Tichys Einblick

„Friedenskanzler“ Willy Brandt – nicht vom Sockel geholt, aber einen Sockel tiefer gestellt

Rezension zu Michael Wolffsohn: Friedenskanzler? - Willy Brandt zwischen Krieg und Terror. München, dtv 2018, 175 Seiten. Mit Beiträgen von Thomas Brechenmacher, Lisa Wreschniok und Till Rüger.

Das Buch liest sich wie ein Krimi, und zugleich ist es ein echter „Wolffsohn“: schier kriminalistisch aufklärend, topaktuell quellengesättigt, messerscharf analysierend. Die Rede ist vom aktuellen Werk Michael Wolffsohns: Publizist, langjähriger Professor für Neuere Geschichte an der Bundeswehr-Universität München und Hochschullehrer des Jahres 2017.

Wolffsohn zeigt darin die Fehler und Versäumnisse der Nahostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt anhand erstmals zugänglicher Dokumente vor allem an drei dramatischen Ereignissen auf: erstens am Attentat vom 5. September während der Olympischen Spiele 1972 in München mit elf getöteten israelischen Sportlern und einem getöteten deutschen Polizisten; zweitens anhand der Freipressung dreier Terroristen, die eine am 5./6. September dilettantisch inszenierte Befreiungsaktion überlebt hatten, und drittens am – versandeten – Versuch von Israels Ministerpräsidentin Golda Meir, 1973 ihren sozialdemokratischen „Genossen“ Willy Brandt als Träger des Friedensnobelpreises von 1971 für die Friedensvermittlung während des Israel in seiner Existenz bedrohenden Jom-Kippur-Krieges vom 6. bis 25. Oktober 1973 zu gewinnen.

Wolffsohn kennt keine Scheu vor einem Willy Brandt, den es selbst außerhalb der SPD nur noch in schier hagiographischer Darstellung gibt. Der Autor arbeitet sich damit nach 2005 ein zweites Mal an Willy Brandt ab. Damals hatte er es mit seinem Buch „Denkmalsturz? – Brandts Kniefall“ getan. Gemeint war Brandts große Geste vom 7. Dezember 1970, als Brandt der am 19. April 1943 im Warschauer Ghetto von SS-Truppen niedergemetzelten oder später ermordeten vermutlich rund 40.000 Juden gedachte. Schon in diesem Buch äußerte Wolffsohn den Verdacht, dass er und sein Intimus Bahr zwei heldenhafte Warschauer Widerstandsaktionen gegen Nazi-Deutschland miteinander verwechselt hatten: den jüdischen Aufstand im Ghetto (1943) mit dem nationalpolnischen 1944. Weltweit jedenfalls reagierte man auf diesen Kniefall kaum. Hatte Brandt aus Sicht der sowjetischen bzw. polnischen Kommunisten und Nationalisten etwa die „falschen“ Opfer geehrt?

Nun nimmt sich Wolffsohn die Israel-Politik der Jahre 1972 und 1973 des „Friedenskanzlers“ Brandt vor. Es sind schwere Geschütze, die Wolffsohn hier auffährt, zum Beispiel wenn er mit dem Gedanken spielt, dass die SPD (und der damalige Koalitionspartner F.D.P. mit ihrem Vorsitzenden Walter Scheel) jüdisches Leben, die Tragödie des europäischen Judentums und israelische Staatsräson nie richtig erfasst hätten. Wolffsohn stellt die deutsche Attitüde „Nie wieder töten!“ und „Nie wieder Täter!“ (möglichst auch keine Terroristen?) der israelischen Attitüde gegenüber: „Nie wieder getötet werden!“ „Nie wieder Opfer!“ Er erinnert daran, dass palästinensische und andere arabische Nationalisten zwischen 1939 und 1945 im Kaukasus mit Hitler-Deutschland kooperiert hatten. Er vergisst auch nicht zu betonen, dass Brandts Ostpolitik den Dissidenten in der Sowjetunion, vor allem jüdischen Dissidenten, Mut gemacht habe.

Zugleich zögert Wolffsohn nicht zu vermuten, Willy Brandt habe im Zusammenhang mit dem Münchner Massaker an israelischen Sportlern und mit der gepressten Freilassung von drei Terroristen sehr an die Bundestagswahl vom 19. November 1972 gedacht. Nach dem Widerstand gegen seine Ostpolitik wollte er nicht auch noch Widerstände wegen einer womöglich pro-israelischen und damit anti-arabischen Politik in Kauf nehmen. Spitzendiplomaten hatten Brandt jedenfalls davor gewarnt, den guten Ruf Deutschlands in der arabischen Welt aufs Spiel zu setzen. Über das Attentat mit ermordeten israelischen Sportlern und Funktionären sollte schnell Gras wachsen, deshalb bestand ja auch Einverständnis mit dem damaligen IOC-Präsidenten Avery Brundage, vormals durchaus ein Sympathisant Hitler-Deutschlands (siehe die Olympischen Spiele 1936 in Berlin und Garmisch-Partenkirchen), als er wenige Tage nach dem Blutbad ausrief: „The games must go on!“. Palästinenser und Araber bloß nicht zu Tätern erklären! Das war wohl das unausgesprochene Motto. Wie wenig sich die Zeiten seit 1972 geändert haben.

Und dann erst die Freipressung der überlebenden drei Terroristen qua Flugzeugentführung am 29. Oktober 1972. Gegen den ausdrücklichen Wunsch Israels war Deutschland dazu bereit. Brandt ließ es geschehen, auch der bayerische Innenminister Bruno Merk (CSU) war auf diese Linie eingeschwenkt. Der bei arabischen Potentaten wohlgelittene „Ben Wisch“ (Hans-Jürgen Wischnewski) durfte alles hinbiegen. Der Schock in Israel war immens. Für Wolffsohn heißt das: Frieden durch Kapitulation, Gratifikation des Terrors. Für Willy Brandt sei damit der Höhe-, End- und Wendepunkt der Friedenspolitik erreicht gewesen. Es sei keine Friedenspolitik durch Annäherung wie vormals bei der Ostpolitik gewesen, so Wolffsohn, sondern eine Politik der Selbstaufgabe, die erst von Kanzler Helmut Schmidt beendet wurde. Siehe die Befreiung der entführten Geiseln in Mogadischu durch die GSG 9 am 18. Oktober 1977, bei der Israel mit seiner Aktion zur Befreiung einer Air-France-Maschine vom 4. Juli 1976 in Entebbe wohl das Vorbild abgab.

Getoppt wurde das Brandt’sche Lavieren sodann vor allem, als er Golda Meirs Wunsch ausschlug, als Träger des Friedensnobelpreises zwischen Israel und Ägypten zu vermitteln. Siehe den Jom-Kippur-Krieg! Wolffsohn wörtlich: „Brandts friedenspolitisches Fiasko des Jahres 1973 war weder Zufall noch Unfall. Es war Teil seiner Nahost-Strategie.“ Während Golda Meir ihrem sozialdemokratischen „Genossen“ Brandt sehr zugeneigt war und auch Rücksicht auf die Bundestagswahl vom 19. November 1972 nahm, ließ Brandt in Gesprächen mit Pompidou und Tito manch herabsetzende Bemerkung über sie fallen. Auch das belegt Wolffsohn eindrucksvoll.

Noch eines zum Schluss: Die SPD stellte in den bislang knapp sieben Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland dreimal den Kanzler – für insgesamt rund zwanzig Jahre. Sie ist heute weit davon entfernt, in absehbarer Zeit wieder einen Kanzler zu stellen. Umso mehr fällt auf, dass die SPD einer Andrea Nahles oder eines Ralf Stegner mit zwei SPD-Kanzlern fremdelt: mit Helmut Schmidt und mit Gerhard Schröder. Geblieben ist der SPD Willy Brandt als Lichtgestalt und als Säulenheiliger. Und den stürzt Wolffsohn zwar nicht, aber er stellt ihn auf einen niedrigeren Sockel. Das heißt: Die SPD braucht dringend eine neue Lichtgestalt oder ein neues Narrativ.