Tichys Einblick
SCHADSTOFFE

Das Süßstoff-Paradoxon

Das Marketing funktioniert. Viele Menschen benutzen Süßstoffe statt Zucker, weil sie glauben, durch die Kalorienersparnis ihr Gewicht kontrollieren zu können. Doch der Körper merkt den (Selbst-)Betrug und steuert gegen. Außerdem haben Süßstoffe zahlreiche Nebenwirkungen, die sogar krank machen.

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Es gibt für jedes große Problem eine Lösung, die ist einfach, logisch und falsch. Wer um seine Gesundheit besorgt ist, wird angehalten, seinen Luxuskörper durch alle Fährnisse des Lebens stets jugendlich schlank zu erhalten. Nichts auf der Welt ist bekanntlich einfacher als das: Man spare bei den Kalorien, ersetze schon beim morgendlichen Kaffee die Droge Zucker durch Süßstoffe, und schon hat man bis zum Abend ein erkleckliches Sümmchen an Kalorien auf seinem virtuellen Diät-Sparbuch.

Millionen und Abermillionen Frauen hat das Konzept überzeugt, nur die erhoffte Wirkung blieb in aller Regel aus. Ein durch Ernährungssendungen therapeutisch geschultes Publikum kennt längst den Grund: Die Damen haben halt heimlich aus der Keksdose genascht. Man weiß: Von nix kommt nix.

Ein zweiter Glaubensgrundsatz der Freizeittherapeuten lautet: Viel hilft viel. Weil viel Süßstoff besser ist als wenig, wurde die Zahl der zugelassenen Stoffe über die Jahre stetig erhöht. Immer dann, wenn die verfügbaren Substanzen ihre zulässigen Zufuhrmengen überschritten, gab es Neuzulassungen. So verteilt sich der steigende Süßstoffkonsum auf immer mehr Einzelsubstanzen.

Verbraucherschützer finden nichts dabei. Anders bei Pestiziden. Die werden im Gegensatz zu Süßstoffen zwar nur mikrogrammweise verzehrt, aber hier fürchten sie gigantische Kombinationseffekte.

Nun gut, Süßstoffe sind, wie es so schön heißt, geprüfte Zusatzstoffe und
keine „Supergifte“ wie Glyphosat, Acrylamid oder Chlororganisches. Leider wurde ihr werblicher Auftrag, nämlich das Verschlanken der gefräßigen Kundschaft, bei ihrer Zulassung gar nicht geprüft. Dabei besitzen zahlreiche Süßstoffe gleichzeitig noch eine weitere Zulassung: Beim Mastvieh lautet ihre Zweckbestimmung, die Gewichtszunahme zu beschleunigen. Natürlich ohne dass die Tiere mehr Futter brauchten, sonst wär’s für den Mäster ein Verlustgeschäft.

Wie ist das möglich? Die Antwort ist simpel: Werden Süßstoffe vertilgt, bemerkt der Körper den kalorischen Betrug und steuert gegen. Er senkt seine Innentemperatur ein klein wenig ab. Das genügt, um mit der eingesparten Energie das Unterhautfettgewebe zu verstärken, also den Isolator, der ihn vor Wärmeverlusten schützen soll. Beim Menschen genügt es, die Durchblutung der Haut zu drosseln, dann gibt der Körper weniger Wärme ab. Mit der Ersparnis wird die Schwarte unterfüttert.

Es sind ja nicht die dicken Kinder, die hinter den Süßwaren her sind, sondern die schlanken, hochgeschossenen. Sie besitzen wenig Unterhautfett, kühlen dementsprechend schneller aus. Bei moppeligen, untersetzten Kids isoliert das Bauchfett die empfindlichen inneren Organe. Bei hageren Kindern, bei denen die Rippen sichtbar sind, ist der Hang zum Zucker eine notwendige Schutzreaktion.

Die Gefährdung des Menschen durch Zuckerersatz beginnt bereits im Mutterleib: In einer prospektiven Studie mit über 3.000 Schwangeren waren Säuglinge, deren Mütter täglich Süßstoffe konsumiert hatten, im Alter von einem Jahr doppelt so häufig übergewichtig wie Babys von Müttern, die lieber zuckerten. Da solche Ergebnisse von der Sekte der Kaloriengläubigen reflexartig in Abrede gestellt werden, hatten die Forscher natürlich alle nur denkbaren Einflussfaktoren wie Kalorienzufuhr, mütterliches Gewicht, Rauchen und so weiter berücksichtigt.

Risiko metabolisches Syndrom

Inzwischen ist klar, dass es nicht beim Übergewicht bleibt, Süßstoffe können das metabolische Syndrom verursachen. In einer Doppelblindstudie schluckten junge Probanden vor den Mahlzeiten eine Kapsel mit Süßstoffen (Acesulfam, auch als E 950 deklariert, und Sucralose, E 955) oder ein Placebo. Mit den geschmacksneutralen Kapseln stieg der Blutzuckerspiegel nach den Mahlzeiten von Tag zu Tag stärker an, nicht aber unter Placebo. Klingt widersinnig, denn theoretisch sollten Süßstoffe helfen, den Blutzucker zu kontrollieren. Detaillierte Untersuchungen ergaben, dass sie die Resorption von Glucose aus dem Speisebrei beschleunigen. Praktisch jede Mahlzeit enthält Stärke, die reichlich Glucose liefert.

Das Weizmann-Institut in Rehovot erhielt analoge Ergebnisse: Mäuse entwickelten mit Saccharin, Aspartam und Sucralose eine ausgeprägte Glucoseintoleranz, Vorbote einer Diabetes – im Gegensatz zur Kontrollgruppe mit Zucker. Ein Versuch am Menschen bestätigte den Effekt. Daneben verschlechterten sich die Leberwerte, das Bauchfett der Probanden mehrte sich. Je höher die Dosis, desto ausgeprägter die Folgen.

Schädigigung der Darmflora

Doch bei dieser Erkenntnis ließen es die Forscher nicht bewenden. Bei der Suche nach der gemeinsamen Ursa­che entdeckten sie, dass Süßstoffe die Darmflora nachhaltig schädigen. Als sie den Tieren Antibiotika verabreichten, die den Darm gründlich durchputzen, bewahrte dies die Tiere vor der Ent­stehung einer Süßstoff­Diabetes. Falls diese Tierversuche auf den Menschen übertragbar sind, besteht Hoffnung für Süßstoffverwender und Diabetiker.

Die meisten Süßstoffe gehen neben ihren beiden Brot­und­Butter­Jobs als
Mastmittel für Tiere aller Art und als Schlankmacher für ungefiederte Zwei­beiner noch einem dritten Broterwerb nach: als Industriechemikalie. Saccha­rin eignet sich zur Herstellung von PET­ Flaschen, von Kautschuk und Polyacryl sowie als Zuschlagstoff für Betonbinde­mittel.

Auch kosmetisch machen die Süßstof­fe was her: Ein Hersteller von Haarpflegemitteln hat sich eine ganz spezielle Verwendung patentieren lassen: Durch Saccharin werde „die Aufhellleistung von Blondiermitteln signifikant verbes­sert“. Der Süßstoff Neohesperidin (Le­bensmittelzusatzstoff E 959) wiederum wird empfohlen, um die Haut aufzuhel­len und Sommersprossen zu entfernen. Die Anwendung erfolgt nicht als Creme, sondern durch Verzehr.

Dank eines gedankenlosen Konsums haben sich Süßstoffe einen Spitzenplatz unter den Umweltschadstoffen erobert, sie dominieren in Gewässern das Spek­trum der anthropogenen, von Menschen hergestellten Verunreinigungen. Nicht einmal der Umstand, dass es sich bei Sucralose um eine chlororganische Ver­bindung handelt, vermag die Herzen der Campaigner zu erweichen, sich end­lich den ernsthaften Gesundheits­ und Umweltrisiken zuzuwenden.