Tichys Einblick
Überraschung im Lockdown:

Weihnachten von Günthers Gnaden

So gnädig war kein Gnadenerweis wie der von dem gnädigen Herrn Günther. Er schickt am Heiligabend keine Polizisten zu den Bürgern.

imago Images/E. Contini

Nur ganz wenige kennen es noch von Kaiser Wilhelm II, meine Generation höchstens aus Märchen, die jungen Leser wenigstens aus Comics: das Privileg eines Monarchen, per Erlass Gefangene frei zu lassen. Regelmäßiges Datum solcher Gnadenerweise war im christlichen Abendland  das Weihnachtsfest.

Der wohl legendärste deutsche Gnadenerlass wurde zugleich als erste Stummfilmreportage gedreht, 50 Meter Film und drei Minuten. Gefilmt wurde vor der heute noch existierenden Strafanstalt Berlin-Tegel, als der Schuhmacher Wilhelm Voigt das Gefängnis als freier Mann verlassen konnte. Er ging als „Hauptmann von Köpenick“ in die Geschichte ein. Der Spielfilm mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle gehört heute noch zu den meist gesehenen Produktionen. Der Stumm-Kurz-Film dagegen wurde nach drei Wochen durch die Polizei aus dem Verkehr gezogen. Das war Kaiser Wilhelm wohl zu viel der Gnade.

Doch jetzt, und die Leser dieser Zeilen sollten nun in tiefer Andacht verharren, gibt es einen neuen Gnadenerlass zum Weihnachtsfest. Und man fragt sich: Haben wir nichtige Bürger einen solchen Strom überfließender Gnade überhaupt verdient? Wir, die wir doch so böse sind, uns täglich an den Anordnungen der Herrschenden zu versündigen. Wir, die mal kurz die Maske absetzen, um frei atmen zu können. Die es sträflicherweise zulassen, dass unser Kind doch mal mehr als einen Freund am Tag trifft. Wir, die es wagen, so böse Hetz-Artikel wie diesen hier in TE zu lesen oder gar eine Silbe der Kritik über unsere Lippen bringen, obwohl uns die Dampfplauderei der Hof-Virologen und Hof-Berichterstatter eigentlich die Sprache verschlägt. Wobei wir wieder bei Kaiser Wilhelm wären, oder beim, „Größenwahn im Hosenanzug“, um einen Blogger zu zitieren.

Ja, haben wir nichtsnutzigen und unwürdigen Corona-Sünder diese Gnade überhaupt verdient, die uns nun ein Herr Günther erweisen will. Dieser Wilhelm heißt Daniel und herrscht in Kiel. Ein wahrer Staatsmann, der in seiner unendlichen Huld weiß, was sich zum Weihnachtsfest gehört: eine Amnestie,  ein Gnadenerweis, ein Zeichen von Herz. Er verkündete heute in einem BILD-Interview: „Wir schicken Heiligabend keine Polizisten zu den Menschen.“ Wenn sich das zunächst auch nur auf seine Landeskinder bezieht, die bis 1946 Untertanen des Freistaates Preußen waren, Provinz Schleswig-Holstein. Mit Kaisern, Königen, Fürsten und Prinzessinnen kennt man sich da oben seit Jahrhunderten aus zwischen den Meeren. Es hat im Laufe der Zeit dort so manchen Gnadenerlass gegeben. Aber kein Gnadenerweis war so gnädig wie der von dem gnädigen Herrn Günther.

Man fühlt sich fast an des Sandmännchen erinnert, das nach der Wiedervereinigung nur noch in drei Fernsehkanälen überlebt hat: im Kika, im MDR und beim berlin-brandenburgischen RBB — wobei wir wieder bei Kaiser Wilhelm wären: „Nun, liebe Kinder, habt fein acht, ich hab euch etwas mitgebracht.“ Oder bei St. Nikolaus, dem heutigen Coca-Cola-Weihnachtsmann, der den irdischen Kindern aus himmlischen Sphären etwas Gutes bringt. Allerdings nur, wenn sie brav waren. Das macht der Herr Günther in seiner Huld anders. Egal, was am Heiligen Abend hinter den Türen seiner Landeskinder stattfindet, die Polizei bleibt auf der Wache statt auf der Wacht.

Ich bedauere, nicht in Schleswig-Holstein zu leben. Einigkeit (mit Familie, Freundinnen, Bekannten) und Recht (ein paar Stunden ungestört feiern) und Freiheit (ohne Masken) am Heilgen Abend! Aufgrund der unendlichen Güte Günthers. Mir kommen jetzt schon die Tränen der Rührung. Wie kann man es ihm nur danken?! Vielleicht sollte man noch schnell in die CDU eintreten …

Tja, die CSU bleibt sich dagegen gnadenlos treu. In einem bisher unveröffentlichten Papier der bayerischen Staatskanzlei heißt es: „Die Bürger sind aufgerufen, die Personengruppe des anderen Hausstandes möglichst konstant zu halten.“ Das ist so verquer und volksfern formuliert, wie es eben nur Monarchen können. Also die vom Herrenchiemsee, die keine Gnade kennen. Das war schon so bei der traditionellen Weihnachtsamnestie 2019. Alle Bundesländer ließen Strafgefangene frei, nur Bayern (und Sachsen) nicht.

Liebe Leute im hohen Norden: Ich beneide Euch um echtes Weihnachten von Günthers Gnaden! Sollte bei mir die Berliner Polizei klingeln, werde ich durch die Sprechanlage rufen: „Wir sind schon fünf!“ Und die Tür fest verschlossen halten wie einst der unbarmherzige Wirt von Bethlehem, der nicht wegen eines irren Lockdowns, sondern wegen Überfüllung geschlossen hatte. Da gab es allerdings auch noch keine Bewegung #wirhabenplatz. Aber das wäre jetzt ein anderes Thema …