Tichys Einblick
Martin Luther in Worms

»Ich kann nicht anders, hier stehe ich, Gott helfe mir, Amen.«

Klaus-Rüdiger Mai erklärt einen der entscheidenden Momente an der Schwelle zur Neuzeit: Luthers Auftritt auf dem Reichstag von Worms 1521. Der Weg dahin ist der Weg zur Reformation - im komplexen Zusammenspiel von Charakteren, Glaubensüberzeugungen und politischen Umständen.

Es ist eine der großen Szenen der deutschen, der europäischen und der Weltgeschichte. Da steht ein einzelner Mann vor dem höchsten Monarchen der Christenheit, Kaiser Karl V. Er soll vor ihm auf dem Reichstag zu Worms 1521 widerrufen, was er geschrieben hat, was er glaubt und denkt. „Mönchlein, Mönchlein, Du gehst jetzt einen Gang, dergleichen ich und mancher Obrist auch in der allerersten Schlachtordnung nicht getan haben. Bist Du aber der rechtlichen Meinung und Deiner Sache gewiss, so fahre in Gottes Namen fort und sei getrost, Gott wird dich nicht verlassen. Mut, Mönchlein, Mut!“

Der das sagte, war der Landsknechtsführer Jörg von Frundsberg, der sich mit Mut auskannte und für Kaiser Karl V. vier Jahre später die Schlacht von Pavia gewinnen würde. Und das mutige „Mönchlein“, dem der Haudegen seine Achtung erwies, war natürlich Martin Luther. Eine der größten Persönlichkeiten, die die Deutschen hervorgebracht haben. Ein Mann, der sein Land, Europa und die Welt bewegt hat mit außerordentlicher Wirkung auf Jahrhunderte. Nämlich dadurch, dass er nicht widerrief, sondern sich mit dem berühmten Schlusssatz zu seinen Thesen bekannte: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen.“

Klaus-Rüdiger Mai hat ein Buch über diesen historischen Moment und Luther geschrieben. Kein Fachbuch für Wissenschaftler und Theologen in erster Linie, sondern ein erzählendes Sachbuch, das seine Sympathie für den großen Reformator nicht versteckt, aber auf einer profunden Kenntnis und Angabe der Quellen, nicht zuletzt der Schriften Luthers selbst, beruht.

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Das Buch beginnt mit einem Prolog, der von zentraler Bedeutung ist, um Luthers Situation zu verstehen: nämlich zur Verhandlung des Jan Hus auf dem Konzil von Konstanz ein Jahrhundert zuvor, 1415. Der Tscheche Hus hatte von Kaiser Sigismund die Zusage des freien Geleites erhalten, wie später Luther von Karl, war aber dennoch als Ketzer verbrannt worden. Luther, dessen Thesen den Lehren des Hus nicht ganz unähnlich waren, stand dessen grausiges Schicksal stets vor Augen.

Das erste von drei Hauptkapiteln des Buches unter der Überschrift „Der Kaiser bittet nach Worms“ ist eher einleitender, einordnender Natur. Das zweite – „Aufbruch ins Ungewisse“ – ist nicht nur das längste, sondern auch das zentrale zum Verständnis Luthers. Es geht einerseits um den konkreten Aufbruch nach Worms und die ereignisgeschichtliche Vorgeschichte. Es ist andererseits und vor allem die theologische Erklärung dafür, wie aus diesem Augustiner-Mönch und Professor an der Universität Wittenberg der große Reformator, der Kirchen- und Weltveränderer Luther wurde.

Mai erzählt und erklärt, wie Luther im Kampf mit sich selbst und den zeitgenössischen und kirchengeschichtlichen Denkern zu der Gewissheit gelangte, dass die damalige (katholische) Kirche auf dem theologischen Holzweg war. Dieser Holzweg, den die Scholastik auf der Grundlage aristotelischen Denkens bereitet hatte, endete im Ablasshandel. Er beruhte auf einem in Luthers Augen grundlegend falschen Menschenbild, das dem Menschen die Fähigkeit anmaßte, sein Heil durch gute Werke und letztlich auch durch Geldgaben zu erkaufen. Und einer Vorstellung von Gott, die diesen zu einem Handelspartner herabwürdigte. „Die Kirche musste wieder glauben lernen“, fasst Mai zusammen. Luther wollte „den christlichen Glauben in die Herzen und Seelen der Menschen bringen“.

In einer Vorlesung klagte Luther vor den Wittenberger Theologie-Studenten: „Die Geistlichen von heute, das heißt: die weit geöffneten Schlünde für alles Weltliche sind heute über nichts mehr aufgebracht als über einen Eingriff in die Freiheiten, Rechte, Herrschaftsverhältnisse und Befugnisse der Kirche.“ Und weiter sarkastisch: „Du kannst hochmütig sein und schwelgen, magst habgierig, streitsüchtig, jähzornig und undankbar sein, … ja selbst wenn deine Laster zum Himmel schreien, du bist trotzdem der frömmste Christ, vorausgesetzt, dass du die Rechte und Freiheiten der Kirche beschützt; missachtest du sie dagegen, dann bist du kein treuer Sohn der Kirche.“

Ähnlichkeiten zur heutigen Kirche, auch und nicht zuletzt zur evangelischen und deren führenden Köpfen, kommen da auch ohne Hinweis des Autors in den Sinn.

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„Das Problem allerdings, das Luther selbst erst nach und nach bewusst wurde“, schreibt Mai, „bestand in Wirklichkeit nicht einfach in der Frage der Ablässe. Im Kern drehte es sich ganz grundsätzlich um die Frage, was der Glaube sei. Er hatte am spätmittelalterlichen Paradigma gerüttelt und letztlich Kirche und Papst in Frage gestellt. Man könnte es auf die einfache Formel bringen: Macht oder Glauben? War die Kirche eine Institution des Glaubens oder der Macht?“

Mut hatte Luther schon bewiesen, bevor er in Worms ankam. Nicht nur den Mut des Denkers und kompromisslosen Theologen, der sich mit den lebenden und toten Großen der Kirche anlegte. Sondern auch den Mut des Seelsorgers, der 1516 in Wittenberge blieb, als dort die Pest ausbrach. „Wenn der Herr zu Petrus sprach: Weide meine Schafe, konnte Luther seine Gemeinde nicht ihrem Schicksal überlassen.“

Ein Jahr später hielt sich der Dominikaner-Mönch und (durch Luthers Schriften bis heute berüchtigte) Ablasshändler Johann Tetzel in der Nachbarstadt Jüterbog auf. Die Kirche verkaufte den Gläubigen mit den Ablasszetteln einen kürzeren Aufenthalt im „Fegefeuer“, bevor sie schließlich in den Himmel kämen. Doch in der Bibel und selbst noch bei den spätantiken Kirchenvätern ist von dieser Zwischenstation der „Reinigung“ (purgatorium) nirgends die Rede. Diese vom Papst in Rom geförderte Praxis war bekanntlich der Anlass zu jenen „95 Thesen“, die Luther berühmt machten – und ihn schließlich in Konflikt mit dem Papst und dem Kaiser brachten. Von zentraler Bedeutung für die Radikalisierung, also letztlich die Erkenntnis Luthers, dass er sich von der römischen Kirche entfernen würde, war die öffentliche „Disputation von Leipzig“, im Juni und Juli 1519, die Mai ausführlich behandelt. Luther und sein Wittenberger Professorenkollege Karlstadt verteidigten hier die in den 95 Thesen begründete Lehre von der Gnade Gottes als einzigem Weg zum Seelenheil gegen den scholastischen Theologen Johannes Eck.

In Leipzig, so Mais These, wurde sich Luther erst der schweren, radikalen Konsequenz seiner Glaubensüberzeugung klar. Schließlich hatte ihn Eck offen mit dem Vorwurf der Ketzerei belegt.

Die Ablassfrage verknüpfte die theologischen Konflikte des frühen 16. Jahrhunderts mit politischen Konkurrenzen der Fürsten im damaligen Reich. Dass Luther nicht das Schicksal des Jan Hus teilen würde, der 1415 als Ketzer verbrannt worden war, lag nicht nur an der theologischen Überzeugungskraft seiner Reformationslehre, sondern daran, dass sein Landesfürst Friedrich der Weise von Kursachsen nicht nur kein theologisches, sondern auch kein politisches Interesse am Ablasshandel hatte, der vor allem seinem Konkurrenten Joachim, dem Kurfürsten von Brandenburg, beziehungsweise dessen Bruder, dem Erzbischof von Mainz zugute kam.

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So sehr Luther die Verweltlichung der damaligen Kirche anklagte, so waren doch zugleich, das ist eine der zentralen Erkenntnisse aus der Lektüre dieses Buches, die politischen Rahmenbedingungen im Reich die Voraussetzung dafür, dass Luther nicht als Ketzer verbrannt wurde. Die Reichsreform, das Interesse der Territorialfürsten an der Stärkung ihrer Rechte gegenüber dem Kaiser, das war das politische Hauptthema beim Reichstag zu Worms und generell im damaligen Reich. Dazu kam: Luthers Lehren trafen auf eine geneigte Hörerschaft im Reich in den meisten Ständen, weil sich eine tiefe Abneigung gegen die als korrupt und unglaubwürdig empfundene Kirche in Rom entwickelt hatte, die auch mit einem neuen deutschen Nationalbewusstsein einherging.

Der Kaiser hatte die Reichsacht über Luther verhängt. Bis heute (!) steht er unter dem Kirchenbann. Aber der Kaiser war eben kein absoluter Herrscher und die Macht der römischen Kirche in Deutschland war noch begrenzter als die des Kaisers. Luther war spätestens in Worms für weite Teile der Deutschen in allen Ständen zum Helden und Hoffnungsträger geworden. Sein Landesfürst Friedrich der Weise und eine wachsende Zahl anderer Fürsten schützen ihn, so dass in den folgenden zwei Jahrzehnten aus dem „Mönchlein“ und Professor der große Reformator und Baumeister einer neuen Konfession wurde. Aber das ist nicht mehr Thema dieses Buches, dem viele Leser zu wünschen sind.

Klaus-Rüdiger Mai, Und wenn die Welt voll Teufel wär. Martin Luther in Worms. EVA, 380 Seiten, 25,00 €


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