Tichys Einblick
Ferdinand von Schirach

„Rettungsfolter“ im Fernsehen – alle Fragen beseitigt?

Im Fernsehdrama "Feinde" plädiert Autor Ferdinand von Schirach dafür, unsere Gerechtigkeitsvorstellungen konsequent vom Recht zu trennen. Doch so einfach ist das nicht. Von Alexander Heumann.

Screenprint: ARD/Gegen die Zeit

15 Millionen Zuschauer sahen am Sonntag auf ARD das Kriminaldrama „Feinde“ des Strafverteidigers und Bestsellerautors Ferdinand von Schirach. Es handelt sich um ein ganz besonderes TV-Projekt. Es erzählt ein- und dieselbe Entführungsgeschichte aus zwei unterschiedlichen Perspektiven: Einmal aus Sicht der Polizei (Untertitel: „Gegen die Zeit“), einmal aus Sicht des Strafverteidigers („Das Geständnis“).

Von Schirach unternimmt erneut den volkspädagogischen Versuch, über Prinzipien des Rechtsstaats aufzuklären. Das ist löblich. Andererseits war er beim Kindesentführungsfall Jakob von Metzler (2002) „empört darüber“, wie in Deutschland „überhaupt eine Diskussion“ über Rettungsfolter „stattfinden konnte“ und will deshalb „die Geschichte nun einmal anders erzählen“. Neutral steht er dem Thema natürlich nicht gegenüber. Er bezieht eindeutig Stellung; leider ohne die Argumentslage halbwegs abzudecken.

Das TV-Drama

Ein zwölfjähriges Mädchen wird entführt und seine Eltern mit einer Lösegeldforderung erpresst. Die Polizei verdächtigt einen Sicherheitsangestellten der Eltern. Aber alle etwaigen Fingerabdrücke oder DNA-Spuren wurden durch Inbrandsetzung des Tatfahrzeugs vernichtet. Beweise gibt es daher nicht, allenfalls schwache Indizien. Der Verdächtige schweigt. In dieser Pattsituation foltert ein Kriminalkommissar den vermeintlichen Täter, um den Aufenthaltsort des Kindes in Erfahrung zu bringen. Er wendet die aus Guantanamo bekannte Waterboarding-Methode an, die bei Gefolterten fürchterliche Gefühle des Ertrinkens auslösen, wie der Film anschaulich macht. Derart gepeinigt, gibt der Entführer das Versteck preis, und gesteht bald darauf auch, der Entführer zu sein. Als das Mädchen aufgefunden wird, ist es bereits tot; erstickt im ofenbeheizten Versteck, weil der Wind den Lüftungsschacht des Raums mit einer Plastikplane verschlossen hatte. Der Tot als unbeabsichtigter Zufall, gleichwohl dem Entführer möglicherweise zuzurechnen.

Der Prozeß

In der Strafverhandlung schweigt der Angeklagte. Die Polizei hat aber sein früheres Geständnis. Sein Verteidiger kann den Fall nur gewinnen, wenn er dem Kommissar bei der Zeugenvernahme, die sich zum Verhör steigert, die Tatsache der Folter entlockt. Das gelingt ihm: Es ist aktenkundig, dass der Kommissar die Folter förmlich beantragt hatte. Außerdem war der Beamte zur fraglichen Zeit im Besucherbuch des Gefängnisses eingetragen.

Damit stand das Urteil über den Entführer fest: Er war freizusprechen. Ein unter Nachwirkung von Folter erfolgtes Geständnisse darf vor Gericht nicht verwertet werden. Man muß kein Jurist sein, um das zu wissen. Andere Beweise gab es nicht. Reicht nicht als Beweis für die Täterschaft, dass der Angeklagte das Versteck kannte? Gerade diese Aussage war aber zuvor unmittelbar unter Folter abgenötigt worden. Sie unterliegt dem gesetzlichen Verwertungsverbot.

Ist der Freispruch „gerecht“?

Der Zuschauer soll nun beurteilen: Ist der Freispruch des Angeklagten gerecht Angeblich sagen 84 Prozent: Nein, nicht gerecht. Sogar mehr als die Hälfte der Polizisten sähen das auch so. Ferdinand von Schirach will sie rechtsphilosophisch aufklären und erziehen, ebenso auch die als Kinozuschauer handverlesenen Eltern, Juristen und Polizisten. Sein Credo: „Unsere persönlichen moralischen Vorstellungen dürfen nicht zum Gesetz werden.“ Für ihn ist der Kommissar zwar insofern moralisch ein Held, als er seine berufliche Existenz für die Rettung des kleinen Mädchens aufs Spiel setzte; aber: „Helden scheitern“. Von Schirach geht es v.a. um diese Diskrepanz zwischen Moral und Recht.

Aber liegen zwischen Recht und Gerechtigkeit unüberbrückbare Gräben? Zwischen unseren Gefühlen – etwa Schutzreflex oder Strafwunsch – und der höheren Vernunft des Rechtsstaats? Und vor allem: Gibt es keine Brücke zwischen der schlichten Stimme des Volkes und spitzfindiger Rechtsdogmatik? Schirachs Hauptargument: Oberstes Prinzip muss immer die Unantastbarkeit der Menschenwürde bleiben. Ja, sagt auch der Folter-Kommissar im TV-Prozess, aber wo bleibt die Menschenwürde des Entführungsopfers, zumal in einer Extremsituation, wo dessen Leben und körperliche Unversehrtheit am seidenen Faden hängt? Es erstickt vielleicht irgendwo lebendig begraben und haucht bald sein Leben aus.

Rechtslage

Unser Grundgesetz reflektiert dieses Dilemma durchaus: Laut Artikel 1 muss der Staat die Menschenwürde einerseits „achten“, andererseits auch „schützen“. Aber Artikel 104 Absatz 1 Satz 2 lautet unmißverständlich: „Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden.“

Alle nationalen und internationalen Rechtstexte verbieten Folter absolut und ausnahmslos. Für „Rettungsfolter“ im Rechtsstaat scheint nicht der kleinste Raum zu sein. Es mag daher überraschen, dass es dennoch namhafte Rechtsexperten wie Winfried Brugger gibt, die den Graben zwischen Recht und Gerechtigkeit ausgerechnet an dieser Stelle zu verringern suchen. Tatsächlich redet Brugger einer Rettungsfolter in eng umgrenzten Fallkonstellationen das Wort. Wichtig: Bloß Verdächtige dürfen niemals gefoltert werden! Deswegen wäre für Brugger der Freispruch im TV-Drama wohl ohne weiteres richtig und gerecht.

Reale Blaupause

Erkennbare Blaupause für das TV-Drama ist die Kindesentführung des elfjährigen Bankierssohns Jakob von Metzler durch den Jurastudenten Gäfgen (2002). Gäfgen war bei der Übergabe des Lösegeldes verhaftet worden, bestritt aber die Tat. Schon unter Androhung von Folter gab er den Aufenthaltsort des Kindes preis und gestand kurz darauf. Gerichte mußten erstmals über die Konsequenzen eines solchen Tabubruchs entscheiden. Warum konnte Gäfgen überhaupt verurteilt werden? Im Unterschied zum TV-Drama weiderholte er in der Hauptverhandlung – trotz Belehrung über eine Unverwertbarkeit seines früheren Geständnisses – sein Geständnis umfassend. Seine Verurteilung wurde abgesegnet vom Bundesgerichtshof und vom Bundesverfassungsgericht. Indes: Hätte sein Strafverteidiger ihm Schweigen verordnet, wäre er auf freien Fuß gelangt. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof gewährte Gäfgen später Schmerzensgeld wegen Verstoßes der deutschen Justiz gegen das Gebot des fairen Verfahrens.

Staatliches Gewaltmonopol vs. privates Nothilferecht

Sieht die Sache grundlegend anders aus, wenn der Entführer zwanglos gesteht, sich vielleicht sogar mit der Tat brüstet oder aus sonstigen Gründen „sicher identifiziert“ werden kann – aber das Versteck für sich behält? Brugger argumentiert: Die Eltern dürfen dem Täter zur Rettung ihres Kindes den Aufenthaltsort als ultima ratio mit Folter abpressen; das sei vom privaten Notwehrrecht bzw. Nothilferecht gedeckt. Aber nur, solange die Polizei nicht auf der Bildfläche erscheint und ihr Gewaltmonopol beansprucht. Der Staat muss den Täter selbst vor den Angehörigen des Opfers schützen, notfalls mit Waffengewalt. Deshalb sei der Staat in dieser Konstellation sogar verpflichtet, den Versuch der Rettungsfolter – oder zumindest deren Androhung – zu unternehmen, wenn alle anderen Wege versperrt sind.

Man kann das noch mehr zuspitzen: Angenommen, ein entführtes Mädchen würde barbarisch gequält und vergewaltigt, zu sehen „live“ auf Youtube, weil die Täter filmen. Man hat einen geständigen Mittäter, der über den Ort des Geschehens schweigt. Dürften Polizeibeamte ihm kein Haar krümmen, um das Kind zu retten?

Selbstbehauptung des liberalen Rechtsstaats?

Brugger hat nicht zuletzt den terroristischen Bombenleger vor Augen, der den Ort der Bombe verschweigt. Während der Countdown für tausende, vielleicht zehntausende Menschen läuft, grinst er den Ermittlern ins Gesicht. Auch dann bleibt das ethische und rechtliche Dilemma, fraglos. Aber für von Schirachs Position wird es enger. Sie wird weniger eindeutig, nur noch scheinbar eindeutig.

Nach dem New Yorker 9/11-Terroranschlag setzte der deutsche Bundestag ein Luftsicherheitsgesetz in Kraft. Es erlaubte, von Terroristen gekaperte Flugzeuge in ansonsten auswegloser Situation abzuschießen, um die Allgemeinheit vor Katastrophen zu schützen, selbst wenn sich unschuldige Passagiere an Bord befinden. Wegen deren Menschenwürde erklärte das Bundesverfassungsgericht das Gesetz für nichtig. Aber war ihr Leben nicht – so oder so – verloren? Bis heute ist die Diskussion darüber nicht ganz verstummt. Brugger und viele andere sagen: Der Rechtsstaat darf nicht zum „kollektiven Selbstmordpakt“ werden.


Alexander Heumann ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Familienrecht.

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