Tichys Einblick
Krise als Mittel zur Macht

Fritz Söllner: Einschränkungen, Regulierungen und Vorschriften nehmen zu

Die Krisen der letzten Jahre seien oft instrumentalisiert worden, um eine bestimmte Agenda voranzutreiben. Wir bräuchten grundsätzlich eine Abkehr von der gesinnungsethischen Ausrichtung der Politik, hin zu einer stärkeren Verantwortungsethik, meint der Ökonom Fritz Söllner im Gespräch mit Peter Winnemöller

Herr Söllner, haben Sie das Gefühl, dass in der Politik die Bereitschaft fehlt, den Wohlstand des Volkes zu mehren oder zumindest zu bewahren?

Man nimmt in der Politik offensichtlich den Wohlstand des Volkes und der Volkswirtschaft für gegeben und selbstverständlich an. Man gibt sich keine Mühe mehr, den Wohlstand zu bewahren oder zu mehren. Stattdessen wird mehr Wert darauf gelegt, den vorhandenen Kuchen irgendwie gerecht zu verteilen, statt die Größe des Kuchens zu erhalten oder zu erhöhen. Es ist schwer zu sagen, wann das begonnen hat, weil es ein schleichender Prozess innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte war. Ein kritischer Punkt in verschiedener Hinsicht war die Einführung des Euro. Das war eine Entscheidung, die wirklich langfristig gesehen auf Kosten des Wohlstandes der Volkswirtschaft gegangen ist.

War die Einführung des Euro aus Ihrer Sicht ein Fehler?

Auf jeden Fall. Der Euro ist aus volkswirtschaftlicher Sicht eine komplette Fehlkonstruktion. Beim Euro gibt es eine einheitliche Geldpolitik. Sie werden mit Glück eine Geldpolitik hinbekommen, die für die beteiligten Länder durchschnittlich richtig ist. Aber es kann Länder geben, die in der Rezession stecken und eine andere Geldpolitik brauchen als ein Land, das in der Hochkonjunktur ist. Es wird nie möglich sein, für jedes beteiligte Land die richtige Geldpolitik zu betreiben. Ferner gibt es innerhalb des Euroraumes keine Wechselkursanpassungen. Diese haben dazu gedient, realwirtschaftliche Ungleichgewichte auszugleichen. Das geht heute nicht mehr, was zu immer größeren Ungleichgewichten in den Handels- und Zahlungsbilanzen führt. Das sehen wir an den südeuropäischen Krisenländern.

„Der Euro ist aus volkswirtschaftlicher Sicht
eine komplette Fehlkonstruktion“

Wohin treibt der Euro? 

Wenn wir über den Tellerrand des Ökonomen hinausblicken und überlegen, was unter Umständen durch die Einführung des Euro beabsichtigt worden sein könnte, kommt man auf die Idee, dass die Eurokrise zumindest billigend in Kauf genommen worden ist, um mithilfe des Euro die weitere Integration und damit den weiteren Marsch in Richtung eines europäischen Zentralstaats voranzutreiben. Letztendlich kann und wird der Euro ohne Krisen nur mit einer gemeinsamen Wirtschafts-, Finanz-, Schulden- und Transferpolitik funktionieren.

Wenn Sie sich alle Krisen der letzten Jahre anschauen, haben Sie den Eindruck, dass in den Krisen adäquate Antworten gefunden oder gesucht wurden? 

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Die Krisen der letzten 20 Jahre habe ich mir sehr sorgfältig angesehen. Es fällt schon auf, dass ein gewisses Grundmuster existiert. Man hatte eigentlich keinen Erfolg in der Krisenpolitik, nimmt man einmal die erste Krise aus, die Finanz- und Bankenkrise. Aus meiner Sicht hat man in dieser Krise durchaus Erfolg gehabt. Aber seither hat man in den verschiedenen Krisen weder kurzfristig die Krisenfolgen bewältigt noch längerfristig die Krisenursachen gelöst.

Wurden Krisen benutzt, um bestimmte Agenden voranzutreiben?

Es entsteht der Eindruck, dass Krisen zum allergrößten Teil instrumentalisiert worden sind, um eine bestimmte Agenda voranzutreiben. Diese besteht aus meiner Sicht in der Etablierung eines europäischen Zentralstaats. Es werden immer mehr Macht und Kompetenzen in Brüssel angesiedelt, was zulasten der Mitgliedsstaaten geht.

Wie wirkt sich so ein Einheitsstaat aus Sicht eines Nationalökonomen auf den Wohlstand einer Volkswirtschaft aus?

Das kommt auf die Struktur an. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung steht, dass man einen „föderalen europäischen Bundesstaat“ anstrebt, der angeblich dezentral und subsidiär organisiert sein soll. Wenn das so wäre wie in den Vereinigten Staaten, wo die Bundesstaaten relativ viel Autonomie haben, dann könnte man damit leben. So wie ich das derzeit sehe, ist genau das nicht beabsichtigt. Im Gegenteil geht der Trend eher zu einem zentralistischen Gebilde, das sehr bürokratisch und dirigistisch nach dem französischen Vorbild der „Planification“ organisiert ist. Das geht auf Kosten des Wohlstandes und der Wirtschaftskraft der einzelnen Mitgliedsländer, weil Gleichheit höher geschätzt wird als Innovation und wirtschaftlicher Fortschritt. Unterschiede zwischen den Volkswirtschaften werden kaum toleriert werden.

Sie haben gerade eine programmatische Grundlage angesprochen. Das sind ja immer Weichenstellungen. Wo tauchen diese Weichenstellungen das erste Mal auf? 

Die europäische Einigung oder die Europäische Union war so lange ein Erfolg und hat so lange keine Krise verursacht, wie sie eine Wirtschaftsunion war. In dem Moment, wo sie eine politische Union geworden ist, haben die Krisen begonnen.

Kann man erkennen, welche Agenden in den Krisen vorangetrieben wurden? 

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Tatsächlich ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass gewisse Agenden im Spiel gewesen sind. Ein Indiz sind die Nebenwirkungen der Krisenpolitik. Da die Bewältigung der Krisen nicht erfolgreich war und offenbar gar nicht an erster Stelle stand, lohnt ein Blick auf die von mir sogenannten „Nebenwirkungen“. Da findet man Indizien. Eine dieser Nebenwirkungen ist die zunehmende Zentralisierung auf europäischer Ebene. Besonders deutlich wurde das in der Klimakrise, in der Coronakrise und natürlich auch in der Eurokrise. In diesen drei Krisen fällt am deutlichsten auf, wohin die Reise geht.

Neben dieser Zentralisierung kann man auch einen zunehmenden Dirigismus beziehungsweise eine zunehmende Regulierung beobachten. Ein gutes Beispiel ist die Klimakrise und die Klimapolitik. Man hat begonnen, massiv in das Wirtschaftsleben und die Lebensweise der Bürger einzugreifen. Die Einschränkungen, die Regulierungen, die Vorschriften nehmen zu. Man denke nur an das Verbot des Verbrennungsmotors oder der Öl- und Gasheizungen. Diese immer weiter zunehmende Bürokratisierung und Regulierung wird nicht ohne Folgen bleiben.

„Die immer weiter zunehmende Bürokratisierung
und Regulierung wird nicht ohne Folgen bleiben“

Haben das Recht und Krise ein angespanntes Verhältnis? 

Das ist ein weiterer kritischer Punkt. In der Krisenpolitik spielte der Rechtsstaat eine immer geringere Rolle. Wir haben es an den Regeln in der Coronakrise gesehen, die dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz widersprachen, was von vielen Staatsrechtlern und dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, kritisiert worden ist.

Ähnliches gilt für alle Krisen. Denken Sie etwa an die Flüchtlingskrise. Da ist das Asylgesetz missachtet worden. Man hat die Grenzen geöffnet, obwohl man laut Paragraf 18 Absatz 2 Asylgesetz alle Asylsuchenden, die aus sicheren Drittstaaten einreisen, das waren mehr als 95 Prozent, an der Grenze hätte zurückweisen müssen.

In der Kernenergiekrise wurde gegen Eigentumsrechte verstoßen. Auf europäischer Ebene ist das Ganze noch viel schlimmer. Sämtliche Regeln, die früher für wichtig gehalten wurden, gelten nicht mehr. Das Verbot der Schuldenunion, der Aufnahme von Schulden durch die EU und der Staatsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank, die Regeln von Fiskal- und Stabilitätspakt werden alle missachtet. Das ist in der Krisenpolitik besonders auffällig.

Mit Energieknappheit, Inflation und leeren Supermarktregalen wird es für die Menschen sehr konkret. Was passiert jetzt? 

Die Menschen sind unzufrieden. Aber das hat bisher zumindest im Westen noch keine größeren Folgen. In Ostdeutschland sieht es anders aus, aber zu massiven Demonstrationen des Unmuts und des Widerstandes kommt es noch nicht. Die Regierung kann die Verantwortung für die aktuelle Situation abwälzen. Man hat den Ukraine-Krieg, und Putin dient als Sündenbock für alle möglichen Fehlentwicklungen.

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Aber nehmen Sie die Inflation. Die ist zurückzuführen auf die desaströse Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Seit zwölf Jahren wird die Geldmenge über alle Maßen ausgedehnt. Das schlägt sich jetzt in Inflation nieder. Der Ukraine-Krieg ist demgegenüber nur der Auslöser.

Wir hören jetzt von einer Zeitenwende. Wohin wendet es sich? Was wendet? 

Man hat gemerkt, dass in Europa Krieg ausbrechen kann. Es ist eine Zeitenwende in Richtung größerer Realismus und einer stärker realpolitischen Ausrichtung, vor allem in der Außenpolitik. Aber in anderen Politikbereichen wie Asylpolitik, Klima- und Energiepolitik gibt man sich immer noch vielen und gefährlichen Illusionen hin. Da sehe ich keine Zeitenwende, obwohl sie überfällig wäre.

Wir haben auch eine demografische Krise, die sich in eklatantem Fachkräftemangel zeigt. Wäre Einwanderung die Lösung?

Die Antwort darauf lautet: Es kommt darauf an, wer einwandert. Selbstverständlich kann die Einwanderung den Wohlstand der einheimischen Bevölkerung erhöhen, wenn es sich um gut qualifizierte, arbeitswillige, integrationsfähige und integrationswillige Einwanderer handelt. Das, befürchte ich, ist nicht der Fall. Und die Illusion, die man am Beginn der Flüchtlingskrise hatte, nämlich dass auf diese Weise der Fachkräftemangel gelöst werden könne, hat sich zerschlagen. Die Zuwanderung, so wie sie aktuell stattfindet, wird nicht unseren Wohlstand erhöhen, sondern im Gegenteil auf Kosten des Wohlstandes künftiger Generationen gehen.

Wir hinterlassen ein schwieriges Erbe mit hohen Schulden, desaströser Infrastruktur und vielen Krisen. Wird unser Land eher zu einem Auswanderungsland?

Ja, wir kennen in der Tat das Problem, dass junge, gut ausgebildete Fachkräfte, die wir dringend bräuchten, zunehmend auswandern. Ich kenne verschiedene Kollegen, deren Kinder sich ernsthaft mit dem Gedanken tragen, auszuwandern. Warum sollte man hier in Deutschland immer mehr arbeiten und immer höhere Steuern und Sozialabgaben zahlen – die nur allzu oft verschwendet werden?

Was müsste man tun, um zu Bewahrung und Mehrung des Wohlstandes zurückzukommen? Was müsste politisch geschehen?

Grundsätzlich bräuchten wir eine Abkehr von der gesinnungsethischen Ausrichtung der Politik. Wir bräuchten eine stärkere Verantwortungsethik. Es gilt von Seiten der Politik zu überlegen, welche Konsequenzen die Maßnahmen haben, die ergriffen werden. Führen sie zum Ziel? Sind sie sinnvoll? Sind sie effektiv? Sind sie effizient? Und vor allem: Liegen sie im Interesse Deutschlands? Es geht eben nicht nur darum, gute Absichten zu haben, sich dabei wohlzufühlen und bestimmte Ideale zu vertreten. Es geht auch und vor allem um das Ergebnis.

Dieses von Peter Winnemöller mit Professor Fritz Söllner geführte Interview erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.


Fritz Söllner, Krise als Mittel zur Macht. Mit einem Vorwort von Thilo Sarrazin. LMV, Hardcover mit Schutzumschlag, 320 Seiten, 24,00 €.


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