Tichys Einblick
Deutsche Lebensreform-Bewegungen - Teil 1 von 3

Irrlehren vom Neuen Menschen führten zu den Totalitarismen

Fidus: Lichtgebet

Besser, Sie schnallen sich an. Denn das Buch „Der Bausatz des Dritten Reiches“ von Wolfgang Prabel trägt Sie sonst aus der Kurve. Die Geschichtsinterpreten der Nachkriegszeit hätten uns weisgemacht, das abgrundtiefe Böse sei aus Hitlers „Mein Kampf“ und der Weltwirtschaftskrise über uns gekommen. Nein, sagt Autor Prabel: „Die Wurzeln der Unmenschlichkeit waren schon tief im Zeitgeist des Spätkaiserreichs und der sogenannten Goldenen Zwanziger Jahre verankert.“ Von den bekannten Größen der Goldenen Zwanziger, die auch viele von uns schätzen, bleibt nach der Lektüre von Prabels Buch praktisch nichts übrig.




Wolfgang Prabel schaut auf die kulturelle Tektonik, die unter der politischen und wirtschaftlichen liegt, auf welche sich die meisten Geschichtsschreiber beschränken: „Der Bausatz der NS-Ideologie aus ökologischen und ökonomischen Irrlehren wurde vollständig vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt. Spätkaiserzeitliche Ideologiepuzzles wurden von den Lebensreformern immer wieder neu zusammengesetzt und dekonstruiert.“

Lebensreformer: Mit diesem Sammelbegriff für eine breite Palette von Reformbewegungen, von Industrialisierung und Landflucht ausgelöst, können die meisten nichts anfangen. In der Literatur werden sie von modern bis reaktionär analysiert. Prabels Diagnose: „Adolf Hitler zimmerte aus dem nietzscheanischen Elitarismus, dem vermeintlichen Produktionsstreik der Natur, aus paranoiden Aversionen gegen den Zins und die Banken, aus Antisemitismus und Verstaatlichungsphantasien, aus Volksbildung und Volksgesundheit, aus Ariosophie, Mutterschutz und Sportpflicht, aus Tierschutz, Vegetarismus und Katastrophenglauben, aus Angst vor großen Kaufhäusern und dem Freihandel, aus Rassenlehre und Euthanasie seine 25 Punkte als Parteiprogramm und seine spätere Regierungspraxis.“

Für Prabel beginnt Ende der 1960er Jahre die Wiederkehr dieser Lebensreform: Mit dem Einzug der NPD mit bis zu 10 Prozent in sieben Landtage und dem nur knappen Verfehlen der fünf Prozent in der Bundestagswahl 1969 und anderen Bewegungen, die oft keine klare politische Zuordnung erlaubt; Bodenkult, Naturschutz, Antikapitalismus, Antiamerikanismus, Vegetarismus. Da steht der Vorwurf  unzulässiger Vergleiche schnell im Raum. Aber nur weil etwas ähnlich oder identisch klingt, ist es noch lange nicht Dasselbe oder auch nur das Gleiche.

„Völkische Hochzeiten“ in naturreligiöser ritueller „Eheleite“ im Umfeld der NPD und von Neonazis betriebene „braune Bio-Bauernhöfe“ sind unschwer als Hitlers Erben zu erkennen. Dass diese Leute gegen TTIP sind, antikapitalistisch, antiamerikanisch und antisemitisch sind, gegen Marktwirtschaft und „Profitsucht“, überrascht nicht. Welche anderen Strömungen um den politischen Mainstream herum und bis in diesen hinein das Gedankengut der historischen Lebensreform wieder aufnehmen oder neu entwickeln, ist schwerer auszumachen. Im Internet findet sich der Vorwurf des rechten wie linken und grünen Ökofaschismus, von Erziehungsdiktatur für alle Lebensbereiche.

Schauen wir uns an, was der Autor in der Sache sagt und schließen wir nicht aus Labeln. Es geht ihm um „die kulturellen Wurzeln des Nationalsozialismus“. Und um jene, die auf das intellektuelle Klima „einen noch größeren Einfluss hatten als Industrielle, Militärs, Bürokraten und Richter zusammen“. Prabel weist auf jene hin, „die das intellektuelle Klima prägten: Redakteure, Schriftsteller, Dichter, Maler, Bildhauer, Politiker, die Vorstände von wirtschaftlichen Pressure Groups und nicht zuletzt die allmächtigen Medienzaren.“

Kulturelle Ursachen unterbewertet

Das Bild „Lichtgebet“ des Malers Hugo Höppener – Künstlername: Fidus – wurde die Ikone der deutschen Jugendbewegung. In unzähligen Varianten hing es in jeder vierten Wohnung. Etwa die gleiche Zahl Abonnenten lasen die Gazetten von Hugenberg, Münzenberg, Mosses und Ullstein: „Viele andere Länder als Deutschland waren in der Weltwirtschaftskrise genauso verelendet wie Deutschland oder noch wesentlich ärmer und sie errichteten keine nationalsozialistische Diktatur“.

Die Wahrheit, sagt Prabel, ist, in unserer Geschichtsschreibung werden die ökonomische Ursachen über- und die kulturellen unterbewertet, der Zusammenhang zwischen beiden nicht benannt: „Große Teile der deutschen Wirtschaft hatten das Ende der zünftigen Monopole und die Auflösung der ländlichen Bindungen … feudaler oder genossenschaftlicher Natur, nicht wirklich angenommen. Moderne Wirtschaftsformen waren im Gefolge der napoleonischen Eroberungen nach Deutschland verschleppt und nicht verinnerlicht worden … Gewerbefreiheit und Judenemanzipation waren durch französische Plünderungen, Einquartierungen, Brandschatzungen, Säkularisierungen von Klosterbesitz und andere Gewaltexzesse diskreditiert.“

Ein romantisch-konservativer „Sozialismus der Zünfte, Gilden und Genossenschaften beherrschte als Modeströmung das ökonomische und kulturelle Denken des Spätbiedermeiers, des Kaiserreichs und der Weimarer Republik“, analysiert der Autor: „Der kulturelle Antikapitalismus war die Kehrseite des ökonomischen Antikapitalismus“ und konstatiert: „In diese restaurative Stimmung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts platzte Nietzsche mit seiner archaischen Blut und Bodenphilosophie … stellte die Frage nach der Umweltverträglichkeit der modernen industriellen Gesellschaft und verneinte diese“.

Wer die Kultur ins Visier nimmt, erkennt erst die Verwerfungen jener Zeit, ist der Autor sicher: „Einerseits beherrschte eine überalterte Führungsschicht, die gedanklich in der Zeit der späten Aufklärung zu Hause war, tradierte Parteien und Gewerkschaften des Kaiserreichs und der Weimarer Republik; auf der anderen Seite durchsetzten die jungen expressionistischen Heißsporne des Kulturbetriebs die bündischen Gremien, Gazetten und Institutionen, eskortiert von Funktiokraten der korporatistischen Wirtschaftsverbände.“

Vom Neuen Menschen zum Weltproletarier und Weltgermanen

Prabel fragt, „warum die völkische NSDAP und die bolschewistische KPD oft so eng beieinanderliegen; warum sich die beiden Parteien in Fragen des Antikatholizismus, Antikapitalismus, Antisemitismus, Antiamerikanismus, der Gesellschaftskonzeption, der Führungspraxis und -philosophie, der ästhetischen Anschauungen, der Menschenhaltung in Lagern sowie in außenpolitischen Fragen sehr ähnlich sind.“ Seine Antwort ist „die gemeinsame Herkunft aus dem Geist der Jugendbewegung“, welche Hitler ebenso beeinflusst habe wie Lenin, die den einen zum Neuen Menschen als Weltproletarier führte, den anderen als Weltgermanen.

Bis zum Ersten Weltkrieg, schreibt Prabel, „handelte es sich um ein gemeinsames Biotop, in welchem sich die Reformbewegung versammelte, ohne eine Trennung in links und rechts … in Worpswede, in Schwabing, in Weimar, in Friedrichshagen oder im BrückeAtelier in Dresden … teilten sich spätere Anarchisten, Ästhetizisten, Bolschewisten und Nationalsozialisten die Kunstzeitschrift, das Dach und die Konkubinen … Aus dem Weimarer Bauhaus, dem Werkbund und den Neuen Sachlichen gingen nicht nur Bolschewisten, sondern auch Nationalsozialisten hervor. Einige konvertierten, waren erst Bolschewist, später Nationalsozialist, andere umgekehrt. Einige Maler, deren Bilder in der Ausstellung ‚Entartete Kunst‘ hingen, zum Beispiel Emil Nolde und Peter Röhl, waren Mitglieder der NSDAP.“

Und weiter: „Namen wie Hermann Hesse, Fidus, Max Beckmann, Walter Gropius, Harry Graf Kessler, Emil Nolde oder Henry van de Velde sind mit dem Gedanken der Lebensreform, des Neuen Weimar und des Bauhauses untrennbar verbunden … Ein guter Teil der Reformbeflissenen und mehr noch der Reformmitläufer der Jahre zwischen 1890 und 1930 strandete in der NSDAP bzw. KPD oder wählte beim Finale der Weimarer Republik dreimal hintereinander NSDAP und KPD.“

Das Bauhaus, erinnert Prabel, war eine Männerdomäne: „In Weimar und Dessau waren Männer Kulturwesen und Frauen Naturwesen. Folglich verfrachtete der Meisterrat die Frauen in die Webereiwerkstatt, die als ‚Frauenabteilung‘ geführt wurde. Aus dieser Rollenverteilung kam man als Frau nur – typisch für sozialistische Systeme – mit Protektion heraus. Im Bereich Bau und Ausbau gab es unter den Absolventen folglich nur vier Schneewittchen unter hunderten Zwergen.“

Man muss, sagt Prabel, die Geschichte von 1890 bis 1933 vorwärts erzählen und nicht rückwärts von 1945 bis 1933: „Die Zahl der Mitwirkenden ist chronologisch vorwärts erzählt nämlich mehr als zehnmal so groß, als chronologisch rückwärts betrachtet.“

Aber erst einmal nimmt Prabel einen Anlauf, der noch früher einsetzt. Um 1840 siedle Friedrich Engels den „Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“ an, also in der Zeit, als Engels und Marx auf der einen Seite, Stirner und Bauer auf der anderen um Hegels Erbe stritten. Antiautoritär seien die Junghegelianer allesamt gewesen, als sie sich in Egalitaristen und Elitaristen spalteten: „Marx bemängelte in seiner Kritik Stirners, dass die Welt in Ungebildete (Neger, Kinder, Katholiken, Realisten…) und Gebildete (Mongolen, Jünglinge, Protestanten, Idealisten…) geteilt würde, wobei die Gebildeten über die Ungebildeten zu herrschen hätten.“




Stirners Unterscheidung führe geradewegs zu jener der Jugendbewegung „in Ungebildete, Neger, Kinder, Katholiken, Realisten einerseits und Gebildete, Mongolen, Jünglinge, Protestanten, Idealisten andererseits …, wobei das Kind ab 1900 aus dem Kanon des Negativen herausgenommen wurde und der Jude als Platzhalter des Kapitalismus herein. Der Jugendwahn und der Idealismus als Leitbild der Führungsschicht reichen in ihrer Entstehung bis tief ins 19. Jahrhundert zurück.“

Da die marxistische Automatik nicht eintrat, schreibt Prabel, „wuchs … die Schwäche des Marxismus und …  reziprok die Stärke elitaristischer Gesellschaftskonzepte. Um die Jahrhundertwende verbanden sich die bis dahin getrennt marschierenden Säulen des kleinbürgerlich-ständischen Elitarismus und der Arbeiterbewegung zum Leninismus. Stirner hatte über Marx gesiegt.“

1890: Individualisierung, Bürgerlichkeit und Marktwirtschaft kommen nicht weiter voran




Mit Nacktbaden, Wassertreten, Esoterik und Vegetarismus konnten die Lebensreformer die Junker-Kaste nicht locken. Aber das Gefühl „alles muss anders werden“ verband Hof und Reform. Und zum monarchischen Wahrheitsanspruch passte das antidemokratisch-elitäre Reform-Selbstverständnis. Prabel verweist auf die vielen Wandervögel und Reformer zuerst als kaiserliche Kriegsfreiwillige und dann Mitglieder der Freikorps. Der oft vertreten Sicht vom Ersten Weltkrieg als Zäsur zwischen der Belle Époque und der folgenden Barbarei widerspricht Prabel: „Die Epochengrenze zwischen der Zeit der Verbürgerlichung der Gesellschaft mit einhergehender Individualisierung und der Epoche der Rekorporierung mit Einbindung der Menschen in Großverbände, zwischen individualistischen und korporatistischen Entwürfen muss irgendwo zwischen der Romantik und dem Spätkaiserreich gesucht werden, spätestens um 1890 herum.“ 1890 hätten die Leninisten zum Geburtsjahr des Imperialismus erklärt, 1890 sei aber vielmehr der Beginn der Ausbreitung des Reformismus und Elitarismus, der Kulturkrise, des industriellen Korporatismus und der Schutzzölle – schädlich für Außenhandel und Internationalität.

„Von 1871 bis 1945“, schreibt Prabel, „ hat es in Deutschland nie eine ausgesprochen bürgerliche Staatsform oder eine durchgängig marktwirtschaftliche Wirtschaftsweise gegeben. Es gab statt dessen eine dominante Militärmonarchie Preußen, die alle anderen deutschen Staaten und den deutschen Bundesstaat langsam mit ihrem pedantischen Bürokratismus infizierte und ein wirtschaftliches Mischsystem aus vorfeudal-genossenschaftlichen, feudalen, marktwirtschaftlichen und staatswirtschaftlichen Elementen. Alles mit riesigen Unterschieden zwischen dem Rheinland und Ostelbien.“ Und: „Das Gegenbild des handwerklichen Deutschlands wurde die maschinenbetriebene ‚Werkstatt der Welt‘ England und das Gegenbild des Handwerkers wurde der Jude. Der Jude wurde niemals mit einem deutschen Werkzeug dargestellt, sondern mit Bauchladen, Kontobuch, Geldscheinbündeln und gestapelten Münzen.“

Unheilig, aber wirksam fügte sich in die wirtschaftliche deutsche Entwicklung die Haltung der SPD, „eine syndizierte Wirtschaft trage die Keime des Sozialismus in sich“, was ein Parteitagsbeschluss 1894 so fasste: „Trusts, Ringe, Kartelle und ähnliche großkapitalistische Organisationen sind ein Schritt zur Verwirklichung des Sozialismus.“

Die bürgerliche Reformbewegung der Kaiserzeit, Denkmalpfleger, Heimatschützer und Tierschützer, war technikkritisch. Das Eldorado der Technikbegeisterten wurde die Sozialdemokratie: Der Zukunfts- und Fortschrittsglaube war nirgendwo mehr zuhause. (Wer denkt da nicht gleich an die SPD und die Atomenergie in den 1950er und 1960er Jahren?) Überwiegend Technikkritische sammelten sich in Heimatschutzverbänden und Antisemitenvereinen: noch vor 1914 in der Reformpartei, die sich als antisemitisch-antikapitalistischer Propagandist des kompromisslosen und radikalen Flügels der Reformbewegung verstand.

„Ab 1890 wurde gesät, 1914 bis 1945 hielt der Tod reiche Ernte“

Den Krieg als „Läuterungs- und Reinigungsritual“ habe etwa der italienische Jugendstil-Dichter D’Annunzio in seinen „Heiligen Gesängen“ zur Kiegstreiberei verdichtet. In dem im Februar 1909 im „Figaro“ veröffentlichten Manifest des Futurismus steht: „Wir wollen den Krieg glorifizieren – die einzige Hygiene der Welt – Militarismus, Patriotismus, die zerstörerische Geste der Freiheitsbringer, herrliche Ideen, die es Wert sind dafür zu sterben, und Verachtung für die Frauen.“

Die Liste der Kriegsfreiwilligen Künstler ist bei Prabel lang: Oskar Kokoschka, Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, George Grosz, Ernst Barlach, Wilhelm Lehmbruck, Max Ernst, Otto Dix, der im expressionistischen Marktsegment führende Kunsthändler Paul Cassirer und Max Beckmann. Als aktiv in der Kriegspropaganda nennt der Autor: Egon Schiele und Alfred Kubin, Stefan Zweig, Franz Werfel, Egon Erwin Kisch, Robert Musil und Hugo von Hofmannsthal, Ernst Barlach und Max Liebermann. Das ganze Who-is-Who der Deutschen Secession füllt ein Sonderheft mit ihren Kriegsbildern, herausgegeben von Max Oppenheimer.

Prabel hat noch mehr zusammengetragen, was nicht zu den gängigen Bildern passt: „Bertold Brecht vermutete, dass Großes gegeben werden müsse, um Großes zu erlangen, deutsche Ehre und Würde seien aller Opfer wert. Robert Musil freute sich in einem Essay 1914 über die Tugenden, die nun endlich wieder wichtig waren – Treue, Mut, Unterordnung, Pflichterfüllung, Schlichtheit. Alfred Döblin, in einem Artikel für die ‚Neue Rundschau‘, verfluchte noch im Februar 1918 alle, die ‚das Wort Frieden‘ in den Mund nehmen sollten. Franz Marc gelüstete es, seinen französischen Malerfreund Robert Delaunay vor sein Bajonett zu bekommen.“

Im „Manifest der 93“ an die Kulturwelt von Dramatiker Hermann Sudermann und Lustspielschreiber Ludwig Fulda fand Prabel: „Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen.“ Gerhart Hauptmann, Engelbert Humperdinck, Max Liebermann, Max Reinhardt, Friedrich Naumann, Max Planck, Paul Ehrlich und weitere Nobelpreisträger unterzeichneten, alle großen deutschen Zeitungen druckten es in reißerischer Aufmachung.

Wendehälse 1918 und 1933

Prabel spottet: „Die Vorkriegsteutonen Käthe Kollwitz, Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Heinrich Vogeler, Herwarth Walden, Alfred Paquet, Alfred Kerr, Adolf Grabowsky, Ernst Toller und viele andere gaben sich nicht nur pazifistisch, sondern sahen in Sowjetrussland, später in der Sowjetunion die Sonne des Aktivismus und Elitarismus aufgehen.“ Als Sieger der Geschichte sei erschienen, wer sich als Anhänger Lenins und Stalins begriff. Als Sieger der Oktoberrevolution (später von Mussolinis Marsch auf Rom) hatte man nach dem Krieg mit seiner antibürgerlichen Haltung vor dem Krieg Recht behalten, war trotz Deutschlands Niederlage ideologisch Sieger. Der kraftvolle Idealismus hatte den abgelebten Materialismus der alten Welt überwunden. Dem revolutionären Russland als Gegenbild der kapitalistischen Welt schlossen sich viele Intellektuelle an: „Deutschland war besiegt, aber der Nietzscheanismus und der Neue Mensch in den Höhen des expressionistischen Geistes waren gerettet worden.“

Wendehälse sind für Prabel „jene Expressionisten, die sich von Kriegslyrikern oder Kriegsfreiwilligen zu Pazifisten oder Anklägern des imperialistischen Krieges wandelten … beispielsweise Ernst Toller, Max Beckmann, Käthe Kollwitz, Otto Dix, Thomas Mann, Johannes R. Becher, Kurt Tucholsky und Bertold Brecht … Ferdy Horrmeyer malte im zeitlichen Abstand von weniger als einem Jahr Werbung für die letzte Kriegsanleihe und für den Pazifismus.“ Prabel zitiert Tucholsky und wirft ihm zugleich vor, selbst für die letzte Kriegsanleihe geworben zu haben: „Was sind das für Köpfe: sie pappen Bolschewistenplakate an die Mauern, aber als unsre Väter, Brüder und Söhne in den Gräben verdreckten und verlausten, als sie zu Tausenden verreckten – da warben sie für die Kriegsanleihen, und kaum eine Hand rührte sich für die unschuldigen Opfer einer verbrecherischen Politik.“

Die Republik sei daran zugrunde gegangen, „dass dieselben Leute, die vor dem Weltkrieg für die Verbreitung der Lebensreform sorgten, kulturellen und politischen Sonnenkult trieben, den Neuen Menschen erdachten, Gewalt verherrlichten, eine kalkülunfähige hasardierende Außenpolitik entwarfen, bei allem die tradierten Grundsätze der praktischen Vernunft leichtfertig über Bord warfen, sich nach dem Weltkrieg als Ärzte am Krankenbett Deutschlands betätigten, um eben jene Krankheit zu kurieren, die sie selbst ausgebrütet und verschleppt hatten.“

Die Verderber des Neuanfangs seien „viel weniger die vielgescholtenen Generäle, Richter und Beamten des Kaisers, die oft in preußischer Pflichterfüllung eine ungeliebte Republik nach dem Buchstaben des Gesetzes lustlos oder widerwillig tolerierten, sondern mehr die Eliten der Politik, Wirtschaft und Kultur. Nicht nur die Ludendorffs, Hindenburgs, Rantzaus und Schleichers verdarben das Land, sondern auch die Rathenaus, Moellendorffs, Wissels, Sombarts und Cunos … und auf den republikanischen Kulturschreinen standen wie vor dem Krieg nackte Gigantenstelen auf Hakenkreuzdeckchen bzw. neben Hammer- und Sichelstandarten. Auch Fidus, Gropius, Hesse, Th. Mann, Graf Kessler, Rilke, Tucholsky, George, Grosz, Zetkin und andere Antidemokraten leisteten ihren unheilschwangeren Beitrag zur Sabotage eines Neuanfangs.“

Ein antibürgerlichen Homunkulus sei aller Ziel gewesen, Expressionismus, Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus: „Die Braunen gaben ihren rassistischen Ansatz offen zu. Die Roten führten den Kampf um die Vorherrschaft der russischen Rasse und die Überlegenheit von Parteifunktionären hinter dem Bühnenbild des Klassenkampfs, der in nachrevolutionären Zeiten der klassenlosen Kastengesellschaft eine steinzeitliche Kulisse war.“

Revolutionen ändern nicht automatisch die Menschen. Da Revolutionen ihre Ziele nie ganz erreichen, gibt es Enttäuschung und Erinnerung an die Zeit vor der Revolution. Die Revolution frisst ihre Kinder, ist einmal zu Ende und überleben tun nicht die Revolutionäre, sondern revolutionäre Institutionen, in der Weimarer Zeit die republikanische Verfassung und das allgemeine Wahlrecht. Überleben diese Institutionen die Generation, die sich noch an die Zeit vor der Revolution erinnern kann, haben die revolutionären Institutionen die Chance zu bleiben. In Weimar war das nicht der Fall, sagt Prabel:

Die Republik „wurde von Nietzscheanern aller Couleur, darunter dichtenden, musizierenden, bauenden und politisierenden Elitaristen zur Strecke gebracht und hat als politisches System überlebt. Vollkornverzehrende Eigenbrötler, vom schönen Mittelalter träumende Zunftmeister und -gesellen, leninistische Parteiavantgardisten, deutschtümelnde Globalisierungsgegner, kapitalismuskritische Antisemiten, von Blutreinigung und Menschenzucht besessene Landkommunenindianer, Heimatschützer, die das Arten- und Brauchtumssterben betrauerten, kriegsbegeisterte Waffennarren und Querulanten in Reformsandalen bildeten ein zivilisationskritisches und demokratiefeindliches buntes Netzwerk.“




Kriegsmanager Rathenau hinterließ eine Planwirtschaft

Die deutsche Kriegswirtschaft war in Kartellen straff organisiert, Rohstoffe, Arbeits-, Wohnungs- und Lebensmittelmarkt wurden staatlich bewirtschaftet. Planwirtschaftliche Mangelverwaltung war das Gesetz des Handelns und Krisenmanagement. Wirtschaftspolitische Erneuerung stand nicht auf der Tagesordnung: „Man wurstelte sich mit der von Dr. Walter Rathenau geschaffenen Kriegswirtschaft so durch, bis Hitler an die Macht kam. Er fand in dieser Kriegswirtschaft bereits vor, was er brauchte, um den nächsten Krieg vorzubereiten. Nur noch geringe Änderungen waren erforderlich, um die Ausrichtung Deutschlands auf den 2. Weltkrieg zu perfektionieren.“




Der Staatssektor der Wirtschaft war relativ klein und bestimmte das Herrschaftsverhältnis nicht. Das taten vielmehr die 35 Kriegsrohstoff- und Kriegsaktiengesellschaften, der alle privaten Unternehmen einer Branche angehörten. Sie verteilten die knappen Rohstoffe auf Weisung der Rohstoffabteilung des Kriegsministeriums an die Betriebe. Die preußisch-deutsche Kriegswirtschaft als Planwirtschaft passte gut in die deutsche Zunfttradition. Prabel: „Walter Rathenau hatte bereits 1916 gedroht: ‚Die Rohstoffabteilung wird auch im Frieden nicht zu bestehen aufhören, sie wird den Kern eines wirtschaftlichen Generalstabs bilden.‘“ Und:

„Edgar Jaffé, der mit Werner Sombart und Max Weber das ‚Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik‘ herausgab, konstatierte, dass die Militarisierung des deutschen Wirtschaftslebens unverkennbar staatssozialistisches Gepräge trage und die Rückkehr zur deutschen Tradition der festen und planmäßigen Ordnung des Wirtschaftslebens bedeute. Der deutschen Linken, Jaffé war USPD-Mitglied, und als solches unmittelbar nach dem Weltkrieg Finanzminister in Bayern, fiel nichts Innovativeres ein, als in altdeutsche Traditionen zurückzufallen.“

Das neue Kohlenwirtschaftsgesetz und der neue Reichskohlenverband wird 1919 auf Millionen Flugblättern gepriesen: „Die Sozialisierung ist da! Das Kohlensyndikat wird sofort sozialisiert.“  Die Planwirtschaft in der Kaliindustrie und ein Reichskalirat nach dem Muster des Reichskohlenverbands folgten, 1920 der Eisenwirtschaftsverband, der die Inlandspreise festsetzte, die Regelung der Ein- und Ausfuhr von Eisen und Stahl sowie die Regelung des Schrotthandels. Der Wirtschaftsverband für Rohteer- und Teererzeugnisse sowie der Schwefelsäureausschuss waren nächste Schritte, 1925 dann Halbzeugverband, Röhrenverband, Walzdrahtverband, Grobblechverband, Stahleisenverband und andere Syndikate.

Das öffentlich-rechtliche Innungswesen nahm in der Weimarer Republik gegenüber dem Kaiserreich noch zu. Seit 1913 hatte sich die Zahl der Innungsmitglieder verdoppelt, auf 800.000 Meister in den Zwangsinnungen und 200.000 in freiwilligen. Die von den Handwerkerorganisationen geforderte obligatorische Innung, die Preisfixierung und den Großen Befähigungsnachweis bekamen sie erst von Hitler; sie gelten noch heute in vielen Handwerken.

Der Beginn der Weltwirtschaftskrise brachte 1930 das Brotgesetz und das Reichsmaisgesetz, 1932 die Zwangskartellierung der Zuckerindustrie: Die Kosten der chronischen Fehlsteuerung musste die Wirtschaft selbst tragen. Prabel spottet wieder: „Während sich die Landwirtschaftsbürokratie mühte, malte Fidus 1930 die ‚Spatenwacht‘. Als die Russen 1945 in Fidus‘ Atelier eindrangen, nahmen sie die Helme vor dem Bild ab, weil sie dachten, es handle sich um eine Kolchosfeier.“

Zahllose Vorschriften regelten die Verwendung von Produkten: Beikirnungszwang für Margarine, Beimälzungszwang für Brauereien, Beizellungszwang für Papierfabriken, Holzbeischliffzwang bei der Zelluloseherstellung, Beischmelzzwang für Eisenerz. Es gab eine Preistreibereiverordnung und Preisprüfungsstellen und eine Kartell-Notverordnung zur Unterbindung unwirtschaftlicher Preisbindungen.

Bei Ausbruch der Bankenkrise verfügte die Reichsregierung 1932 einfach, Banken zusammenzuschließen: Die Danat-Bank und Dresdner Bank einerseits und die Commerz- und Privat-Bank und der Barmer Bank-Verein Hinsberg, Fischer & Co. in Düsseldorf mussten fusionieren. In einer „Kapitalrekonstruktion“ beteiligten sich Reich und Reichsbank mit 70 % an der Commerz- und Privat-Bank.

Wirtschaftswissenschaftler wie Rudolf Hilferding und Joseph A. Schumpeter diskutierten damals, ob diese Wirtschaftsvereinigungen durch Staatszwang privatwirtschaftlich, individualistisch und damit kapitalistisch seien oder planwirtschaftlich. Die Wirtschaftswissenschaft hätte sich nach Prabel besser gefragt, ob diese Wirtschaftsvereinigungen, Trusts und Syndikate „nicht eher organisiert waren wie die privatwirtschaftlichen Marktgenossenschaften, Zünfte und Gilden, denen das Element individualistischer Wirtschaftsführung und damit der kapitalistische Geist völlig fehlte.“

Wer über die deutsche Wirtschaft und ihre politisch-gesellschaftlichen Verflechtungen vom Kaiserreich bis 1945 mehr wissen will, findet bei Prabel eine Fundgrube über staatliche Planwirtschaft mit Privateigentum hinter der Fassade der Selbstverwaltung der Wirtschaft.

Hitler mixte aus dem Vorhandenen sein braunes Gebräu

Die 25 Punkte des Programms der NSDAP von 1920, formuliert Prabel, „speisten sich aus völkischen, biologistischen, malthusianistischen, zünftigen und romantischen Quellen. Das schöne Mittelalter, wo es noch keine Zinsen gab, wo die Handwerker und Händler sich keine Konkurrenz bieten durften und von Zünften und Gilden geschützt in eine kommunale Gemeinschaft eingebettet waren, wo der Sachsenspiegel statt dem römischen Recht galt und wo die Bauern ihre gleichen Hufen neben der Allmende bebauten, wo Klöster die Talente der Jugend unabhängig vom Einkommen der Eltern förderten und wo tapfere Ritter gegen auswärtige und zugereiste Drachen kämpften, war offensichtlich das gesellschaftliche Leitbild. Die Auflösung aller dieser Bindungen wurde als das zerstörende Werk der Juden verstanden, der Zins, die Abschaffung der Zünfte und Gilden, das römische Recht, die Kaufhäuser und die Abhängigkeit von Marktbedingungen, alles moderne und unbequeme, wurde mit ihnen identifiziert.“

Ohne die großen Schnittmengen zwischen allen Richtungen der Zeit hätte Hitler sein Reich nicht bauen können. Der Bausatz des Dritten Reiches speiste sich aus vielen Quellen, die wir heute gar nicht kennen oder nicht dort einordnen. Das eBook hat in der Kindle-Version 686 Seiten. Es lohnt, sich die Fülle der Details Stück für Stück zu erschließen.

Gedankenverbindungen in die Gegenwart bieten sich bei Wolfgang Prabel alle paar Seiten an, auch wo er selbst den Bezug zur Gegenwart nicht explizit herstellt. Seine Intention ist klar, seine Botschaft besteht in der Warnung vor neuen Lebensreformen, ob sie heute selbst bei denen vor 100 Jahren anknüpfen oder nicht. Damit begibt sich der Autor in jene öffentliche Arena, wo bekenntnishaftes dafür und dagegen so sehr verlangt wird, dass jede nüchterne Diskussion in der Sache schwer wird, wenn nicht unmöglich. Aber niemand ist daran gehindert, sich ein eigenes Bild zu machen und eine eigene Meinung zu bilden. Dazu liefert Wolfgang Prabels Buch jede Menge Stoff.

Zwei weitere Beiträge folgen.

Wolfgang Prabel: Der Bausatz des Dritten Reiches: Die deutsche Kulturrevolution 1890 bis 1933 [Kindle Edition], 686 Seiten. edition:freiheit, Deutscher Arbeitgeberverband.

Autor Dr. Wolfgang Prabel ist Bürgermeister von Mechelroda in Thüringen und betreibt ein Geschäft für Antiquitäten und Geschenke. Prabel ist Ingenieur und gehörte 1989 zu den aktiven Mitbegründern des Demokratischen Aufbruchs. Mit Freunden zusammen organisierte er erfolgreich den Generalstreik zur Auflösung der Stasi. Prabel publiziert auf einem eigenen Blog und bei anderen. Sein Interesse gilt den Widersprüchen zwischen Dichtung und Wahrheit.