Tichys Einblick
Nationalstaat und Islam

Pierre Manent und die Zukunft Frankreichs

Die laizistische Republik befindet sich im Niedergang. Der französische Nationalstaat des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts war ein starker Staat, der es wagte, von seinen Bürgern Opfer zu verlangen. Er ist schwach geworden.

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Es dürfte allgemein bekannt sein, dass der französische Staat seit 1905 sich dem Prinzip des Laizismus verpflichtet weiß. Das heißt einerseits, Staat und Kirche sind strikt – viel strikter als in Deutschland – getrennt, andererseits kennt der Staat offiziell auch nur individuelle Bürger, die Glaubensgemeinschaften als Korporationen haben, keinen Status im öffentlichen Leben. Das gilt selbst für die traditionell größte Glaubensgemeinschaft, die Katholiken, die lange Zeit vom Staat sogar mit einer ausgesprochenen Feindseligkeit behandelt und bekämpft wurde. Diese Zeiten mögen vorbei sein, aber an der Fiktion, dass Religion eine reine Privatsache sei, wird festgehalten. Angesichts der nicht unbedingt immer erfreulichen Erfahrungen, die Deutschland mit dem Versuch macht, den Islamverbänden einen kirchenähnlichen Status zu verleihen und mit ihnen zu kooperieren, könnte man durchaus versucht sein zu meinen, dass das französische Staatsmodell in seinem Umgang mit muslimischen Immigranten und Religionsverbänden dem deutschen überlegen ist.

Liest man die Werke von Pierre Manent und namentlich sein Buch Situation de la France, das nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo Anfang 2015 entstand, wird man jedoch eines Besseren belehrt. Manents kurze Abhandlung erschien zwar schon 2015, um dann 2016 ins Englisch übersetzt zu werden, aber es ist doch lohnend, sich mit ihr näher auseinanderzusetzen, weil vieles aktuell geblieben ist und die französische Diskussion in den deutschen Medien oft zu kurz kommt. Manent (geb. 1949) besitzt internationales Renommee und lehrt an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Zu seinen Hauptwerken gehört eine Studie über die Geschichte der Civitas, der Gemeinschaft von Bürgern als Res Publica, die 2010 auf Französisch und 2013 auf Englisch unter dem Titel Metamorphoses of the City: On the Western Dynamic, erschien. Er gilt als Verteidiger des Nationalstaates und als scharfer Kritiker der post-demokratischen EU. Es dürfte sich schon deshalb lohnen, eines seiner Werke hier vorzustellen, denn wie der EU-Wahlkampf zeigt, sind die pro-EU Eliten mehr denn je entschlossen, den residualen Nationalstaat endgültig seiner Autorität zu berauben und immer mehr Entscheidungen ins postdemokratische Nirwana nach Brüssel zu verlagern. Manents Werk ist wichtig, weil er spezifisch europäische, in diesem Fall vor allem christliche Traditionen verteidigt, ohne deshalb andere Religionen oder Traditionen, wie Islam oder Judentum herabzuwürdigen oder zu diskreditieren. In einer oft mit einer gewissen Hysterie geführten Debatte, sind seine Beiträge von Besonnenheit geprägt, die eine scharfe Kritik an der Orientierungslosigkeit der politischen Eliten Europas nicht ausschließt.

Die vielfach gescheiterte Integration muslimischer Immigranten

Die zentrale Ausgangsfrage von Situation de la France ist das Problem der Integration einer wachsenden Zahl von Muslimen. Diese ist in Frankreich bislang ebenso wenig überzeugend gelungen wie in anderen europäischen Ländern. Manent macht zunächst deutlich, dass es weder angemessen noch erfolgversprechend wäre, auf eine Art Zwangsassimilation zu setzen. Das, was für ihn den Islam über alle Unterschiede hinweg definiert, ist ein System ethischer Regeln und sozialer Praktiken, also Sitten (moeurs), die den Alltag des Menschen bestimmen. Das Christentum ist in seinem Kern Bekenntnis und Glaube, ein bestimmtes Modell der Lebensführung, obwohl es lange auch im Christentum große Bedeutung hatte, ist sekundär, im Islam steht eher die Beachtung sittlicher und sakraler Regeln für die Lebensführung im Vordergrund, etwa mit Blick auf das Ideal ritueller Reinheit, das im Islam eine ungleich größere Rolle spielt als im Christentum. Diese Regeln können strenger oder weniger weniger streng ausgelegt werden, da gab und gibt es viele Varianten, die auch dem historischen Wandel unterlagen, wie Manent zurecht betont, aber die Reduktion ausschließlich auf persönliche Spiritualität ist schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. Eben das verlangt aber die Idee einer strengen Laizität  – ein Anspruch, der nach Manents Ansicht nicht eingelöst werden kann, zumal man die Immigranten ursprünglich in Frankreich aufgenommen hatte, ohne von ihnen eine derartige Anpassung zu verlangen.

Dazu kommt ein Weiteres. Die laizistische Republik befindet sich im Niedergang. Der französische Nationalstaat des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts war ein starker Staat, der es wagte, von seinen Bürgern Opfer zu verlangen. Er war eng verbunden war mit einer Nation, die einen fast sakralen Charakter beanspruchte, und er setzte vor allem über seine Schulen ein einheitliches Bildungsprogramm durch, dessen Kern ein klarer Kanon großer Werke und kultureller Leistungen war, ein Kanon, der trotz aller politischen Differenzen zwischen Rechts und Links in Frankreich nicht wirklich umstritten war. Man hatte den Mut, zwischen großer Dichtung und Alltagsliteratur, großer Kunst und bloßer Unterhaltung zu unterscheiden. Diese Sicherheit des Urteils ist der Gegenwart verloren gegangen, es herrscht auch in Frankreich in Bildungsfragen eher die postmoderne Beliebigkeit.

Die Dominanz individueller Rechte gegenüber einer objektiven sozialen Ordnung als Grundproblem

Ein anderer Faktor ist ebenfalls wichtig. Der heutige Staat, so Manent, sieht sich vor allem als Wahrer individueller Freiheitsrechte. Ein gemeinsames nationales Projekt gibt es kaum, und vor allem gibt es keine für den Alltag relevanten Werte und Normen mehr, die gesellschaftliche Verbindlichkeit beanspruchen könnten. Für solche Werte einzutreten, würde ja auch der dominanten Ideologie der Gegenwart widersprechen, der Auffassung, dass individuelle Menschenrechte das Einzige sind, was noch eine Bedeutung hat. Die modernen Europäer seien die ersten Menschen, die sich diesem radikalen Individualismus hingegeben hätten. Hätten frühere Gesellschaft dies getan, hätte es weder Familien, noch städtische Kommunen, noch Religionsgemeinschaften gegeben, so Manent, denn solche Institutionen verlangten immer die Unterordnung des Einzelnen unter eine soziale Ordnung, die auf Minderheiten nur begrenzt Rücksicht nehme. Was sind in einer solchen Situation heute die viel beschworenen „Werte der Republik“? Einfach nur jene Normen und politischen Regeln, die es den Menschen erlaubten, möglichst konfliktfrei zusammenzuleben, ohne faktisch irgendetwas gemeinsam zu haben, ohne irgendetwas wirklich zu teilen (129).

Einer solchen Nation fällt es natürlich schwer, Fremde zu integrieren, weil es ihnen gar kein Angebot machen kann, von ihnen aber auch nichts verlangen will, außer vielleicht genauso radikale Individualisten zu werden wie die Europäer. Genau das werden die meisten Muslime so bald nicht tun, weil es mit ihrer Religion nicht vereinbar ist, und weil sie dieses Lebensmodell auch nicht als attraktiv betrachten. Die postmoderne politische Linke begrüßt ihre Präsenz dennoch, denn der wachsende Einfluss der konservativen, anti-westlichen Strömungen des Islam – für liberale Varianten, die die regressive Linke daher auch eher ablehnt, gilt das natürlich nicht – ist für die Linke ein willkommener Beweis dafür, dass Europa kulturell und historisch ein leerer Raum ist, der keine Traditionen besitzt, die irgendwie verteidigt werden könnten oder sollten. Der Islam, so schreibt Manent, müsse aus der Sicht der Linken aufgenommen werden, „sans réserve ne question afin de vérifier que L’Europe est bien vide de toute substance commune, nationale ou religieuse.“ (S. 102).  Das alles sind für eine Integration keine guten Voraussetzungen.

Was kann man ändern?

Was schlägt Manent selber in dieser Situation vor? Zum einen dürfe man in der Tat von den Muslimen nicht verlangen, ihre Traditionen zu verleugnen, sondern müsse sie als Bürger akzeptieren mit dem Recht, ihren Glauben auch in der Öffentlichkeit zu zeigen und zu praktizieren, ihn also nicht radikal zu privatisieren. Von daher ist ein Kopftuchverbot für Schülerinnen, wie es in Frankreich besteht, schwer zu begründen. Wohl aber könne man verlangen, dass bestimmte elementare Rechtsprinzipien beachtet würden. Dazu gehöre der Verzicht auf die Polygamie und auf die Ganzkörperverschleierung, die ein Angriff auf das menschliche Zusammenleben sei, sowie die Anerkennung des Prinzips der Meinungsfreiheit auch in religiösen Fragen bis hin zum Recht, Religionen auch harsch und aggressiv zu kritisieren. Das alles freilich reicht nicht, wenn sich nicht, so Manent, Frankreich auf die Grundlagen seiner Existenz zurückbesinne. Diese aber seien immer noch christlich. Auch wenn heute praktizierende Katholiken nur noch eine relativ kleine Minderheit seien, bleibe Frankreich ein vom Christentum geprägtes Land, das müsse entgegen den bisherigen Prinzipien der Laizität auch der Staat anerkennen, zumal die Muslime Frankreich ohnehin in dieser Perspektive sehen würden. Sie würden sich als Minderheit in einem christlichen Land sehen.

In der Trennung zwischen Staat und Kirche sieht Manent auch keine spezifisch europäische Tradition, da diese bis zum Ende des 18. Jahrhunderts immer eng verbunden gewesen seien, und die Trennung nur sehr schrittweise erfolgt sei. Etwas Anderes macht für ihn den Kern der westlichen Lebensordnung aus, jedenfalls für das Gebiet der lateinischen Christenheit – für die Ostkirche galten und gelten andere Traditionen. Im Westen zerfiel schon in der Spätantike das Römische Reich, aus dem das Christentum hervorgegangen war. An seine Stelle trat eine Vielzahl von Königreichen, Fürstentümern und Stadtstaaten, Gemeinwesen, die nicht einfach durch eine Dynastie konstituiert wurden, sondern oft ein korporatives Eigenleben gegenüber dem Monarchen oder Herrscher erlangten. Vorbild für jede politische Ordnung blieb dabei immer bis zu einem gewissen Grade die antike Polis oder Civitas, als Gemeinschaft von Bürgern. Eine Idee, an der sich Rom auch noch in seiner imperialen Phase orientiert habe.

Für die islamische Welt war hingegen das Imperium ein dynastisches Großreich mit universalem Herrschaftsanspruch, bis zum Beginn des 19. Jahrhundert die dominante politische Organisationsform. Beispiele dafür wären sowohl das Reich der frühen Kalifen als auch das Osmanische Reich oder das Reich der Moguln in Indien. Eine Tradition des Republikanismus oder des Stadtstaates, der Civitas, fehle hingegen im Islam. Das erkläre auch zum Teil, warum die meisten heutigen islamischen Nationalstaaten politisch eher instabil seien und nur die allerwenigsten als liberale Demokratien bezeichnet werden könnten. Was man nach Manent von muslimischen Immigranten verlangen müsse, sei nicht, ihre ethischen Vorstellungen aufzugeben, aber doch sich auf den Nationalstaat, in diesem Fall also Frankreich, einzulassen und sich als Bürger dieses Staates zu definieren und nicht in erster Linie als Angehörige der Umma, der Gemeinschaft aller Gläubigen weltweit.

Gerade diese Forderung könne man aber gar nicht glaubhaft vertreten, wenn man den eigenen Nationalstaat demontiere, indem man ihn etwa in der eher wie ein Imperium strukturierten EU aufgehen lasse und damit die wertvollste politische Tradition Europas verrate. Zwar habe die EU ein Parlament, aber dieses Parlament repräsentiere eigentlich nichts und niemanden, weil es ein gemeinsames Wir, einen europäischen Demos, nicht gebe. Noch gefährlicher sei aber eine Ideologie, die den individuellen Rechten jedes Bürgers eine absolute Priorität gegenüber jeder übergreifenden moralischen und sozialen Ordnung einräume, wie das heute in Europa der Fall sei. Eine solche Ideologie wirke für Muslime auch deshalb wenig plausibel, da ihre Heimatländer meist keine stabilen Nationalstaaten seien, für die das Bekenntnis zu Menschen- und Bürgerrechten eine konstituierende Kraft habe, wie in Frankreich oder in anderen Ländern. Sie würden daher umso mehr dazu neigen, in einer Gesellschaft atomisierter Individuen, die nur durch eine formale Rechtsordnung zusammengehalten werde, ihre durch gemeinsame Sitten definierte ethnisch-religiöse Gemeinschaft zu verteidigen und abzuschotten.

Am Ende der Lektüre der Schrift Manents bleibt eine gewisse Ratlosigkeit, weil die Situation einigermaßen aussichtslos erscheint, zumal Manents Sehnsucht nach einer vom Katholizismus geprägten Gesellschaft oft als allzu nostalgisch erscheint und auch die Bedeutung der Aufklärung für Europa vernachlässigt. Allerdings, diese Erkenntnis und sie ist plausibel, muss man wohl doch festhalten: Wenn die Integration von Immigranten heute so oft misslingt, dann sollte man die Schuld nicht unbedingt bei den Neuankömmlingen suchen, sondern, wie es Manent tut, bei der politischen und kulturellen Entwicklung in Europa selber. Die Schwächung des Nationalstaates, die Ablehnung der politischen und kulturellen Traditionen Europas, und eine gesellschaftliche und politische Ordnung, die sich nur noch durch den Bezug auf absolut gesetzte individuelle Rechte legitimiert, die nicht mehr wagt, soziale Institutionen wie z. B. die Ehe, die Menschen in der Gestaltung ihres persönlichen Lebens auch nur ansatzweise beschränken, zu verteidigen, sind alles Phänomene, die ein Integrationshindernis darstellen, zumal der radikale westliche Individualismus sich nur schlecht mit den Werten verträgt, zu denen sich die meisten Muslime bekennen, es sei denn, sie hätten mit ihrer eigenen Tradition schon weitgehend gebrochen. Das aber wird die Mehrzahl so bald nicht tun.


Pierre Manent, Situation de la France, Paris 2015,  173 S.; englisch: Beyond Radical Secularism. How France and the Christian West Should Respond to the Islamic Challenge, South Bend, Ind. 2016, 124 S. – Ich zitiere hier nach der französischen Ausgabe. Ich danke meinem israelischen Kollegen Hillay Zmora für den Hinweis auf das Werk von Manent.