Tichys Einblick
Interview mit einem Insider der Kulturszene

Diese Corona-Politik bringt die Kulturszene zum Erliegen

Josef Kraus sprach mit einem Insider über die Auswirkungen von Corona und der Corona-Politik auf die Kulturszene und damit auf die gesamte Kulturnation.

Alarmstufe Rot - Tausende Künstler und Veranstalter demonstrierten gegen die Coronamaßnahmen der Bundesregierung, 26.10.2020 Berlin

IMAGO / Müller-Stauffenberg

Josef Kraus (JK) hat mit einem Insider ein Interview über die Auswirkungen von Corona und der Corona-Politik auf die Kulturszene und damit auf die gesamte Kulturnation gesprochen. Sein Gesprächspartner Mario Schoßer (MS; 67) ist – um diesen etwas sperrigen Begriff zu verwenden – selbst „Kulturschaffender“. Als bildender Künstler ist er vor allem spezialisiert auf Grafik und Glaskunst. Ein Teil seiner Arbeiten ist aufrufbar unter www.mario-schosser.de Zudem wirkt er als Gitarrist und Sänger in einer Band mit. Mario Schoßer ist in der Kulturszene bestens vernetzt. Er weiß sehr gut, was dort seit einem Jahr los ist.

JK: Herr Schoßer, laut offizieller Statistik gibt es in Deutschland etwa 260.000 Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft mit etwa 1,25 Millionen Erwerbstätigen. Das heißt: Pro Unternehmen sind das im Schnitt fünf Beschäftigte. Alle miteinander haben 2019 angeblich 174 Milliarden Umsatz erzielt. Ist mit dieser Statistik wirklich die gesamte deutsche Kulturszene erfasst.

MS: Ich kann mir nicht vorstellen, dass bei diesen Zahlen die sogenannten Solo-Selbstständigen irgendeine Rolle spielen oder überhaupt erfasst werden. Es geht um einige Hunderttausend mehr. Wer als Kulturschaffender etwa eine feste Anstellung in einem staatlichen, kommunalen oder öffentlich-rechtlichen Ensemble hat, kommt halbwegs über die Runden. Die vielen, vielen anderen nicht. Da kann ich nur einen Vers aus Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“ zitieren: „Denn die einen sind im Dunkeln // und die andern sind im Licht // und man siehet die im Lichte // die im Dunkeln sieht man nicht.“

JK: Wen drückt der „Corona-Schuh“ am meisten?

MS: Der „Corona-Schuh“ drückt alle kulturellen Sparten: Musik, Tanz, Theater, Literatur und Bildende Kunst. Kein Bereich ist ausgenommen

JK: Am wenigsten dürfte doch der Bereich der Bildenden Kunst betroffen sein. Man bekommt Aufträge, stellte das Kunstwerk in seinem Atelier her, liefert und bekommt seinen Lohn dafür?

MS: Das mag vielleicht eine verbreitete Meinung sein, aber nach den neuesten Erhebungen können nur 10 Prozent der registrierten bildenden Künstler von ihrer Arbeit leben, zwei Drittel verdienen unter 5.000,– Euro im Jahr und nur ca. 1 Prozent kommt auf ein Einkommen von 50.000,– Euro oder mehr. Das heißt, ein Großteil der Künstler muss sowieso einen zusätzlichen Job annehmen, und richtige Aufträge haben nur die wenigsten. Das hat auch damit zu tun, dass potentielle öffentliche, kirchliche oder private Auftraggeber wegen ihrer finanziellen Belastungen durch Corona derzeit kaum noch Aufträge an Künstler vergeben. Was den bildenden Künstlern darüber hinaus fehlt, das sind Ausstellungen. Ihre Werke konnten sie vor „Corona“ in Ausstellungen präsentieren, und ein Teil davon wurde dort auch gekauft. Eine Präsentation ihrer Werke im Netz macht das nicht wett.

JK: Relativ glimpflich müssten die schreibenden Künstler wegkommen. Die schreiben ihre Bücher und verkaufen sie.

MS: Nur ein kleiner Teil der Schriftsteller kann von den Buchverkäufen leben (ein Gedichtband hat vielleicht eine Auflage von 2.000 Stück und der Autor bekommt etwa 10 Prozent des Verkaufspreises), die meisten leben von ihren Lesungen, und die gibt es halt in Zeiten von Corona nicht. Tausende von Lesungen sind zum Beispiel wegen der Schließung der Schulen und öffentlichen Bibliotheken weggebrochen.

JK: Nehmen wir mal Musiker, freie Musiklehrer, Schauspieler und freie Sportlehrer, Ballettlehrer usw. Wie stellt sich deren Einkommenslage seit März 2020 dar?

MS: Freie Künstler sind, wie der Name schon sagt, nirgends fest angestellt, sondern nehmen Engagements an oder spielen als Musiker auf verschiedenen Events. Das Angebot war im Jahr 2020 gleich null!

JK: Haben Sie ein krasses oder repräsentatives Beispiel parat?

MS: Ein Bekannter von uns lebt und arbeitet als freier Cutter in Westdeutschland und hat seine Arbeitsstätte (Computer) in der eigenen Wohnung. Bei den Soforthilfen 2020 musste man die Ausgaben für 2019 vorlegen, die man für Büromiete usw. ausgegeben hatte und nur für diese Aufwendungen durfte das ausbezahlte Geld auch verwendet werden – nicht für den Lebensunterhalt. Unser Bekannter wohnt jetzt wieder bei seinen Eltern in Bayern.

JK: Wer von diesen Leuten kann sein Angebot gegen Entlohnung ins Netz verlegen? Musiklehrer etwa?

MS: In wenigen Fällen funktioniert das, z.B. beim Musikunterricht. Aber es ist kein vollwertiger Ersatz für einen Unterricht in persönlicher Begegnung. Es ist wie in der Schule. Der digitalisierte Distanzunterricht kann den Präsenzunterricht nicht ersetzen. Es bleibt ein Notbehelf.

JK: Wie kommen all diese Künstler überhaupt über die Runden? Mit Nebenjobs? Wer kann Kurzarbeit oder Arbeitslosengeld beantragen? Wer zahlt deren Krankenversicherung usw.?

MS: Ein Großteil der Künstler hat ja grundsätzlich mehrere Jobs aber auch hier sind viele Möglichkeiten, wie die Gastronomie, weggefallen. Kurzarbeit gibt es nur bei Angestellten und ALG ist für Künstler schwer zu organisieren und oft unmöglich. Wer bei der Künstlersozialkasse KSK ist, hat auch ohne Einkommen eine Krankenversicherung. Wer nicht bei der KSK ist, hat möglicherweise gar keine Versicherung, und an die Rentenversorgung darf ich bei vielen gar nicht denken.

JK: Der Bund hat jetzt im Januar 2021 ein Hilfsprogramm mit dem Namen „Neustart Kultur“ aufgelegt. Ausgestattet mit 1 Milliarde Euro. Sie ist vorgesehen für privat finanzierte Kultureinrichtungen. Was sagen Sie dazu?

MS: Jede Hilfe ist in der momentanen Situation äußerst wichtig und hilfreich. Ich hoffe nur, dass sie möglichst unbürokratisch organisiert wird und auch wirklich nicht nur bei „Einrichtungen“, sondern auch bei den betroffenen Künstlern landet.

JK: Zu dieser einen Milliarde kommt bestimmt noch der eine oder andere kleinere oder größere Betrag aus Töpfen der Länder und Kommunen. Aber es ist wohl kein riesiger Gesamttopf. Wie reagiert man in der Szene, wenn man hört, dass der Staat für bzw. gegen „Corona“ bislang schon etwa 1,3 Billionen Euro aufgewendet hat. Das sind 1.300 Milliarden. Darunter 9 Milliarden schon im Juni 2020 für die Lufthansa.

MS: Diese Zahlen sind auch unter den Kulturschaffenden bekannt und erzeugen allgemeines Kopfschütteln. Die Verhältnismäßigkeit zeigt ja auch die gesellschaftliche und politische Wertschätzung des Kulturbereiches.

JK: Es ist derzeit viel von „systemrelevanten“ Bereichen die Rede, die unterstützt werden müssen. Gehören die sog. Kulturschaffenden dazu? Oder aber verengt sich die Wahrnehmung unserer Gesellschaft und unseres Landes auf das rein Nützliche, Finanzierbare? Was könnte für die Kulturnation der große Folgeschaden sein?

MS: Meiner Ansicht nach funktioniert eine Gesellschaft nur durch das Zusammenspiel vieler Faktoren. Eine ganz wichtige Rolle spielt dabei die Kultur, und damit meine ich nicht nur die großen Häuser. Gerade die „kleinen“ Events machen ja die Vielfalt aus. Die freien Theater, die kleinen Live-Kneipen, die unabhängigen Galerien usw. Kultur ist systemrelevant!

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