Tichys Einblick
Ares – Kein Fall für Carl Brun

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

In einem spannenden Roman jagen sie sich, wie es sich gehört. Aber es geht mehr um eine Suche nach den politischen Verantwortlichen. Denn nichts ist, wie es scheint. So wie es heute eben ist.

Nein, die Wirklichkeit erfährt man längst nicht aus Zeitungen oder TV. Manche Online-Seiten sind schon näher dran, wegen ihrer Unmittelbarkeit. Die tägliche Scharade von Scheinkonflikten und treuherzigen Beteuerungen zeigt auf den feingepixelten Bildschirmen nur unscharfe, schattenhafte Bilder verzerrter, ihrem Wesen nach unverstandener Realität. Die Fassaden werden aufrecht erhalten, Parlamente diskutieren weiter, obwohl sie längst zu Statisten geworden sind. Ihre Wortgefechte sind allerdings nicht mehr hitzig; der Geist ist weg, das Feuer erloschen, Asche spricht unter Aufsicht eines Präsidenten. Schauspieler sprechen Texte, die man ihnen aufgeschrieben hat, so als ob es ihre eigenen wären. Bei einem Parlamentsdarsteller reicht es nicht einmal dazu.

Literaten eilen oft dem Geschehen voraus, enttarnen Lichtquelle und schattenwerfende Gestalten. Wie Frank Jordan – alias Monika Hausammann – im Krimi „Ares“, der hinter der fesselnden Story tiefere Einsichten vermittelt über die Marionettenspieler der Macht in Berlin und Europa. Ein kaum camouflierter Friedrich Merz wichtelt durch die Kulissen, die für ihn zurecht geschoben werden. Er darf sich als Treiber fühlen und ist doch nur ein Geschobener. Ein Held und eine Heldin wider Willen zerstören die kunstvolle gesamtgesellschaftliche Theaterinszenierung. Ein neuer Bundeskanzler wird gemacht, aber wie es bei russischen Puppen so üblich ist: Darin verbirgt sich eine neue. Es wird geliebt, meist ohne Treue, und da wo die Treue lebt, ist sie Zielscheibe mörderischer Anschläge. Spezialeinheiten schlagen zu; sie haben all diese Technik, die sie zu Kampfrobotern macht. Unverletzlich sind sie trotzdem nicht; aus den Jägern werden Gejagte, weil Geist und Emotion immer neue Triumphe erringen. Das Glück wendet sich.

Die frühere PR-Managerin weiß auch beruflich Schattenspiele zu inszenieren. Sie lebt in Frankreich, auf dem Land. Weitgehend isoliert, eingegraben in einem malerischen Bauernhaus. Damit ist sie selbst aus der Wirklichkeit herausgetreten, hat sich eine neue gebaut und kommuniziert mit der Umwelt über eine Roman-Reihe. Sie steht damit, ohne sich dessen bewusst zu sein in der Tradition vieler deutscher Literaten, denen es in Deutschland zu eng wurde – und doch können sie vom Land ihrer Sprache und den Wäldern ihrer Phantasie nicht lassen: Unvergessen die Zeilen von Heinrich Heine im Wintermärchen: „Im traurigen Monat November war’s, da fuhr ich nach Deutschland hinüber“; sein Entsetzen über die damalige deutsche Wirklichkeit.

Bei Hausammann ist die Verzweiflung über einen Staat zu spüren, der sein republikanisch-demokratisches Kostüm auch noch an den Nagel hängt; wobei die von ihr beschriebene Menschen-Jagd, denn das muss sein in einem Krimi, quer durch Frankreich, die Schweiz und Deutschland führt. Aus dem französischen Exil beschreibt sie, wie Europa die Freiheit verliert, gerade noch die Schweiz ist nicht ganz eingebunden in die Zwänge des neuen Imperiums. Der eher tumbe, aber schneidig auftretende Übergangskanzler, der in seiner überdramatisierten Selbstwahrnehmung Friedrich Merz ähnelt, macht den Weg frei für seinen smarten Nachfolger, einen an seiner Doktorarbeit gescheiterten Baron, der sich mit Anpassung ein zweites politisches Leben erkauft, einschließlich einer attraktiven Dame an seiner Seite. Klar wird auch gemordet, geliebt, geschossen, und beides nicht zu wenig. Ausgangspunkt ist Marseille, die Stadt am südlichen Rand Europas und Einfuhrhafen für Afrika; im Zerfallsprozess weiter fortgeschritten als Paris oder Köln und darin ein Menetekel für das neue, sich verdunkelnde Europa.  Ähnlichkeiten mit realen Vorkommnissen und Personen sind keineswegs zufällig, aber nicht justiziabel.

Natürlich ist es zu weit gegriffen, das Wintermärchen mit einem Krimi gleichzusetzen. Aber man spürt immer auch den Schmerz des Verlusts. Bei Heine beginnen „Die Augen zu tropfen“, trotz der Überwindung, die ihn das Überschreiten des Rheins gekostet haben mag. Bei Hausamman tropft Blut. Das ist anders schmerzhaft.


Frank Jordan, Ares. Kein Fall für Carl Brun. Thriller. Lichtschlag Verlag, 626 Seiten, 24,90 €

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