Tichys Einblick
EUROPA UND SEINE INSTITUTIONEN

Europaparlament: Insiderblick in die Kuriositätenversammlung

Ein französischer Spitzenbeamter hat sich die Enttäuschung von der Seele geschrieben. Die Europaabgeordneten kungeln nur, anstatt zu streiten. Lobbyisten gewinnen immer größeren Einfluss. Eine kurze Besprechung von „Der europäische Albtraum“.

Europaparlament

Nach allgemeinem Verständnis stellt das Parlament das wichtigste Organ einer Demokratie dar. Es ist aus Wahlen hervorgegangen, es macht die Gesetze, die für uns alle gelten. Die 751 Abgeordneten des Europäischen Parlaments haben daher – zumindest auf dem Papier – eine fundamentale Rolle, um die Europäische Union (EU) zu legitimieren.

Mit jeder Änderung der Verträge hat das Parlament Vollmachten gewonnen und ist eigentlich mächtiger geworden. Aber was hat es damit gemacht? Dieser Frage geht ein französischer Spitzenbeamter unter dem Pseudonym Didier Modi nach. Um es vorwegzunehmen: Die Innensicht des Parlaments ist erschreckend.

Der wirtschaftliche Status der 751 europäischen Abgeordneten ist beneidenswert. Dies gilt besonders für jene Abgeordnete, die aus Ländern stammen, welche der Union 2004 beigetreten sind. Wenn man in Betracht zieht, auf welchem Niveau die Bezüge der EU-Parlamentarier im Vergleich zu nationalen Gehältern beispielsweise in Rumänien oder Bulgarien liegen, haben die Europaabgeordneten aus diesen Ländern das große Los gezogen.

Modi hat im Tagesgeschäft mit den Parlamentariern zu tun und unterscheidet vier Typen. Erstens sind da die Säulen der Institution – Abgeordnete, die bereits häufig in der dritten Legislaturperiode ihr Mandat ausüben. Sie halten ihre Hand auf alle wichtigen Positionen innerhalb der Institutionen. Und in ihren Fraktionen und Parteien steuern sie die Entscheidungsbildung und werden hierbei durch die jeweiligen Parteiapparate unterstützt.

Diese Schlüsselfiguren sind nicht sehr zahlreich, Modi kommt auf ungefähr 30 von 751 Abgeordneten. Sie haben ihr gesamtes Tun auf eine Karriere innerhalb des Europäischen Parlaments ausgerichtet und sind damit häufig auch sehr erfolgreich. In dieser Kategorie von Abgeordneten findet man viele Deutsche.
Zweitens gibt es sozusagen – wie Modi sie nennt – Infanteristen. Sie stellen die Mehrheit der Abgeordneten dar. Es sind die Frischlinge, die in ihrer ersten Legislaturperiode erst noch ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen müssen. Einige von ihnen hoffen, eines Tages zur ersten Kategorie zu zählen. Sie sind diszipliniert, stimmen so ab, wie man es ihnen aufgibt.

Wenn sie ihre politische Existenz stärken wollen, müssen sie ein Thema besetzen, um in dieser Kompetenznische früher oder später als Experte zu gelten. So können sie auf ein zweites Mandat hoffen und vielleicht später den Anspruch erheben, zu den Säulen aufzusteigen. Gelingt ihnen dies nicht, laufen sie Gefahr, vergessen zu werden und nach einem ersten Mandat zugunsten anderer Infanteristen nicht mehr als Kandidat aufgestellt zu werden.

Kategorien: Säulen, Infanteristen, Touristen und Parias

Drittens findet sich eine Art von Touristen. Darunter versteht Modi Abgeordnete, die auf nationaler Ebene nicht mehr reüssieren können: ehemalige Minister beispielsweise, die zwischengeparkt werden sollen oder für die eine Versorgung gefunden werden muss. Sie führen im Europäischen Parlament eine Art Scheinexistenz; sie empfinden das EU-Parlament als erniedrigendes Exil. Sie sind ohne Ehrgeiz und spielen keine Rolle in der parlamentarischen Arbeit, achten aber, so spottet Modi, peinlich genau auf ihre Präsenzen, um keine Sitzungshonorare einzubüßen.

Pseudoberichterstattung
Risse in Brüssel
Sobald die Touristen eine Gelegenheit sehen, wieder in der nationalen Politik Fuß zu fassen, verlassen sie Brüssel und Straßburg. Die Franzosen sind Weltmeister in dieser Kategorie von Abgeordneten. Verständlich, wenn man weiß, dass in Frankreich der protokollarische Rang eines Abgeordneten im Europäischen Parlament die 14. Stelle – nach den Senatoren und nach dem ersten Präsidenten des Kassationsgerichtshofs – ist.

Und schließlich gibt es viertens noch die „Parias“. Das sind zum einen die im rechten Spektrum verorteten, der euro-skeptischen Gruppe „Europe of Freedom and Direct Democracy“ (EFDD) zuzurechnenden 48 Abgeordneten, denen nur zwei Parlamentarier für den Fraktionsstatus fehlen. Zum anderen werden zu den Parias auch zwei griechische Kommunisten gerechnet sowie all jene Abgeordneten, die aus ihrer Fraktion verbannt wurden, weil sie zum Beispiel juristische Verfahren laufen haben. Mittlerweile gibt es 100 Parias, und mit jeder Legislatur werden sie zahlreicher. Die übrigen Abgeordneten halten sich von ihnen fern.

Permanente Kungelei

Was den Autor am meisten aufregt, ist aber die Kompromittiertheit der Akteure. In nationalen Parlamenten stritten Mehrheit und Opposition, konstatiert Modi. Im Europäischen Parlament werde dagegen permanent gekungelt. So teilen sich im Europäischen Parlament Christdemokraten (PPE), Sozialisten (SD) und Liberale (ALDE) alle wichtigen Posten und Befugnisse untereinander auf. Dies gilt natürlich auch für das Präsidentenamt. Hier teilen sich Europäische Volkspartei und die Sozialdemokraten regelmäßig dieses Amt, und zwar in der Weise, dass nach Hälfte der Legislaturperiode ein Tausch stattfindet.

Für die Vorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden der Ausschüsse hält jede Fraktion gemäß ihrer numerischen Bedeutung die entsprechende Punktzahl, die ihr nach der d’Hondt’schen Methode die Möglichkeit gibt, politische Anliegen auf dieser Ebene zu repräsentieren. Es gibt daher keine Abstimmung, sondern ein System von Kooptation zwischen den politischen Fraktionen, die sich gegenseitig als gesellschaftsfähig ansehen. Das Ziel: Euroskeptiker sollen systematisch von der Macht ausgeschlossen werden.

In jedem Ausschuss des Europäischen Parlaments verfügen die Parteien über eine Anzahl von Punkten nach dem d’Hondt’schen System, und sie üben diese Punktrechte aus, um die Verantwortung für einen Bericht zugewiesen zu erhalten. Entsprechend der Bedeutung des Gegenstands (eine Richtlinie, Berichte über eine Initiative oder gar der Entwurf eines Beschlusses) kostet der Zuschlag die jeweilige politische Fraktion eine bestimmte Anzahl von Punkten.

Opposition fehlt aufgrund dieses Zusammenwirkens im Europäischen Parlament. Eine permanente Suche nach Kompromissen versammelt die notwendige Mehrheit. Die Infanteristen folgen gefügig den Anweisungen, die ihnen von den Kadern der Fraktionen erteilt werden.

Buzzwords

Am Ende, analysiert Modi, handle es sich um ein magisches Viereck, mit dem der Konsens organisiert werde.

Man muss dafür sorgen, dass die Gesetzesergänzungen folgende Buzzwords enthalten: Erstens „Umweltschutz“ (beziehungsweise „nachhaltig“), zweitens „Nutzen für den Mittelstand“, drittens: „Verbraucherschutz“, und viertens „gut für Tiere“.
Das vierte Argument ist ganz wesentlich im Parlament und hat die Fähigkeit, zu mobilisieren. In der Tat ließ sich das bei der Annahme der Richtlinie betreffend Kosmetika gut feststellen. Gleiches gilt für die Annahme des Chemie- Gesetzespakets REACH.

Die beschriebene Organisation gegenseitigen Einvernehmens findet ihren höchsten Ausdruck in einer Institution, die wenig bekannt ist, obwohl sie eine wesentliche Rolle spielt: den sogenannten Intergruppen. Die Intergruppen schaffen Treffpunkte für Parlamentarier unterschiedlicher politischer Familien, die sich mit derselben Materie beschäftigen. Sie treffen dann auf die sogenannten Repräsentanten der Zivilgesellschaft. Im Klartext: Das Parlament hat eine Infrastruktur für den erleichterten Zugang der Lobbygruppen zu den Parlamentariern geschaffen. Der Autor regt sich zu Recht darüber auf.

Tatsächlich hat sich auf diese Weise eine Parallelstruktur herausgebildet, die die amtlichen Organe des Parlaments nach Auffassung vieler Beobachter mittlerweile in den Schatten stellt. Beim Bürger sollten die Alarmglocken läuten, weil in den Intergruppen gemeinsame Positionen mit den Interessengruppen außerhalb der Kontrolle der politischen Fraktionen festgelegt werden. Was als begrüßenswerter Dialog mit den relevanten Interessengruppen initiiert wurde, verkommt so zur Politik im Hinterzimmer.

Der Beitrag von Frank B. Werner erschien in der neuen Ausgabe ‚Tichys Einblick‘ Print >>