Tichys Einblick

Die SPD kann nicht weg – sie kommt immer mal wieder

Willkommen im Zeitalter situativer Glaubensbekenntnisse. Eine sozialdemokratische Glosse.

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An der Lübecker Bucht gibt es ein besonderes Phänomen: Immer wieder findet sich am sandigen Strand der Ostsee irgendwo zwischen Travemünde und Grömitz dann und wann ein feiner Saum von Rosenblättern zwischen Seetang, Miesmuscheln und allerhand Steinchen. Touristen aus dem Süden sind dann kurzzeitig verzückt, Kinder sammeln die roten und cremefarbenen Blätter auf und freuen sich. Die wenigsten der Ferngereisten wissen, dass es sich dabei um den Blumenschmuck für die täglich wachsende Zahl an Seebestattungen handelt, die regelmäßig vor der Küste stattfinden und deren Kränze und Blumen die Wellen und der Wind an die Küsten treibt. Trauer und Glücksgefühle liegen manchmal nah beieinander und manchmal ist Distanz zu den Dingen äußerst produktiv.

Nunmehr wird allenthalben das Ende der Sozialdemokratie und der unaufhaltsame Aufstieg der Grünen prophezeit. Ein schönes Thema. Untergänge waren immer gut zu lesen. Sie vermitteln der Öffentlichkeit das Gefühl, bei etwas Großem dabei zu sein. Abschied gibt dem, der verabschiedet, ein Gefühl der Überlegenheit: man selbst ist schließlich noch da. Der ganze politische Lärm ist dann doch nur Psychologie. Keine Frage: Die letzten Tage und Stunden lassen die Zukunft der SPD katastrophal erscheinen. Die tägliche Beschwörung der „großen Geschichte der ES_PE_DE“ durch die sozialdemokratischen Führungsteams ist der gedankliche Rettungsanker und in der Verzweiflung fast sympathisch. Jedoch ist die Beschwörung einer großen Vergangenheit kein Verdienst. Im Gegenteil: Es lässt die momentane Situation noch erbärmlicher erscheinen.

Analysen zum Untergang der Sozialdemokratie liegen zu Hauf in akademischen und burschikosen Versionen vor – eine neue Variante an dieser Stelle wäre allenfalls so bedeutsam wie das Straßenbegleitgrün um das Willy-Brandt-Haus in Berlin. Und doch. Vielleicht hilft ein struktureller Blick, um die entscheidenden Prozesse von politischen Erfolgen und Niederlagen nachzuvollziehen, denn Parteien sind Markenbekenntnisse. So wie jeder Kunde mit dem Kauf einer Marke immer ein wenig von sich selbst erzählen will, so ist das Bekenntnis zu einer Partei ebenfalls die idealtypische Möglichkeit, von seinen individuellen Wünschen, Idealen und Überzeugungen zu berichten. Kein Wunder, dass sich heute kaum noch Leute auf das „Wahlgeheimnis“ berufen und gerade junge Wähler freimütig von ihrer Wahl berichten: „Ich sage Dir, was ich wähle und Du weißt, wie ich die Welt sehe.“ Grün macht so schön moralisch und lässt uns ganz sorgenfrei in den SUV einsteigen. Der kategorische Imperativ als spaßiges Gruppenbild.

Das funktioniert selbstverständlich nur, wenn die Botschaft möglichst reibungslos von möglichst vielen verstanden wird. Eine Rolex macht auch nur dann Sinn, wenn ich weiß, dass das Ding teuer ist. Die Problematik (vor allem der Sozialdemokratie) der vergangenen 15 Jahre ist, dass eben nicht mehr klar ist, was die Aussage ist. Hybride Marken nennt die Markenwissenschaft: Unternehmen, die versuchen, sich dem Zeitgeist oder einer vermeintlichen Zielgruppe bedingungslos anzupassen (bspw. Mercedes Benz, die plötzlich mit Rappern und Comictierchen werben). Das geht über die Zeit immer schief, da die Aufgabe einer Marke ja die Komplexitätsfokussierung ist – sie orientiert. Ein Zuviel an Anpassung nehmen die ins Visier Genommenen nicht ab und die eigentlichen Stammkunden erkennen ihre Marke nicht wieder. Statt Win-Win herrscht Lost-Lost. Die SPD hat sich im Ergebnis einer vermeintlichen, aber dauerhaften „Kompromiss-Kultur“ bis zur Verdampfung hybridisiert. Wer alles macht, ist schließlich nichts mehr.

Welche Inhalte eine SPD zur SPD machen, werden immer wieder beschworen, aber die wiederkehrende Formulierungen bringen nichts, solange sie nicht durchgehalten werden. Wenn aber Überzeugung durch Demoskopie ersetzt wird, fehlt irgendwann die Leidenschaft. Wer nur nach Zahlen steuert, hört auf zu denken. Nr. 1-Positionen entstehen nie über die Befragung eines „Marktes“, sondern allein aus Überzeugung, dass „es so zu sein hat.“ Risiko statt Vollkasko und Fahrradhelm. Das kann schiefgehen oder aber extrem gut. Voraussetzung ist allerdings, dass man eine Überzeugung und eine politische Vorstellung hat. Als tatsächliche große Idee. Das Thema der „grünen Weltrettung“ zeigt nur zu deutlich auf, wie selbst die größten Phantasien Konjunktur haben können.

Vernünftige Politik ist nämlich solange vernünftig, wie sie resonanzstark ist. Vernunft ist Mehrheitsauffassung. Verfliegt sie, dann ist es Zeit für eben diese Art Visionen, deren Träger Altkanzler Schmidt noch einweisen ließ. Es mag für die 1980er Jahre richtig gewesen sein, in Kleinheiten und Details zu denken, aber eine entgrenzte Welt benötigt in einem gewissen Maß auch entgrenzte politische Vorstellungen und Entwürfe. Und dies vor dem Hintergrund einer weit gefassten Wähleransprache über strukturell Benachteiligte und Aufsteiger hinaus … frei nach Sigmar Gabriel: Die SPD muss dahin, wo es stinkt. Klingt gut, weil unkonkret, aber eben hier liegt der Schlüssel, damit die SPD nicht nur den Kopf, sondern erneut auch das Herz anspricht. Das fehlt. Die SPD verströmt das Charisma eines klinisch weißen Kühlschranks auf Rollen, anstatt zu begeistern und kämpferisch in Innen- und Außenpolitik eigene Wege zu gehen (siehe Schröder gegenüber Bush jun.). All dies hätte Potential.

Und bei allem Respekt für die versierten Kommentatoren: Der demoskopische Hype um die „Vergreisung der SPD-Wählerschaft“ mag eine richtige Momentaufnahme sein (sie kommt übrigens im Marketing ständig unter dem Stichwort „Wir sterben mit unseren Kunden“ vor und vernichtet regemäßig Markenwerte und ganze Unternehmen), aber rational wächst die Gruppe der älteren Wähler unaufhörlich, während die Gruppe der jungen Wähler tendenziell abnimmt. Das ist kein Trost, aber hoffentlich ein beruhigender Gedanke für SPD (und CDU) – denn sicherlich bestehen auch parteipolitische Neigungsbereitschaften, die altersbedingt sind.

Für Hauskredite, Lebensversicherungen und Treppenlifte interessiert man sich auch selten mit 19. Im Unterschied zu älteren Wählern nimmt die Parteientreue mit jüngerem Älter immer weiter ab. Im Effekt ist ein Teil der Wählerschaft höchst volatil und wählt zeitgeistig. Und so hat die medial befeuerte Klimadebatte (ähnlich wie zu Zeiten von Fukushima) politische Dringlichkeiten pointiert, die aber genauso gut wieder überdeckt werden können … so wie seinerzeit der Regierungsstil von Putin, dann Erdogan, die Diesel- oder Mautdiskussion … veröffentlichte Halbwertszeit jeweils ca. 2-3 Monate. Die Klimadiskussion befand sich vor gut zwei Wochen auf dem Höhepunkt der medialen Relevanz und kam dementsprechend den Grünen zugute – wie ein Surfer, der auf seinem Board liegend auf die richtige Welle wartet.

Dass Themen wie Soziale Gerechtigkeit durchaus massengängig sind, demonstrierten die prognostizierten 30%, die Martin Schulz in den Euphorie-Tagen des Hypes im Frühjahr 2017 erzielen konnte – was nahezu einer Verdoppelung des EU-Eergebnisses gleichkommt und das mögliche Potential verdeutlicht. Über die Gründe und die Prognoseverlässlichkeit mag man streiten. Es geht um etwas anderes: Die eigentliche Erkenntnis aus den derzeitigen Wahlergebnissen ist, dass der Parteienerfolg zu einem großen Teil direktes Ergebnis tagesaktueller Hypes ist. Dabei behandelt die öffentliche Meinung immer wieder die ähnlichen Themenfelder von Ökologie, Sozialer Gerechtigkeit, Europa, Zuwanderung … in all diesen Feldern können mal die Grünen, mal die SPD, mal die AfD, selten, aber durchaus die FDP punkten – und auf ihre perfekte Welle warten. Sicherlich mit zunehmend gleichumfassenden Anteilen.

Aber Moment? Für welches Themenfeld steht eigentlich die CDU? Mit dem bisherigen Merkelschen „Sie kennen mich …“ wird es bald vorbei sein. Die Programmatik der Christlichen Union wabert diffus umher – irgendetwas mit „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“ (Wahlkampfslogan 2017) … sorry, aber da kann der Surfer lange auf seine Welle warten.

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