Tichys Einblick
Was bleibt?

Nicht schon wieder das Ende – Warum alles schlimm ist und dann doch nicht

Wenn Wirtschaft und Philosophie in eine Nivea-Dose passen: Über Europa, die Wirtschaft und den Menschen als Clown – Eine Glosse.

Zu den rätselhaften Besonderheiten der Existenz gehört, dass wir das Leben so gut wie nie vom Ende her denken. Täten wir es, dann wäre der Fortschritt wahrscheinlich nicht so kraftvoll und kontinuierlich über alle Generationen verlaufen, wie er nun einmal verlaufen ist. Nein, die Sache mit dem Apfelbäumchen gilt eigentlich nur für religiöse Abtrünnige und Erfinder des religiösen Marketings. Hinzu kommt: Irgendwie lassen wir uns den Glauben nicht nehmen, dass es eine heile Welt geben muss, die wir alle selbst gestalten werden. Jede Generation nimmt immer wieder an, sie wisse alles viel besser: Deshalb lassen sich beflissen Märchenbücher korrigieren oder Denkmäler niederreißen.

Dass inzwischen in Märchenbüchern allerdings die ProtagonistenInnen (kleiner Scherz …) auf den kindlichen Leser namentlich angepasst werden, nehmen wir lächelnd hin, obwohl hier das ganze psychologische Schlamassel beginnt. Charmant welche Arroganz das Jetzt an den Tag legt. Ein Geburtsdatum ist noch lange kein Verdienst. Für das Verbessern der Welt gibt es jedoch unterschiedliche Rezepte: rechte, konservative, linke, doofe, ja sogar transzendente – alles eine Frage der Perspektive, vielleicht der Biografie oder (zumindest sagte man das noch vor einer halben Ewigkeit) des Milieus. Aber selbst „Rezepte haben“, ist heute nicht mehr so leicht, oder was heißt es eigentlich, wenn man eine Rede von Sahra Wagenknecht, Wolfgang Kubicki, Papst Franziskus, Florian Silbereisen oder Wicki dem Wikingerjungen nicht mehr zuordnen kann. Eigentlich etwas ganz simples: Die Welt ist, wie sie ist, und wir können ein wenig darüber schnacken. Denn viele haben recht, aber keiner hat wahr.

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„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Bitte kommen Sie jetzt nicht mit Richard David Precht und seinem Hang, das Menschengeschlecht im Aufbruch zu begreifen. Precht, die verkörperte Nivea-Dose der Philosophie („Da kann man nichts falsch machen …“) weiß: Vor uns liegt das Paradies. Mir nach! Von vielen haben wir noch im Sommer gelernt, dass die Welt nach Corona eine ganz andere sein wird: Achtsamer, freundlicher, selbstbestimmter, genügsamer, grüner, liebe- und verständnisvoller … nun, das war im Sommer. Das ganze Erfolgsrezept der Sonntagsspaziergänge und der Psychoanalyse liegt ja darin, dass wir allein über das Vorstellen oder Erzählen einer Situation bereits seelische Linderung erfahren. Vorstellung ist Realität. Je öfter wir vom „besser“ lesen werden, desto mehr wird dahinter die mulmige Erkenntnis lauern, dass nix mehr so wird, wie es vorher war.

Alexander Kluge sagte einmal, dass wir (zumindest im Westen) die Zeit von 1950 bis 1990 als eine Phase des positiven Aufbruchs in Erinnerung behalten werden – trotz oder gerade wegen der Blockkonfrontation. Und jetzt also Krise in Dauerschleife, wobei die Krisen ihrem Wesen nach vollkommen üblich sind, aber in der Regel so behandelt werden, dass man das Problem in die Zukunft stundet. Man löst keine Krisen, sondern man erklärt und verschiebt sie und schweigt schließlich (Eurokrise, Wirtschaftskrise, Deindustrialisierung, Energiekrise, Staatsverschuldung, Abhörskandale etc.), auf dass das Problem erst dann auftaucht, wenn wir weg sind. So handeln Kinder im Vorschulalter und bekommen dann wenigstens Schimpfe, wenn die verschmähte Banane unter dem Bett diffundiert …

Die Welt hat keinen Plan. Pläne sind Menschenwerk. Und diese Pläne werden so gut wie nie Wirklichkeit. Und so bleibt die Welt planlos. Gerade in Europa können wir ein Liedchen davon singen. Denn in Europa zählen nur noch geistige Werte, während man die unternehmerische Realität eines Weltmarktes weitgehend ignoriert. Das ist die Folge, wenn in Europa Politiker regieren und in China Volkswirte … Wer aber nur noch Werte beschwört (aber nicht einlöst), der hat keine Tätigkeiten mehr. Europa als Zentrum der Welt ist einfach passé … wen interessiert eigentlich noch, was auf diesem Kontinent geschieht (vom Autobau einmal abgesehen, aber auch das ist hinfällig) – eigentlich noch nicht einmal mehr uns selber. Unsere Folklore sind schon längst nicht mehr Volkstänze oder Lieder in Mundart, sondern die Art, wie sich Politik Politik vorstellt. Altenheime taugen nun einmal nicht für Actionfilme. Ist ja auch mal genug … nach über 2.000 Jahren.

Europa gilt als das Museum der Welt. Denn Europa ist der Kontinent der Herkünfte, der Geschichte(n), der Sitte(n) und Rituale: Kein Kontinent hat im Laufe seiner Geschichte mehr warenwirtschaftliche Besonderheiten hervorgebracht, die auch heute noch existieren und auf globaler Ebene übergreifende Bilder und Zuschreibungen hervorrufen. Möglich ist dies, weil Waren immer wieder in ähnlicher Weise hergestellt wurden – Erfahrung schafft Erwartung. Diese Erwartung war nicht sporadisch und situativ, sondern sie entwickelte sich zu einer Haltung, zu einer Erwartungshaltung, die eben „festhielt“, orientierte und die Möglichkeit schuf, einer Gemeinschaft Gleichgesinnter anzugehören. Dieses verankerte Wissen, um die Besonderheiten eines „guten Namens“ ist der eigentliche Treiber der europäischen Wirtschaft. Im Kommunikationsgewitter der Neuzeit mit seinen unendlichen Signalen, Kanälen und Akteuren sind viele europäische Unternehmen ein Leuchtturm. Um dies zu sein, braucht Wirtschaft Klarheit und eine politische Vertretung, die ihre Interessen ebenso knallhart durchsetzt, wie es im Rest der Welt geschieht. Ein schöner Traum.

Lassen sie uns fröhlich fatalistisch sein: Zum Schluss geht es darum, ein wenig Freude und Erfüllung während der durchschnittlich 22.000 Tage zu haben, die wir auf diesem Planeten verbringen, und zwar möglichst erbaulich und sicher. Dieses Streben ist deshalb so allumfassend, weil das reale Leben de facto nicht sicher ist: Verlust und Veränderung sind allgegenwärtig, nur manchmal und zeitweise umfasst uns das Gefühl und die Illusion von Stabilität – von der Ehe über die Sozialversicherung, den Bausparvertrag, die Zutatenangabe auf einer Lebensmittelpackung, die Stiftung Warentest, das Rückgaberecht, den Segelschein oder das Bürgerliche Gesetzbuch. In Wirklichkeit lebt der Mensch in der permanenten Möglichkeit des Verlustes oder: Der Verlust ist immer nur eine Frage der Zeit.

Was bleibt?
Das gilt sogar für das Ende der so europäischen Mittelschicht. Das gilt für Kündigungsschutz, Rentenversicherung, sogar betriebliche Altersvorsorge, Urlaubs- und Weihnachtsgeld – irgendwann wurde vergessen, eben diese erarbeiteten und erstrittenen Segnungen zu erwirtschaften. Das westliche Europa war spätestens seit Ende der Nachkriegszeit geprägt vom Aufstieg und der Ausbreitung der Mittelschicht. Die typische Vorstellung von oben und unten wurde nicht aufgelöst, indem man auf eine Ober- und Unterschicht verzichtete, sondern indem (fast) das gesamte Land zur Mittelschicht wurde. Das gilt in weiten Teilen bis heute – mit dem Unterschied, dass die Gelder für diesen Traum entstehen, ohne da zu sein. Wussten Sie, dass 25 Prozent der gesamten Geldmenge des Jahres 2020 eben in diesem Jahr „geschaffen“ wurden? Die Wirtschaft ist ein Mirakulum! In Zukunft wird es keine Schichten mehr geben, sondern nur noch Menschen, die wirklich etwas können (Automechaniker, Orgelbauer, Bäcker, Hubschrauberpiloten), und viel mehr Menschen, die nur so tun, als ob sie etwas könnten oder viel Zeit darauf verwenden, sich gegenseitig zu verwalten.

Das Tempo der Veränderung und der Unwille eben diese Entwicklung wahrzunehmen, wird dazu führen, dass wir eines sonnigen Tages, während wir die samtige Konfitüre auf das Sonntagsbrötchen schmieren, gewahr werden, dass die Welt, die wir kennen, eine andere sein wird. Wir haben einen interessanten historischen Wendepunkt erreicht, an dem wir die Vergangenheit für die Zukunft halten und Asien zu Amerika wird. Und Europa? Zu einem wirklich malerischen Ort mit viel grün und Menschen, die Zeit haben.

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