Partei wie Labour in Großbritannien, die immer mehr von dem neuen linken Bürgertum dominiert wird und sich daher ihrer ursprünglichen Wählerbasis, der Arbeiterschaft entfremdet hat, ein Prozess, den man ja auch in Deutschland bei der SPD beobachten kann. Allerdings befindet sich die traditionelle Arbeiterschaft zahlenmäßig wie in den meisten anderen westlichen Ländern ohnehin im Niedergang, so dass ihr politisches Gewicht schon aus diesem Grund abnimmt.

Dennoch war das Brexit-Referendum auch ein Aufstand der weniger Gebildeten, der Älteren und der Provinz gegen die Dominanz der neuen großstädtischen Eliten, gegen ihren Kosmopolitismus, aber auch ihren politischen Moralismus und ihre kulturelle Arroganz, das betont Goodwin so wie bereits andere Autoren vor ihm.

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Von diesem Aufstand profitierten für einige Jahre wesentlich die Tories, die freilich durch den Konflikt über den EU-Austritt selbst innerlich zerrissen wurden. Zwar konnten sie die Unterhauswahlen von 2019 mit einem enormen Vorsprung gewinnen, aber der Erfolg ließ sich nicht konsolidieren, teils weil Boris Johnson als Führer der Tories zu umstritten und zu undiszipliniert war, teils aber auch, weil Mitglieder und Abgeordnete der Tories sich schwer damit taten, einen Kurswechsel vorzunehmen, der den Wünschen ihrer neuen Wähler aus der unteren Mittelschicht und dem Arbeitermilieu entsprochen hätte.

Zu sehr waren und sind die Tories auf eine eher neoliberale Politik der Begrenzung der Staatsausgaben festgelegt, die für eine Konsolidierung des Sozialstaates oder eine stärkere Subventionierung der wirtschaftlich schwachen Regionen in England, wie sie die abtrünnigen Labour-Wähler wünschen, wenig Raum lässt, abgesehen davon, dass die hohe Staatsverschuldung einer solchen Politik ohnehin enge Grenzen setzt. Auch haben die Tories seit Thatcher die Globalisierung und den damit einhergehenden Druck auf die Löhne und traditionelle Industrien durchaus begrüßt, weil sie meinten, mehr globale Konkurrenz werde auch der Wettbewerbsfähigkeit und damit dem Wohlstand Großbritanniens zugutekommen.

Das mag zum Teil erklären, warum die Tory Party nach ihrem überraschenden Erfolg von 2019 sich schon wieder im Niedergang befindet. Falls man den Umfragen trauen kann, wird sie die nächsten Wahlen haushoch verlieren. Dafür gibt es freilich auch andere Gründe. Ihren Erfolg von 2019 verdankten die Tories vor allem der Unterstützung durch ältere Wähler über 50, so wie es schon beim Brexit-Referendum die Älteren gewesen waren, die den Gegnern der EU zum Sieg verholfen hatten. Die Jugend, namentlich die unter 30-Jährigen, hat die Tories mehrheitlich abgeschrieben, teilt oft die woke Weltanschauung und kann auch mit dem traditionellen Patriotismus, für den die konservative Partei steht, meist wenig anfangen.

Das ist ein Problem für die Tories ebenso wie der Umstand, dass sie trotz aller Bemühungen und trotz der Tatsache, dass mittlerweile der Premierminister und viele Kabinettsmitglieder einen Migrationshintergrund haben, nicht dazu in der Lage ist, die ethnischen Minderheiten nicht-europäischer Herkunft für sich zu gewinnen. In ihrer großen Mehrheit wählen die Einwanderer und ihre Nachkommen weiter die Labour-Partei, die sich als Vorkämpferin einer multikulturellen Gesellschaft und einer umfassenden „Dekolonialisierung“ der englischen Kultur profiliert. Darauf reagiert die konservative Partei eher mit Ratlosigkeit. Der Mut zu einem offenen Kulturkampf gegen den neuen Wertekanon, für den Schlagworte wie Vielfalt und Antirassismus stehen, fehlt ihr, dazu ist die kulturelle Hegemonie der Gegenseite wohl auch zu ausgeprägt, aber sie kann ihn auch nicht glaubwürdig vertreten. Auch hier zeigen sich Parallelen zur CDU.

Eine ungewisse Zukunft

Allerdings, so meint zumindest Goodwin, steht auch Labour vor Problemen, mag die Partei die nächsten Wahlen auch mit hoher Wahrscheinlichkeit gewinnen. Die linksbürgerliche Elite, die die Partei mittlerweile dominiert, neigt wie in anderen europäischen Ländern dazu, ihre Forderungen nach einer echten Kulturrevolution, die alle Lebensbereiche politisiert und transformiert, immer weiter zuzuspitzen. Dass etwa die traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit und schon die Idee, dass es überhaupt zwei Geschlechter gebe, im Namen einer umfassenden Anti-Diskriminierungspolitik zunehmend verworfen werden, dürfte unter den kulturell konservativen Muslimen, die in Großbritannien meist die Labour Party wählen, kaum auf ungeteilten Beifall stoßen. Auch wird ein reines Bündnis einer progressiven bürgerlichen Elite mit der nichtweißen multikulturellen Wählerschaft bis auf weiteres kaum reichen, um Wahlen zu gewinnen.

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Zumindest einen Teil ihrer früheren weißen Stammwähler wird Labour weiter an sich binden müssen, wenn die Partei erfolgreich sein will, zumal sowohl die ethnischen Minderheiten wie auch das woke Bürgertum vor allem in London und wenigen anderen Metropolen konzentriert sind, was angesichts des englischen Wahlrechtes, das Parteien begünstigt, die in der Fläche gleichmäßig vertreten sind, um so möglichst viele Wahlkreise zu gewinnen, ein Nachteil ist, wie Goodwin hervorhebt. Auch ist es in einer alternden Gesellschaft nicht in jeder Hinsicht ein Defizit, wenn eine Partei sich vorwiegend auf die Älteren stützt wie die Tories – immer vorausgesetzt, dass die Wähler mit wachsendem Alter auch konservativer werden, was früher in der Tat der Fall war, jetzt freilich nicht mehr ohne weiteres vorausgesetzt werden kann.

Schließlich stellt sich die Frage, ob eine Gesellschaft, die sich an den Werten der woken, progressiven Elite orientiert, jemals stabil sein kann. Wenn es am Ende keinerlei gemeinsames kulturelles Erbe mehr gibt, keine sozialen Konventionen im Alltag, die halbwegs verbindlich sind, dann wird die Gesellschaft bestenfalls noch durch einen reinen Legalismus und das Rechtssystem zusammengehalten, das früher oder später aber auch an Autorität verliert, wenn sich nur noch mehr oder weniger stark rivalisierende oder sogar verfeindete Minderheiten gegenüberstehen, wie das heute schon in den USA der Fall ist.

Von daher bleibt die politische Zukunft in Großbritannien ungewiss. Es ist denkbar, dass Labour nach der nächsten Wahl England auch kulturell so radikal verändern wird – so wie die jetzige Regierung dies in Deutschland ja auch vorhat –, dass die Konservativen auf Dauer marginalisiert werden oder nur noch als eine etwas verwässerte Version der Labour-Party überleben können, so wie in Deutschland die CDU unter Merkel zur etwas softeren Version der Grünen und in manchen Fragen auch der SPD wurde. Übrigens ein Kurs, den die CDU auf Länderebene etwa in NRW oder Berlin heute munter fortsetzt, was sich freilich bislang auch nicht als wirklich erfolgreiches Rezept erwiesen hat.

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Aber es ist auch denkbar, dass Labour, einmal an der Macht, das politische Blatt überreizt und der Bevölkerung zu viel an Traditionsdemontage, Politik zugunsten sexueller und sonstiger eher exotischer Minderheiten und kultureller Bevormundung zumutet, wie es die zurzeit gerade spektakulär implodierende SNP als regionale Regierungspartei in Schottland in den letzten Jahren getan hat. Das gilt umso mehr, als auch in Großbritannien die Umweltpolitik in den nächsten Jahren eine erhebliche Herausforderung darstellen wird, ein Themenbereich, auf den Goodwin freilich wenig eingeht. Insgesamt dürfte Labour hier pragmatischer ausgerichtet sein als die deutschen Grünen und die von ihnen durchweg dominierte Bundesregierung, aber Konfliktpotenzial birgt eine Politik, die den CO2-Ausstoß drastisch reduzieren will und dafür Wohlstandsverluste in Kauf nehmen muss, dennoch.

Klar ist aber eines: Dass die englischen Tories trotz oder gerade wegen der erfolgreichen Revolte gegen die Dominanz der linksbürgerlichen Elite, die das Brexit-Votum darstellte, auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ebenso wenig eine Antwort gefunden haben wie andere traditionelle Mitte-Rechts-Parteien in Europa, egal ob es sich nun um die CDU in Deutschland oder die Republikaner in Frankreich handelt. Vielleicht sind diese Parteien am Ende doch zum Untergang verdammt, da sie sich zwischen der Alternative eines offenen Kampfes gegen die Ideologie der übermächtigen progressiven Eliten und einer Anpassung an deren Weltanschauung nicht zu entscheiden wissen. 

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