Tichys Einblick
René Cuperus

Ein niederländisches Plädoyer „für ein vorsichtiges Europa“

Der Politologe René Cuperus bietet, was in Deutschland weiterhin als unappetitlich gilt: eine kritische Analyse der EU-Wirklichkeit samt Entlarvung einiger Mythen. Nicht zuletzt dem Mythos vom Ursprung der europäischen Einigungsbewegung.

Kritische Diskussionen über die EU finden in Deutschland, wenn überhaupt, abseits der Politik statt. Die EU ist für die Vertreter der etablierten Parteien – die marginalisierte AfD ist da natürlich eine Ausnahme – ein sakrales Objekt. Wenn man sie überhaupt kritisiert, dann hinter verschlossenen Türen. Das sieht in den Niederlanden etwas anders aus; mit der Freiheitspartei von Wilders und dem Forum für Demokratie des jungen Politikers Thierry Baudet sitzen allein zwei offen EU-kritische Parteien im niederländischen Parlament mit zusammen rund 16 Prozent der Stimmen, und in der Vergangenheit hat auch der langjährige Ministerpräsident Rutte immer wieder gegen die Politik der EU-Kommission oder die Forderungen der Defizitländer innerhalb der Eurozone offen opponiert – viel stärker, als das ein deutscher Kanzler je wagen würde.

Es überrascht daher nicht, dass jetzt ein niederländischer Autor, René Cuperus, sich des Themas angenommen hat und sich um ein differenziert-kritisches Verhältnis zur EU bemüht. Das Buch wurde rasch ins Deutsche übersetzt, wohl auch deshalb, weil Cuperus bei Gesprächen mit deutschen Kollegen und Politikern – er selbst ist Fachmann für internationale Beziehungen am Clingendael Institut – immer wieder verblüfft war, wie sehr diese die vollständige Auflösung des deutschen Nationalstaates als ideale Lösung ansehen. Der eine oder andere gab sogar offen zu, dass – seiner Ansicht nach – in 20 oder 30 Jahren die einzelnen europäischen Staaten nur noch für Kultur und Bildung zuständig sein würden, alle anderen Kompetenzen würden erfreulicher Weise in Brüssel liegen.

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Diese Perspektive empfindet Cuperus als bedrückend und gefährlich, nicht nur wegen der unübersehbaren Defizite der EU in ihrer jetzigen Gestalt, sondern auch weil ein kleineres Land wie die Niederlande in einem solchen Zentralisierungsprozess tatsächlich komplett verschwinden würde, während Deutschland immerhin hoffen könnte, dem neuen europäischen Zentralstaat in manchen Bereichen seinen eigenen Stempel aufzudrücken.

Cuperus versucht freilich, einen etwas schwierigen Mittelweg zwischen den sogenannten „Populisten“ wie Baudet oder Salvini und den überzeugten Berufseuropäern zu steuern, wie das andere auch schon vor ihm versucht haben. Meist in der Praxis ohne viel Erfolg, denn bislang ist die EU immer noch ein nicht-lernfähiges System geblieben, und die Eliten, die sie tragen, haben jeden Rückschlag nur als Ansporn verstanden, jetzt noch stärker auf die Entmachtung der Nationalstaaten und mehr Macht für Brüssel zu dringen. Der Kurs der neuen deutschen Regierung ist in dieser Hinsicht typisch und zeigt, dass sowohl linke wie neoliberale Verteidiger des europäischen Projektes faktisch immun sind gegen jede Form von Realitätserfahrung, die ihre Vision infrage stellt. Daran wird sich auch in Zukunft wenig ändern. 

Bezeichnend ist hierfür der Brexit. Die Probleme, mit denen Großbritannien im Zuge eines Austritts aus der EU konfrontiert war – zeitweilig stand das Land am Rande einer schweren Verfassungskrise und war tief gespalten, von den wirtschaftlichen Folgen des Brexit ganz zu schweigen –, wurden in Brüssel als Bestätigung gesehen, dass die gesamte Idee eines Austritts hirnverbrannt war, was man natürlich ohnehin geneigt war zu glauben. Vor solchen Schlussfolgerungen warnt Cuperus, und obwohl seine eigenen Sympathien für den Brexit eher begrenzt sind, sieht er in diesem Narrativ einen Mythos.

Es sind noch andere Mythen, mit denen er sich auseinandersetzt, etwa die Vorstellung, Europa sei eine „Wertegemeinschaft“. Das war die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) vielleicht in ihrer Gründungsphase, als sie stark geprägt war von konservativen katholischen Politikern, die alle überzeugte Antikommunisten waren; heute aber ist sie dafür viel zu heterogen in ihrer Zusammensetzung. Freilich hätte Cuperus auch darauf verweisen können, dass die EU ursprünglich weniger durch Werte als durch klare rechtliche Regeln zusammengehalten wurde.

Von diesem Modell hat man sich in der Eurokrise weitgehend verabschiedet nach dem Prinzip „Not kennt kein Gebot“. Wenn aber Werte an die Stelle des Rechtes treten, ist der Konflikt vorprogrammiert, denn jede politische Gruppierung und jedes Land werden am Ende ihre spezifischen Werte für die allein maßgeblichen halten. Dass hier selbst zwischen Ländern, die sonst oft nolens volens auch gemeinsam ihre Interessen verfolgen, starke Konflikte auftreten können, zeigen die deutsch-französischen Beziehungen, etwa wenn es um die Bewertung der Kernkraft als umweltfreundlich geht.

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Wert- und Interessenkonflikte prägen auch die Zukunft der Gemeinschaftswährung Euro, mit der sich Cuperus auseinandersetzt. Eine Lösung kann er hier ebenfalls nicht anbieten, beharrt aber darauf, dass mehr Solidarität nur um den Preis größerer finanzieller Solidität in den Defizitländern zu haben sei. Diese Linie haben auch niederländische Regierungen immer vertreten, gelegentlich auch in etwas taktloser Weise. Die Weichen sind von Rom und Paris freilich in eine ganz andere Richtung gestellt worden, spätestens seit der Corona-Krise. Durch die gemeinsame Schuldenaufnahme der EU gibt es einen ultimativen Einstieg in eine tendenziell grenzenlose und weitgehend bedingungslose Vergemeinschaftung der nationalen Schulden, und dass sich Deutschland und die Niederlande diesem Prozess noch irgendwie werden entziehen können, ist sehr unwahrscheinlich. Auch können allenfalls die Finanzmärkte die Europäische Zentralbank (EZB) dazu zwingen, ihre Politik der monetären Staatsfinanzierung, die sie seit 2012 betreibt, zurückzufahren.

Cuperus hingegen nimmt fälschlicherweise an, dass das umstrittene Urteil des deutschen Verfassungsgerichtes vom Mai 2020 die Spielräume der EZB einschränken werde. Das überzeugt nicht. Das Urteil war schon an sich so formuliert, dass Bundestag und Bundesregierung es mit Leichtigkeit ignorieren konnten. Überdies hat anscheinend die alte Bundesregierung unter Merkel der EU-Kommission noch versprochen, in Zukunft das Bundesverfassungsgericht stärker an die Leine zu legen. Durch Ernennung geeigneter Richter ist das relativ leicht erreichbar, notfalls wird man wohl auch einfach erklären, dass man in europarechtlichen Fragen immer dem EuGH und nicht dem Verfassungsgericht in seiner Rechtsprechung folgen werde. Die Regierung Scholz wird sicher bereit sein, einen solchen Kurs einzuschlagen. Daran kann man nicht zweifeln.

Zuzustimmen ist Cuperus freilich in vielen Punkten in seinen Ausführungen zum Ursprungsmythos der EU, dem Friedensprojekt, das angeblich am Anfang der europäischen Einigung stand. Zurecht weist er darauf hin, dass dieses Projekt eher eine verspätete Antwort auf den Ersten als auf den Zweiten Weltkrieg war, denn im Zweiten war der Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich eher ein Nebenschauplatz; sehr viel wichtiger waren der Vernichtungskrieg im Osten und das Eingreifen der USA. Faktisch kooperierten wesentliche Teile der französischen Elite nach der Niederlage von 1940 mit den deutschen Besatzern recht problemlos, und manche Analysten haben in dieser Kooperation ja sogar ein Fundament der späteren Gründung der EWG gesehen.

Berechtigt sind auch Cuperus’ Einwände gegen eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Außenpolitik. Zum einen zeichnet sich jetzt schon ab, dass Deutschland kaum dazu bereit sein wird, einen angemessenen Beitrag dazu in Form einer einsatzfähigen Armee zu leisten; zum anderen greift auch hier wieder das Argument, dass kleinere Länder wie die Niederlande dann vollständig außenpolitisch mediatisiert würden und faktisch gar keine eigene Außenpolitik mehr betreiben könnten, anders als Frankreich und Deutschland.

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Die Klagen darüber, dass Deutschland als größtes europäisches Land sich eher verhalte wie ein „großes Österreich“, um sich seiner sicherheitspolitischen Verantwortung zu entziehen, denen sich auch Cuperus anschließt, sind überdies nur begrenzt berechtigt, denn genau dieses Deutschland, das nicht wagt, seine Größe auszuspielen und seine Interessen offen zu artikulieren, wünschen sich unsere Nachbarn doch; nur dann können sie ihre Interessen gegen Deutschland ohne allzu viel Konflikte durchsetzen, wie das etwa bei der Schaffung des Euro erfolgreich geschah. Dann sollte man sich freilich auch nicht wundern, dass in einem solchen Land Neutralismus und Pazifismus beliebte Optionen in der Sicherheitspolitik sind. Unsere Nachbarn sind eben genau mit dem Deutschland konfrontiert, das sie sich eigentlich wünschen.

Cuperus bringt abschließend seine Besorgnis zum Ausdruck, dass der europäische Einigungsprozess in der jetzigen Form dazu führen könne, dass eine schwache EU von ebenfalls schwachen und zunehmend durch die Kompetenzverlagerung nach Brüssel delegitimierten Nationalstaaten getragen wird. Genau dies ist ja ansatzweise bereits der Fall, und es ist zu befürchten, dass gerade die jetzige Kommission unter der machthungrigen und geltungssüchtigen Präsidentin Ursula von der Leyen viel tun wird, um diesen Prozess weiter voranzutreiben. Den Nationalstaaten werden – allerdings oft unter deren offener oder stillschweigender Mitwirkung – immer mehr Kompetenzen entzogen.

Damit einher geht ein unaufhörlicher Entdemokratisierungsprozess, da Brüssel aus systemischen Gründen bürgerfern und intransparent agiert und eigentlich in seiner Grundkonstruktion auch postdemokratisch angelegt ist. Die Kommission und das Parlament sind nur sehr begrenzt, wenn überhaupt, gegenüber einer wie immer gearteten Öffentlichkeit oder einer Wählerschaft, die sich aktiv für eine andere europäische Politik entscheiden könnte, rechenschaftspflichtig. Noch mehr als in nationalen Hauptstädten wird man daher in Brüssel dazu neigen, Politik am Wähler vorbei und ohne Rücksicht auf langfristige Folgen zu betreiben. Das ist ein Problem, das bei Cuperus durchaus angesprochen wird, auch wenn er dafür kein Heilmittel anbieten kann. 

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Ein anderer Problemkomplex wird hingegen ausgespart. Die gesamte Kräftebalance in der EU hat sich in den letzten Jahren fundamental verschoben, einerseits durch den Austritt Großbritanniens, andererseits durch den partiellen Rückzug der USA aus Europa, den besonders Trump betrieb, der aber auch unter Biden nur partiell revidiert wurde. Deutschland ist heute in der EU von der „Zusammenarbeit“ mit Frankreich abhängig wie noch nie zuvor. Damit kommt die französische Elite dem Ziel näher, das sie seit Begründung der EWG verfolgt hat: das europäische Projekt zu nutzen, um Frankreichs Großmachtstatus zurückzuerlangen, den es aus eigener Kraft nicht mehr beanspruchen kann. Schon de Gaulle hatte die damalige EWG in dieser Weise gesehen, aber die Pläne gingen nicht auf; zum einen, weil in den 1970er Jahren ein Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft nicht mehr verhindert werden konnte, zum anderen, weil für die meisten Bundesregierungen das Bündnis mit Amerika in der Vergangenheit eben doch Priorität gegenüber der Zusammenarbeit mit Frankreich hatte, jedenfalls außen- und sicherheitspolitisch.

Das ist heute nicht mehr so klar, schon deshalb, weil die Amerikaner zu einem unberechenbaren und unzuverlässigen Partner geworden sind, für den Europa generell an Bedeutung verloren hat. Damit verstärkt sich die Abhängigkeit Deutschlands von Frankreich, und dies erklärt zumindest teilweise, warum Macron sich jetzt anschicken kann, die EU nach seinen Vorstellungen neu zu formen. Die Südländer werden ihm folgen, solange er ihnen deutsches und niederländisches Geld zur Reduktion ihrer Schulden, für Investitionen und faktisch auch zur Stabilisierung ihrer Sozialsysteme versprechen kann. Die Niederlande und andere kleinere Länder sind zu schwach, um diesem Hegemoniestreben Frankreichs etwas entgegensetzen zu können.

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Bleiben die Osteuropäer. Hier gibt es namentlich in Polen und Ungarn am ehesten Widerstand, dem Cuperus in einem Buch in dem Kapitel über den „Mythos“ des Rechtspopulismus nicht ganz gerecht wird. Sicher kann man viele Vorgänge in Ungarn kritisch sehen, aber das Ideal einer illiberalen Demokratie, die Wahlen und politische Auseinandersetzungen im Namen einer vermeintlich höheren Wahrheit versucht zu lenken, ist keine Erfindung von Rechtspopulisten. Die Linke mit ihren sprachpolizeilichen Regelungen, ihrer Cancel-Kultur und ihrem Kampf gegen vermeintliche „Hetze“ im Netz und in den Medien – ein Begriff, der leicht auf jede schärfere oppositionelle Polemik ausgedehnt werden kann – liebäugelt auch mit dem Ideal einer illiberalen Demokratie und begrüßt zum Teil bewusst die Entdemokratisierung, die mit der Verlagerung von Kompetenzen nach Brüssel einhergeht, weil man dem „Volk“ halt in vielen Bereichen nicht trauen könne. In Deutschland mag diese Tendenz etwa bei den Grünen besonders ausgeprägt sein, aber es gibt sie auch in anderen Ländern.

Von daher kann es durchaus sein, dass der Homogenisierungsfanatismus, der die Von-der-Leyen-Kommission und in ähnlicher und vielleicht noch gefährlicherer Weise den EuGH beseelt, am Ende nur von dem „bösen Populisten“ Orbán und seinen Verbündeten in Polen gestoppt werden kann. Moderate liberale Politiker der Mitte, wenn sie es denn überhaupt versuchen – und Rutte in den Niederlanden hat es immerhin gelegentlich versucht –, werden an dieser Aufgabe voraussichtlich auch in Zukunft scheitern. Die Systemzwänge sind einfach zu groß, wenn man nicht bereit ist, bewusst Regeln zu verletzen und es auf sehr harte Konflikte ankommen zu lassen. Und das wird eher nicht geschehen. Also bleiben nur die, die bereit sind, wirkliche Sabotage zu betreiben – so bedauerlich das auch ist und so wenig einem die diesbezüglichen Akteure sympathisch sein mögen. 

René Cuperus, Sieben Mythen über Europa: Plädoyer für ein vorsichtiges Europa, Bonn 2021, 199 Seiten.

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