Tichys Einblick
„Diener des Staates“

Selenskyj: Er wollte immer der Erste sein

Es ist eine Biografie, wie man sie von Popstars erwartet: Herkunft, Familie, Freunde und Persönlichkeit zählen, Politik ist ein Nebenschauplatz. Nicht der Politiker, sondern der Mensch Selenskyj steht im Mittelpunkt.

Wie stark hat das Interesse am Ukraine-Krieg nachgelassen? Christian Strasser, in dessen Europa-Verlag die Biografie über den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj erscheint, zeigte sich „erstaunt“, dass viele Medienvertreter nicht zur Buchvorstellung gekommen seien. Ein Fernsehteam, das sich angekündigt hatte, tauchte nicht auf, insbesondere Journalisten aus dem öffentlich-rechtlichen Spektrum blieben der Veranstaltung offenbar fern. Auf Nachfrage beruhigt eine Mitarbeiterin des Verlags: die Sommerpause stünde bevor, viele Medien schickten keinen Vertreter. Es halte sich alles im Rahmen. Dennoch kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Ukraine-Causa zunehmend westliche Politik und Medien „nervt“.

Dabei machen Strasser und der polnische Buch-Autor Wojciech Rogacin noch einmal die Lage klar. Die Ukraine verteidige ganz Europa. Rogacin sagt: Für die Deutschen sei es besser, der Ukraine jetzt Waffen zu geben als die Russen in ein paar Jahren selbst zu bekämpfen. Rogacin war 2003 bis 2004 Korrespondent der Newsweek im Irakkrieg und ist Chefredakteur der Tageszeitung „Polska Times“. Obwohl das Klima im Berliner Sitzungssaal vom immer noch tobenden Krieg in Osteuropa gekennzeichnet ist, legt Rogacin in seinem Buch einen ganz anderen Schwerpunkt. Nicht der Politiker, sondern der Mensch Selenskyj steht im Mittelpunkt.

Es ist eine Biografie, wie man sie von Popstars erwartet: Herkunft, Familie, Freunde und Persönlichkeit zählen, Politik ist ein Nebenschauplatz. Besonders deutlich wird das, wenn der Autor auf nur 40 Seiten die seit 2019 andauernde Präsidentschaft Selenskyj zusammenfasst; das wichtige Vorspiel zum Angriff Russland nimmt gerade einmal 5 Seiten ein. Für den Historiker, dessen Grundgeschäft seit Thukydides in der Suche nach Anlass und Ursache eines Krieges besteht, ist das eher unbefriedigend. Die Erwägungen, Pläne und Überlegungen des ukrainischen Präsidenten stehen im Hintergrund. Noch Ende Januar hatte Selenskyj selbst vor „Panikmache“ gewarnt, die USA beschuldigen ihn heute, damalige Warnungen in den Wind geschlagen zu haben. Zu diesen heiklen Hintergründen erfährt der Leser wenig.

Die Biografie ist deswegen kein politisches Buch. Rogacin hat es auch als solches nicht geplant. Das kann man allerdings auch als Vorteil angesichts der aufgeheizten politischen Lage sehen. Der polnische Autor malt ein Portrait seines Helden, pointiert durch Anekdoten und Berichte von engen Weggefährten. Rogacin hat Selenskyj dabei nie getroffen. Der Angriff Russlands und die Pflichten des Präsidenten haben ein solches Unterfangen durchkreuzt.

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Dabei hat der Autor Selenskyj schon deutlich länger beobachtet. Dessen Kandidatur, die er am Silvesterabend 2018 verkündete, wurde in Polen mit gemischten Gefühlen entgegengenommen. Ein russischsprachiger, dazu in der Ostukraine geborener Komiker als potenzieller Präsident – in Warschau fürchtete man eine schwache, von Putin gesteuerte Marionette. Doch Rogacin hat seine Meinung revidiert, ist tiefer in die für ukrainische Verhältnisse ungewöhnliche Geschichte eines Mannes herabgestiegen, der heute die Titelseiten westlicher Zeitungen dominiert. Mit Sympathie begleitet er seinen Protagonisten von der Kindheit in der Mongolei und im ostukrainischen Krywyj Rih bis ins Präsidentenamt. Er will ihn aus den Augen seiner Freunde und Verbündeten zeigen.

Wolodymyr Selenskyj wollte immer der Erste sein – ein vielsagender erster Satz, den Strasser wie Rogacin neuerlich auf der Buchvorstellung betonen. Es ist die Charakterschau eines ambitionierten Mannes, der im Kindergarten Gruppen um sich schart und bei Aufführungen am Schultheater immer die Hauptrollen spielen will – und in der zweiten Rolle den Hauptdarsteller an die Wand spielt, wenn er sie mal nicht bekommt. Selenskyj will die Blumen am Schultheater, er bekommt die Blumen. „Er war immer ein Anführer und er wollte immer ein Anführer sein“, sagt Rogacin.

Selenskyj treibt dieses Verlangen sein Leben lang. Aufgewachsen in einer Bergarbeiterstadt, von der Rogacin schreibt, sie teilte das Flair von Eisenhüttenstadt – geschichts- und gesichtslos, gemischt mit Arbeitern aus der ganzen Sowjetunion – muss Selenskyj früh lernen, sich durchzusetzen, trainierte im Ringsport. Selenskyj lernt, nicht vor gefährlichen Situationen davonzulaufen. Einer seiner Schulfreunde erzählt, dass er sich erst, wenn die Situation schwierig wird, wie „ein Fisch im Wasser“ bewegt.

Seine Eltern sind Naturwissenschaftler, der Vater Kybernetiker, die Mutter Ingenieurin; da Juden in der Sowjetunion zwar offiziell gleichgestellt sind, de facto aber in bestimmten Berufszweigen Diskriminierungen erfahren, bleibt für viele nur die naturwissenschaftliche Karriere offen. Seine Mutter erhält eine Rente von wenigen Dollar. Selenskyj, der später Millionen mit seinem Medienunternehmen verdient, prägt das.

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Obwohl er die Schulzeit als Einserschüler abschließt – nur in Russisch und Ukrainisch hat er die zweitbeste Note – und ihn seine Eltern zum Jura-Studium drängen, zieht es ihn zur Kunst. Vom ersten Semester an ist er Teil des Studentenkabaretts. Er träumt vom „Ukrainischen Hollywood“. Doch der „Leader“, der auch Künstler sein will, zeigt spätestens mit seiner Polit-Satire „Diener des Staates“, dass er weit höhere Ziele hat.

Die Parodie auf die ukrainische Politik und ihren Sumpf soll von Anfang an ein Sprungbrett in die Politik sein. Der Oligarch Ihor Kolomojskyj, dem der Fernsehsender gehört, bei dem Selenskyj auftritt, erscheint nicht als Strippenzieher, sondern als elegant ausgetänzelte Graue Eminenz, derer sich der neue ukrainische Präsident bald entledigt. Ein Manöver, das einen bemerkenswerten Machtinstinkt offenbart, der dem von Angela Merkel oder Papst Franziskus in nichts nachsteht.

Besonders interessant wird die Lektüre des Buches, legt man die Grundsätze des machiavellistischen Denkens an die Biografie. Die Motivation, der Charakter und die Prägungen Selenskyjs akzentuiert Rogacin so deutlich, dass der ukrainische Präsident nicht länger das unbekannte Wesen am Rande Europas bleibt. Man versteht, wieso er so handelt, wie er handelt – und kann abschätzen, was er in Zukunft tun wird.

Zurück nach Berlin. Nicht nur Journalisten sind bei der Buchvorstellung abwesend. Der ukrainische Botschafter, Andrij Melnyk, ist der Einladung nicht nachgekommen. Das mutet merkwürdig an, handelt es sich doch immerhin um Gratis-Publicity für das eigene Land und dessen bekanntesten Vertreter. Vielleicht ist Melnyk aufgrund der Affäre um seine eigenen Äußerungen zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Doch da gibt es offensichtlich noch mehr. Rogacin nennt die Antworten Melnyks „dumm“, seine Abberufung nennt er deutlich eine „Feuerung“. Aus Selenskyjs Perspektive hat Melnyk für die ukrainische Sache in Deutschland eine ebenso schädliche Rolle gespielt wie die russische Propaganda. So sagt es jedenfalls der Biograf.

Rogacins Antworten deuten an, dass das Verhältnis des ukrainischen Präsidenten zum Botschafter in Deutschland vielleicht doch nicht so gut ist, wie man meinen möchte. Selenskyjs Großvater ist ein Überlebender des Holocausts, dessen Geschwister und Vater ermordet wurden. Nicht nur im Verhältnis zu Israel, sondern auch aus persönlichen Motiven dürfte Selenskyj kaum Verständnis für Relativierungen im Zweiten Weltkrieg haben. Zudem scheint man in Kiew verstanden zu haben, dass man eher Verbündete verloren als gewonnen hat. Und dafür steht derzeit – folgt man Verleger Christian Strasser – zu viel auf dem Spiel. Es gehe nicht (nur) um die Ukraine, sondern Europa. Und über das Schicksal des Kontinents entscheidet in letzter Instanz auch das Schicksal Selenskyjs.


Wojciech Rogacin, Selenskyj. Die Biografie. Europa Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, Bildteil mit 32 farbigen Fotos, 240 Seiten, 20,00 €.


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