Tichys Einblick
Brüssel im Krisenmodus

Die Politik des permanenten Ausnahmezustands in der EU

Die Europäische Union hat zentrale Konflikte durch ihr auf Konsens angelegtes Entscheidungssystem am Ende unkenntlich oder zumindest intransparent werden lassen. Der Politologe Stefan Auer hat ein erhellendes Buch über die Spaltung in der Europäischen Union geschrieben.

Anfang Mai schlug der französische Präsident Macron nach seiner Wiederwahl vor, die EU in ihrer jetzigen Form, statt sie ständig zu erweitern, um eine Konföderation von assoziierten Staaten zu ergänzen. Mit diesem Vorschlag wollte Macron vermutlich vor allem eine Aufnahme der Ukraine, wie sie jetzt weithin gefordert wird, vermeiden oder zumindest in eine sehr ferne Zukunft verschieben. In der Tat ist es richtig, dass die EU sich mit der Integration der Ukraine leicht übernehmen könnte, so wie sie sich faktisch schon mit früheren Projekten wie namentlich dem Euro übernommen hat. Sein Vorschlag stieß jedoch in Ostmitteleuropa sofort auf starke Ablehnung und dürfte auch wenig Chancen haben umgesetzt zu werden. Er macht aber deutlich, vor welche Herausforderungen der Krieg Russlands gegen die Ukraine die EU stellt; sie gehen weit über die unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen des Krieges und der Sanktionen, die gravierend genug sind, hinaus. 

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Eine neuere Publikation über die Probleme und die Zukunft der EU, die in diesen Tagen erscheint, hilft einem diese Herausforderungen zu verstehen. Stefan Auer, der Autor der Monographie European Disunion: Democracy, Sovereignty and the Politics of Emergency (Hurst Publishers 2022) verweist zurecht darauf, dass der relative Erfolg der EU in den letzten Jahrzehnten wesentlich auf der Entpolitisierung von Konflikten beruhte, wobei er sich explizit auf den Politikbegriff von Carl Schmitt bezieht. Das heißt: die EU verstand es meist, zentrale Interessen- und Wertkonflikte durch Kompromisse jeder Art zu relativieren und durch ihr komplexes, auf Konsens angelegtes Entscheidungssystem am Ende unkenntlich oder zumindest intransparent werden zu lassen. Bei den Wahlen zum Europaparlament gibt es daher auch wenig zu entscheiden, weil die Alternativen gar nicht klar ausformuliert werden, und die Kommission sich ohnehin im EU-Parlament meist auf sehr große, aber auch recht fluide lagerübergreifende Koalitionen stützt. Daran würde auch die feste Institutionalisierung des Spitzenkandidatenprinzips nicht viel ändern. Es ist im Grunde genommen mit Blick auf die EU sinnlos, die Schmittsche Frage zu stellen, wo der eigentliche Sitz der Souveränität ist, wer in einer Krise oder im Ausnahmezustand die Letztendscheidung hat, dazu ist die Verantwortung auf zu viele Institutionen und Akteure verteilt, deren Rolle im Einzelfall oft nicht durchsichtig ist, so dass es schwerfällt, für Fehlentscheidungen konkrete Personen oder Parteien verantwortlich zu machen. Politikwissenschaftler, die die EU so wie sie ist, verteidigen, sehen das aber geradezu als Vorteil ihrer Struktur an, weil die Suche nach einer letzten Entscheidungskompetenz, nach einem wahren Souverän, ohnehin ein Relikt einer vergangenen Welt sei, in der es noch halbwegs souveräne Nationalstaaten gab.

Damit werden Konflikte freilich stark entpolitisiert. Entscheidungen werden weniger über offene Debatten und klare Mehrheitsvoten legitimiert, sondern über das nach Regeln ablaufende, wenn auch eher intransparente Verfahren an sich und durch den wirtschaftlichen Erfolg, für den die EU lange stand und in manchen Ländern und Bereichen immer noch steht. Mit den wiederholten Krisen der letzten Jahre und erst recht mit der Ukrainekrise ist diese Form von Politik aber an ihre Grenzen gelangt. 

Wie wird der Ukrainekrieg die EU verändern?

Für die EU als ganze stellt sich die Frage, wie sie auf die Herausforderung durch den Krieg und die aggressive Politik Russlands reagieren soll. Von französischer Seite, etwa vom bisherigen Finanzminister Le Maire, der aber hier wohl auch für Macron spricht, war schon vor Kriegsausbruch sehr deutlich die Forderung formuliert worden, die EU müsse ein „Imperium“ werden und entsprechend handeln. Gemeint war damit ein Anspruch der EU auch sicherheitspolitisch als globale Macht auftreten zu können, mit eigenen Interessen- und Einflusssphären etwa in Afrika, wo Frankreich von jeher eine solche Politik vertreten hat, aber eben auch in Osteuropa. Imperien besitzen in einer historischen Perspektive allerdings in der Regel ein dominantes Zentrum, das der Peripherie seine Normen auferlegen kann, auch wenn sich dies mit einem erheblichen Maß an Heterogenitätstoleranz im Einzelfall verbinden mag. Dieses Zentrum würden in der EU am ehesten die Gründungsstaaten der ursprünglichen EWG darstellen mit einer innerhalb der sechs Länder wiederum politisch führenden Rolle Frankreich. Aber schon vor dem Ukrainekrieg war klar, dass Ostmitteleuropa diese Führungsrolle des alten Europa nicht akzeptiert. Es fehlt zwar unter Politikwissenschaftlern, wie Stefan Auer in seinem Buch deutlich macht, nicht an Stimmen, die verlangen, man müsse den „rückständigen“ Osten, also besonders Polen und Ungarn, zur Räson bringen, und die „kulturellen Praktiken“, die dort etwa mit Blick auf die Stellung sexueller Minderheiten konservative Wertvorstellungen zementieren, durch politischen Druck und einen Prozess der Umerziehung zum Verschwinden bringen, aber das dürfte kaum ein gangbarer Weg sein und in der jetzigen Situation weniger denn je. Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat zumindest die Position Polens und seiner jetzigen Regierung in der EU eher gestärkt, da man dort schon immer vor Russland gewarnt hatte und sich jetzt zurecht als wichtigen „Frontstaat“ sieht. 

Kommt es in dieser oder jener Form wirklich zu einer weiteren Osterweiterung der EU wird diese das Gewicht Ostmitteleuropas weiter wachsen lassen, die EU wird noch multizentrischer werden. 

Der Konflikt zwischen Ost und West in der EU wird sich verstärken

Im Brüssel selbst, aber weniger ausgeprägt auch in manchen westlichen Mitgliedsstaaten hat sich eine politische Kultur durchgesetzt, die man etwas zugespitzt als „undemokratischen“ oder zumindest postdemokratischen Liberalismus bezeichnen kann, wie Stefan Auer hervorhebt, d. h. die Rechte und Privilegien von Minderheiten werden immer besser und strikter abgesichert, aber durch demokratische Wahlen können immer weniger Richtungsentscheidungen beeinflusst werden, da das Wichtigste schon in europäischen Verordnungen mit faktischem Verfassungsrang geregelt oder von den Gerichten vorentschieden ist, und sich überdies die Unterschiede zwischen den politischen Parteien verwischt haben. Dem haben in den vergangenen Jahren einige Länder Ostmitteleuropas, allen voran Ungarn und Polen ihre Version einer „illiberalen“ Demokratie entgegengesetzt, die versucht, die Rechte der Opposition und die Wirkungsmöglichkeiten von Institutionen, die als oppositionell gelten, einzuschränken. Ein solches System gefährdet natürlich den fairen Wettbewerb zwischen den Parteien und begünstigt tendenziell auch die Korruption, daran kann kein Zweifel bestehen. Andererseits, wie eine ältere Tradition der Staatsrechtslehre, für die etwa der Name von Ernst Wolfgang Böckenförde steht, auch im Westen gelegentlich betont hat, lebt der „freiheitliche, säkularisierte Staat … von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ In Ungarn und Polen befürchtet man offenbar, dass diese Voraussetzungen – ein hinreichendes Maß an kultureller Homogenität und ein Minimalvorrat an gemeinsamen Werten – vollständig erodieren könnten. Wie eine Gesellschaft aussieht, die diesen Prozess schon hinter sich hat, kann man etwa in den USA mit ihren erbitterten Kulturkämpfen studieren. So weit will man es in Ostmitteleuropa nicht kommen lassen. Das und die Methoden, die angewandt werden, um gesellschaftlichen Pluralismus einzuschränken, kann man natürlich ablehnen, aber Auer sieht auch die Haltung der liberalen EU-Eliten, die ihre Position als alternativlos darstellen, als problematisch an, zumal manche Forderungen – etwa nach umfassender „Diversität“ in allen gesellschaftlichen Bereichen – , die noch vor 10 oder 15 Jahren auch in Westeuropa als höchst kontrovers galten, heute kaum noch offen kritisiert werden können.

Aber die Probleme der EU gehen weit über den Konflikt zwischen West und Ost und – in Finanzfragen – zwischen Nord und Süd hinaus. Die Bürger der EU haben sich in den letzten drei Jahrzehnten, wie bereits betont, zunehmend daran gewöhnt, in einer entpolitisierten Welt zu leben, in der es keine Probleme mehr gibt, die sich nicht irgendwie durch Dialoge und endlose Gespräch lösen, oder zumindest weitgehend entschärfen lassen.

Wenn es dann doch galt, Notfallmaßnahmen in einer Krise zu ergreifen, wie es wiederholt mit Blick auf den Euro geschah, dann spielten das Recht und die Verträge der EU oft gar keine wirkliche Rolle mehr, sie wurden mehr oder weniger geschickt umgangen. Aber die Verfügungsgewalt über den Ausnahmezustand lag dann nicht selten bei Technokraten, die niemandem Rechenschaft schuldig sind, wie im Fall der EZB. Das wird dann zum Problem, wenn Notstandmaßnahmen negative Rückwirkungen haben, wie das im Fall der monetären Staatsfinanzierung durch die Zentralbank ja jetzt immer mehr der Fall ist. Wen soll man dann für eine solche Politik verantwortlich machen? Es gibt niemanden, den man bei Wahlen zur Rechenschaft ziehen könnte. Das führt zu einem strukturellen Legitimitätsdefizit, unter dem die EU schon lange leidet, das ihre Politiker aber nicht daran hindert, immer mehr Kompetenzen in Brüssel zu bündeln. Dadurch verlieren die Nationalstaaten oft die eigene Handlungsfähigkeit, ohne dass dieses Defizit auf europäischer Ebene ausreichend kompensiert werden könnte. Auer warnt ausdrücklich davor, diesen Kurs weiter zu verfolgen, und die Nationalstaaten als Träger der EU weiter zu schwächen. 

Es bleibt dabei aber sehr fraglich, ob die EU wirklich ein lernfähiges System ist, und ob ihre Eliten verstehen, dass die Methoden der beständigen Konfliktrelativierung und der umfassenden Entpolitisierung aller Entscheidungen in Kriegszeiten nicht mehr adäquat sind. Wenn es dennoch eine Hoffnung gibt, dann liegt sie vielleicht darin, dass die ostmitteleuropäischen Länder jenseits des lautstarken und oft intoleranten Nationalismus, den man in Polen und zum Teil auch in Ungarn unter den Anhängern der jeweiligen Regierungsparteien heute findet, in Zukunft ein stärkeres Eigengewicht in der EU entwickeln und dem Evangelium des „Mehr Europa ist immer die Lösung,“ einen liberalen Patriotismus entgegenstellen. Auf diese Möglichkeit verweist zumindest Stefan Auer in seiner klugen Analyse der Probleme der EU. 

Stefan Auer, European Disunion: Democracy, Sovereignty and the Politics of Emergency (Hurst Publishers 2022)

Anzeige